Von Chajm Guski

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Das Judentum in Gelsenkirchen

Die späten Anfänge

Da Gelsenkirchen recht lang ja keine große oder bedeutende Stadt war, war auch die Zahl jüdischer Einwohner zunächst nicht erwähnenswert groß und bis 1874 gehörte die Juden Gelsenkirchens noch zur Gemeinde in Wattenscheid, diese wiederum gehörte zur Hauptgemeinde Hattingen. Seit wann dies der Fall war, ist jedoch nicht bekannt. Da in älteren Aufzeichnungen nur jeweils Männer aufgeführt wurden, ist die Zahl der tatsächlichen jüdischen Bevölkerung schwer zu bestimmen.

Im Jahr 1818 sollten für die Verwaltung Wattenscheids Zahlen zur jüdischen Bevölkerung zusammengestellt werden, sowohl aktuelle, als auch für die vorangegangene Zeit. Dies versetzt uns heute in die Lage, etwas genauer eingrenzen zu können, wieviele Juden jeweils in Wattenscheid und in Gelsenkirchen lebten. Für das Dorf Gelsenkirchen ergab sich so für das Jahr 1812 die Summe 1. Ein männlicher Juden lebte damals in Gelsenkirchen. Wie groß seine Familie war, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

1816 gibt die Zählung an, es seien vier Männer und zwei Frauen gewesen. In dieser Zählung wird jedoch angegeben, es gäbe ein Familienhaupt. Es scheint sich also um die gleiche Familie gehandelt zu haben. Etwas später werden neue Listen erstellt um die Besoldung des Landesrabbiners Abraham Sutro einsammeln zu können, denn jede Familie sollte einen Beitrag dazu leisten. Um dies organisieren zu können, musste natürlich festgestellt werden, wie groß die Zahl jüdischer Familien in Westfalen überhaupt ist.

Abraham Sutro war Landesrabbiner von Westfalen und das umfasste auch die Gemeinde Hattingen mit ihren Ablegern. Für das Jahr 1829 wurde dementsprechend festgestellt, dass drei Familien in Gelsenkirchen lebten:

1830 kommt die Familie von Michael Abraham Würzburger dazu. Dies sind, wie gesagt, nur jüdische Familien, die es sich leisten konnten, sich am Sold von Abraham Sutro zu beteiligen. Ärmere Familien oder Personen wurden nicht erfasst.

1840 erscheint ein weiterer Name auf der Liste, nämlich David Steinberg und 1846 kommt noch die Familie des Jacob Steinberg hinzu. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang scheint zu sein, dass trotz des preußischen Staatsrechts Juden sich noch nicht an jedem Ort niederlassen durften.

Konsolidierung

Nach 1845, wohl im Zuge der Industrialisierung und den Anschluß Gelsenkirchens an das Streckennetz der Köln-Mindener Eisenbahn-Gesellschaft im Jahre 1847, stieg die Anzahl der jüdischen Einwohner an - wie auch die Größe der Gesamtbevölkerung.

1860 konnte man 60 jüdische Einwohner zählen. In der Folge bedeutete dies natürlich, dass man es sich nun auch leisten konnte, Räume für das gemeinsame Gebet zu mieten. Bis dahin hätte man nach Wattenscheid fahren müssen, um an einem Gemeinschaftsgebet teilnehmen zu können. 1863 mietete man dann endlich einen Betsaal an. In der Hochstraße 34, heute Hauptstraße, in einem Raum in der oberen Etage zum Hof hin.

In einer Festschrift zum 50-jährigen Bestehen der Synagogengemeinde aus dem Jahr 1924 heißt es:

„In der oberen Etage war nach dem Hofe zu ein Zimmer für den G-ttesdienst eingerichtet. Eine finstere Treppe führte hinauf. Die Frauen fanden im Nebenraum ihre Plätze. Noch heute zeugen große, bunte Fenster von der einstmaligen Bedeutung der Räume.”

Noch längst war Gelsenkirchen aber noch keine eigene Gemeinde. Ein Meilenstein auf dem Weg dorthin, war der Erwerb eines Grundstücks in der Neustraße - heute Gildenstraße. Auf Hausnummer 4 wurde 1867 ein Gemeindehaus errichtet. Dieses zweigeschossige Gebäude beinhaltete einen Betsaal mit 50 Plätzen, ein Klassenzimmer, eine Mikweh (ein Tauchbad) und eine Wohnung für den Hausmeister.

