Christentum, Interreligiöses

Der jüdische Jesus und das Christentum

Wirft man einen Blick in eines der theologischen Standartnachschlagewerke, der „Religion in Geschichte und Gegenwart“, unter Abraham Geiger nach, so wird kurz auf seine Bedeutung für die Entwicklung des Reformjudentums eingegangen, einen Hinweis auf seinen Beitrag zur „Leben-Jesu-Forschung“ sucht man allerdings vergebens. Auch in weiteren Einführungen und Einleitung in die neutestamentliche Wissenschaft finden sich keine Hinweise auf Abraham Geiger, seine Beiträge zur neutestamentliche Forschung und seinen kritischen Anfragen an die christliche Theologie, die sich aus seinen Erkenntnissen ergeben.

Diese Lücke versucht Susannah Heschel mit ihrem Buch zu schließen, in dem sie ausführlich Geigers Arbeit zur „Leben-Jesu-Forschung“ darstellt und dabei seinen Beitrag für das Reformjudentum eher in den Hintergrund stellt, diesen Beitrag aber auch nicht völlig vernachlässigt. Dabei gelingt es ihr, die Bedeutung und die Tragweite der Ergebnisse Geigers für die christliche Theologie klar und verständlich darzustellen. Ergebnisse die von der damaligen christlichen theologischen „Elite“ kaum aufgenommen oder überhaupt beachtet wurden, heute aber in vielen Bereichen in der christlichen Theologie durchaus akzeptiert sind. Besonders zu nennen ist hier die Herauslösung der Pharisäer aus den gängigen christlichen Vorurteilen, die bis heute in der christlichen Gemeinde fortwirken und ihre Spuren hinterlassen haben. Diese Herauslösung und die Erforschung der Verhältnisse in Israel zur Zeit des II.Tempels aufgrund der detaillierten Betrachtung jüdischer Quellen stellte innerhalb der Theologiegeschichte so ein Novum da, was allerdings von der übrigen, christlichen Welt, in seiner Tragweite nicht erkannt wurde oder nicht erkannt werden wollte.

Auch die von Geiger dargestellte Nähe Jesu, ja sein Aufgehen im Pharisäertum, ist ein Ergebnis, welches nicht leichtfertig von der christlichen Theologie abgetan werden kann.

Neben der guten Darstellung dieser Ergebnisse und der Vorgehensweise Geigers liefert Susannah Heschel ein unglaublich detailliertes Bild von der Landschaft der protestantischen Theologie des 19. Jh. und der darin weit verbreiteten und allgemein anerkannten Antijudaismen. Diese Darstellung ist teilweise leider so detailliert, daß der Leser an einigen Stellen von der Fülle der Details ein wenig verwirrt wird. Auch eine kleine Einführung in die „historisch-kritische Exegese“, ihren Ergebnissen und in die historische und religiöse Situation in Israel zur Zeit des II. Tempels aus heutiger Sicht wäre wünschenswert gewesen.

Alles in allem ist es ein gelungenes Buch, welches in verständlicher Sprache geschrieben ist. Dies allein ist ja schon ein wohltuender Unterschied zu manch anderem Buch dieser Art. Es ist allen „Laien“ und „Theologen“ zu empfehlen, die an einem ernsthaften jüdisch-christlichen Dialog und Kontroversen jenseits aller Betroffenheit interessiert sind.

Warum aber sollte sich eine christliche Theologie mit einem jüdischen Beitrag auseinandersetzen? Das Christentum muß die Fragen und die Kritik aus dem Judentum aushalten und sich mit ihnen ernsthaft, jenseits aller allgemeinen Reden á la „Jesus war auch Jude“, auseinandersetzen. Dies ist es dem Judentum und sich selber schuldig. Es hat ohne das Judentum keine Existenzgrundlage; das Christentum kann ohne das Judentum nicht existieren, wogegen das Judentum ohne das Christentum nicht in seiner Existenz bedroht ist.

Das Christentum hat aber seine einzige Berechtigung und Fundament in in dem Jesus, der als Jude seiner Zeit gelebt hat und aus dem Judentum seiner Zeit kommt. In diesem Punkt ist Abraham Geiger voll zuzustimmen. Jesus muß aber mehr als einer unter vielen sein, denn sonst ist dem Christentum sein Fundament entzogen. In diesem Punkt, daß Jesus lediglich einer unter vielen seiner Zeit war, kann meiner Meinung nach Abraham Geiger von christlicher Seite aus diesem Grund nicht zugestimmt werden.

Aus dem Zusammenhang und der Überzeugung, daß das Judentum in keiner Weise vom Christentum abgelöst oder überboten worden ist oder anders gesagt, daß das Christentum im neuen Bund steht und Israel im alten, nicht mehr geltenden Bund verharrt, sondern beide gleichberechtigt am Tisch der Wahrheit sitzen, entsteht eine der großen Fragen und Herausforderungen für das Christentum der heutigen Zeit: Warum gibt es überhaupt Christen und Juden oder anders gesagt, wie ist ein Christentum im Angesichte Israels, ohne auf dem alten Weg der antijudaistischen Urteile und Bildern weiterzugehen und das Judentum damit neben sich und nicht unter sich sieht? Welche Rolle spielt dabei das Fundament des Christentums, jener Jesus von Nazareth, der für die Christen der Christus, der Gesalbte ist? Ist er vielleicht das Zeichen für die „Völker“ aus Jesaja 11; das Zeichen, welches Israel nicht mehr bedarf?

Diese Fragen müssen im Christentum sorgsam bedacht werden und auf dem Weg der Überlegungen müssen die jüdischen Quellen und Überlegungen, wie die Abraham Geigers, ernst genommen und mit ihnen ins Gespräch gegangen werden. Dies kann ab nur in einem Dialog geschehen, der von aller falschen Betroffenheit befreit wird, denn dies verhindert eine ernsthafte Auseinandersetzung und führt zu Stereotypen wie „Jesus war auch Jude“, ohne das diese konsequent zu Ende gedacht werden.

Bei diesem Dialog wird die Gestalt des Jesus von Nazareth immer auf der Grenze stehen, denn er verbindet und trennt Judentum und Christentum. Diese Aussage ist vielleicht eine der wichtigsten für den jüdisch-christlichen Dialog, die Susannah Heschel in ihrem Buch über Abraham Geiger und seinen, leider vergeblichen, Versuch in einen Dialog mit den christlichen Theologen seiner Zeit zu treten, macht.

Susannah Heschel: Der jüdische Jesus und das Christentum – Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie; 2001 Berlin – Jüdische Verlagsanstalt Berlin bei amazon.de