Der nächste Schritt erfolgte dann 1873/74 mit der Loslösung von der Gemeinde Wattenscheid. Die Juden Ückendorfs waren weiterhin Mitlglieder in Wattenscheid und wurden erst 1908 Mitglieder in Gelsenkirchen. Dieser Vorgang der Loslösung beinhaltete sogar die Zahlung eines Ausgleichs für die Gebühren die Wattenscheid nun entgingen.

Zugleich wurde ein eigener Friedhof an der Wanner Straße erworben. Er wurde danach bis 1936 benutzt, heute hat er 400 Einzelgräber. 1927 wurde ein neues Friedhofsgelände in Ückendorf erworben.

Damit war die liberale jüdische Synagogengemeinde Gelsenkirchen gegründet, wenngleich in den ersten zwei Jahren noch orthodoxe Gemeindemitglieder in der Gemeinde verblieben, denn erst seit 1876 gab es die Möglichkeit aus einer jüdischen Gemeinde auszutreten. Zuvor wurden alle Juden einer Stadt automatisch Mitglieder der Ortsgemeinde. Diese bildeten bald ihre eigenen Betstuben und Vereine.

Liberales Judentum und Orthodoxie

Synagoge Gelsenkirchen Frontansicht

Das nächste Projekt der Gemeinde war der Bau einer würdigen Synagoge und diese wurde am 21. August 1885 eingeweiht. Im Erdgeschoß fanden 256 Männer Platz, auf der Empore war Platz für 106 Frauen. Zu den Hohen Feiertagen aber war die Synagoge zu klein, um alle Gemeindemitglieder zu fassen, so dass man Ausweichmöglichkeiten schaffen musste. Als 1894 das neue Schulgebäude der Gemeinde (Ringstraße 44) errichtet wird, wird auch dort bald ein weiterer G-ttesdienst unter der Leitung des Lehrers eingerichtet. Später musste man auch in die größeren Räumlichkeiten eines Hotels ausweichen. 1909 wurde in der Synagoge elektrisches Licht nachgerüstet.

In der genannten Festschrift heißt es dazu „Der G-ttesdienst wurde nach modernen, fortschrittlichen Grundsätzen geordnet”, bald folgte der Einbau einer Orgel. Es ist anzunehmen, dass die G-ttesdienste nach dem liberalen Einheitsgebetbuch von Seligmann, Elbogen und Vogelstein gestaltet wurden. Dieses wurde durch den „liberalen Kultus-Ausschuss des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden” herausgegeben.

Die Gebete waren über weite Strecken in deutscher Sprache und die wichtigen Kerngebete in hebräischer. Der Einbau der Orgel war dann auch Anlass für die letzten orthodoxen Gemeindemitglieder, die Gemeinde zu verlassen.

1920 versuchte eine Gruppe dann entsprechend auch, eine eigene Gemeinde „Adass Jisroel” zu gründen. Die Bezirksregierung verneinte dieses Anliegen jedoch. Führende Kräfte der orthodoxen Gemeinschaft waren Sanitätsrat Dr. Rubens, Dr. Max Meyer und Abraham Fröhlich. Abraham Fröhlich war seit etwa 1910 in der Stadt, er kam aus Mergentheim nach Gelsenkirchen und zählte zur deutschen Orthodoxie, die vom Chassidismus beeinflusst war. Im Hof seines Hauses auf der Florastraße 76 stellte er Chassidim aus Osteuropa ein Haus als Betstube mit Mikwe zur Verfügung. Abraham Fröhlich betrieb mit seiner Frau Gutel einen Fleischhandel „A. Fröhlich, Vieh- und Fleisch Agenturen” unter der Adresse an der Florastrasse. Ein Teil der Familie Fröhlich zog nach Haifa, andere Verwandte leben heute in den USA.

Husemannstraße 75Das frühere Wohn- und Praxishaus von Dr. Max Meyer, der Kinderarzt war, erbaut in den Jahren 1920-1921 zeigt bis heute Spuren seiner jüdischen Bewohner. In der Husemannstraße 75 kann man oben rechts im Türrahmen (siehe Bild rechts) noch immer erkennen, dass dort einst eine Mesusah im Türrahmen befestigt worden war. Die Familie Meyer holte für die orthodoxe Gruppe auch Rabbiner Hermann Klein nach Gelsenkirchen. Er ging später nach Berlin und von dort aus nach Buenos Aires. Dr. Meyer beschränkte sein Engagement jedoch nicht auf die Stadt Gelsenkirchen, sondern war im gesamten Ruhrgebiet für die Organisation „Keren haThora” aktiv, die jüdische Schulen „Talmud-Torah” einrichtete und betrieb:

Eröffnung der fünften Talmud Thora des deutschen Keren Hathora. Duisburg. (AJPB) Wie die Ita meldet, eröffnete der deutsche Keren Hathora am Sonntag den 21. November in Duisburg seine fünfte Talmud Thora, in welcher ungefähr 60 Knaben einen gründlichen jüdischen Unterricht durch zwei Lehrkräfte erhalten werden. Aus diesem Anlaß veranstaltete die „Machsike-Hadas“-Vereinigung in Duisburg eine Feier, bei welcher nach einleitenden Worten des Herrn Zahler Herr Wolf S. Jacobson (Hamburg) namens des Landesdirektoriums die Talmud Thora eröffnete, die Richtlinien darlegte, nach denen der Keren Hathora seine Schulen leitet und auch diese neue Talmud Thora, durch Herrn Dr. Max Mayer (Gelsenkirchen) beaufsichtigt, führen wird. Herr S. Ostersetzter, der für die Oberklassen engagierte Lehrer, sprach über die Methode des Unterrichtes in Talmudschulen. Herr Rabbiner Doktor Neumark begrüßte im Namen des Gemeindevorstandes aufs herzlichste. Aus: Jüdische Presse – Organ für die Interessen des Orthodoxen Judentums, 12. Jahrg. Nr. 49, 3. Dezember 1926, S.333

Die Betstube der polnischen Juden soll sich in einem Hinterhof auf der Arminstraße (Haus Nummer 11) befunden haben, die orthodoxe Amos-Loge traf sich in gemieteten Räumlichkeiten auf der Bahnhofstraße Nr. 14. Die Gemeinde zu der Abraham-Fröhlich gehörte traf sich auch in Räumlichkeiten an der Husemannstraße. Zwischenzeitlich wirkte in Gelsenkirchen, etwa ab 1922, Dr. Joseph Weiß als orthodoxer Rabbiner des „Vereins zur Wahrung der religiösen Interessen des Judentums in Westfalen”.

Seit 1924 wirkte in der liberalen Gemeinde Dr. Siegfried Galliner aus Posen als Gemeinderabbiner. Rabbiner Galliner wohnte im Haus Munckelstraße 58. Er emigrierte 1938 nach London und verstarb dort 1960. In Gelsenkirchen begründete er unter anderem den „Jüdischen Schülerbund - Chewras talmidim” um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler zu stärken. Das Gemeindeleben endete dann 1938 mit der Zerstörung der Synagoge und des Gemeindehauses.

Gelsenkirchen-Buer

Aussenansicht Synagoge BuerDie jüdische Gemeinde in Buer gehörte bis 1932 noch zur Hauptgemeinde Dorsten und errichtete erst im Jahre 1922 eine eigene Synagoge an der Maelostraße. An der Stelle, an der heute das Hallenbad steht.

Dem vorangegangen waren intensivste Bestrebungen der Gemeindemitglieder, sich von ihrer Hauptgemeinde zu lösen, nachdem man erst am 29. Oktober 1910 eine Zweiggemeinde gegründet hatte. Sie war damit eine von vier Zweiggemeinden Dorstens (Stadt Dorsten, Kirchhellen, Marl, Lembeck-Altschermbeck), Buer (Buer, Horst, Westerholt), Gladbeck und Bottrop (Bottrop und Osterfeld). Zuvor hatten sich seit 1906 im alten Amtshaus von Buer zu Gebeten an Feiertagen versammelt. Später mietete man einen Raum im Gasthaus „Zum Schlachtfeld“. 1913 wurde dann die Selbstständigkeit beantragt, welche jedoch zurückgewiesen wurde.
Als die Gemeinde anwuchs und klar wurde, dass immer mehr Menschen an den Gebeten teilnehmen würden, begann man mit der Planung einer eigenen Synagoge. Für diese stellte die Stadt Buer ein Gründstück an der Maelostraße zur Verfügung und so wurde die Synagoge am 12. November 1922 eingeweiht. Später kamen auch Juden aus Horst zu den Gebeten nach Buer. 1931 löste sich die Hauptgemeinde Dorsten auf und so wurde der Weg zur Selbstständigkeit der Gemeinde Buer und Westerholt frei. 1932 wurde dieser Schritt auch getan.

Am 9. November 1938 wurde die Synagoge angezündet. Sie brannte bis auf die Grundmauern nieder und wurde in der Folge abgerissen.

Neuanfang und Gegenwart

Tuer zum Betsaal
Tür zum alten Betsaal – Fotografie von Uwe Rudowitz

1945 wurde in Gelsenkirchen von einigen Wiederkehrern und Menschen, die das Regime ins Ruhrgebiet verschleppt hatte, das „Gelsenkirchener Jüdische Hilfskomitee” gegründet, welches sich in der Feldmark (Schwindstraße 18) befand. Federführend war Robert Jessel, der 1886 in Weilburg an der Lahn geboren wurde. Vorstandswahlen im Februar 1949 bestimmten einen vierköpfigen Vorstand für das Komitee:

Nachdem deutlich wurde, dass einige Menschen in der Stadt bleiben würden, wurde der Bau eines neuen Gemeindehauses angestrebt. Es stellte sich heraus, dass dies auf dem Gelände der alten Synagoge nicht möglich sein würde. Also beauftragte die Gemeinde den Architekten C. Quacken damit, für den Hof eines Hauses in der Von-der-Recke-Straße eine kleine Synagoge zu planen und zu bauen. Im Vorderhaus befanden sich die Büros der Gemeinde, eine Küche, ein kleiner Gemeindesaal, ein kleiner Schulraum und eine Bibliothek.

1958 wurden dann die Gemeinderäume in der Von-der-Recke-Straße 9 bezogen und die Synagoge der Gemeinde übergeben. Sie bot Platz für etwa 60 Personen. Auf der Südseite befand sich eine Fensterreihe, die auf Buntglas Szenen aus dem jüdischen Jahr zeigten. Die Originalfenster befinden sich heute im Vorraum der Neuen Synagoge.

Das Ner Tamid, das Ewige Licht, wurde durch den konservativen Londoner Rabbiner Dr. Paul Holzer entzündet. Rabbiner Holzer stammte aus Krotoschin und amtierte vor der Schoah in Hamburg. Er ging nach einer Haft in Sachsenhausen nach England. 1951 kehrte er zurück und wurde Landesrabbiner für Westfalen–Lippe und half hier beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinden in der Region. 1958 wurde er pensioniert und ging wieder nach England.

Panoramaansicht des Betsaales Panoramaaufnahme des BetsaalesFotografie von Uwe Rudowitz

Die Frauen saßen in der Synagoge im hinteren Bereich, etwas erhöht. In den 90er Jahren besuchten nicht nur Juden aus Gelsenkirchen die Synagoge, sondern auch Beter aus Essen am Schabbatmorgen.

Windows from the old synagogue in Gelsenkirchen
Fenster des Betsaales in der Von-der-Recke-Straße

Die Gemeinde war seit ihrer Gründung eine „Einheitsgemeinde”, sollte also liberalen, konservativen und orthodoxen Juden eine Heimat bieten. Anders war es auch gar nicht möglich, denn es gab einfach zu wenige Juden, um allen eine besondere Gemeinde zu bieten. Die G-ttesdienste wurden nach orthodoxem Ritus gehalten.

Seit Anfang der 90er Jahre kamen dann Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion auch nach Gelsenkirchen. Dies erforderte 1997 eine Erweiterung des Gemeindesaales. 2006 legte die Gemeinde unter ihrem damaligen Vorsitzenden Fawek Ostrowiecki den Grundstein für eine neue Synagoge – am gleichen Ort, an dem 1938 die alte Synagoge zerstört wurde. 2007 wurde die neue Synagoge eröffnet, die der größeren Gemeinde Platz bieten sollte. 2008 nahm der orthodoxe Rabbiner Chaim Kornblum seine Arbeit in Gelsenkirchen auf. Der, in Essen geborene, Rabbiner ist damit der erste Rabbiner nach Rabbiner Galliner, der ausschließlich für Gelsenkirchen zuständig ist. Zuvor wurde Gelsenkirchen durch einen Landesrabbiner des Landesverbandes Jüdischer Gemeinde Westfalen-Lippe, betreut.

New Synagogue in Gelsenkirchen - Torah scrolls Einbringung der Torahrollen in die neue Synagoge, 2007

Die Gemeinde versteht sich nun als orthodoxe Gemeinde; auch wenn es keine observanten orthodoxen Familien in der Stadt gibt. Zur Zeit hat sie etwa 400 Mitglieder.

Synagoge Gelsenkirchen - Gildenstrasse

Seit dem Jahr 2000 trafen sich liberale Juden aus Gelsenkirchen und dem Rest des Ruhrgebiets in verschiedenen Räumlichkeiten Gelsenkirchens zu G-ttesdiensten und Treffen. Es entstand zudem der Jüdische Kulturverein Kinor und der jüdische Sportverein Makkabi. Aus dem Kern der liberalen Vereinigung ging 2010 eine nicht-liberale Gruppe hervor, die sich als strömungsübergreifend versteht, jedoch nach orthodoxem Ritus betet (www.talmud.de/minchah) und sich der Verbesserung der jüdischen Bildung verschrieben hat.