Ein Leben, Krankheit - Sterben - Tod

Eine Legende vom Menschen

Nach dem Midrasch Tanchuma zum Ende des zweiten Buches Mose wiedergegeben.

Es sagte Rabbi Jochanan: es heißt „Gott tut unerforschlich Großes und Wunder ohne Zahl“ (Hiob Kap. 9, Vers 10), das bedeutet, dass alle Seelen von Adam bis ans Ende der Welt in den sechs Schöpfungstagen erschaffen worden sind, alle weilen sie im Garten Eden, und alle waren sie anwesend, als die Thora gegeben wurde, denn so steht es geschrieben: „mit denen die heute hier sind und mit denen die heute nicht hier sind, schließe ich diesen Bund.“ (5 B. M., Kap. 29, Vers 14). Und was bedeutet das: „Er tut unerforschlich Großes?“ Das will schildern, wie Großes der Heilige, gelobt sei er, bei der Erschaffung des Kindes tut.
In der Stunde, da einer seinem Weibe sich gesellt, winkt der Heilige, gelobt sei er, dem Engel, der über die Empfängnis gesetzt ist, und sagt ihm: „wisse, heute Nacht wird ein Mensch erschaffen aus des N. N. Samen, merk dir’s, und hab acht auf den Keim, und trage ihn behutsam in deiner Hand. Der Engel gehorcht, nimmt ihn und trägt ihn hin vor den, auf dessen Wort die Welt entstand, und spricht zu ihm: „ich habe getan, was du befohlen, was bestimmst du über diesen Keim?“ Alsbald bestimmt der Heilige, gelobt sei er, was aus ihm werden soll, ob ein Mann oder ein Weib, ein Schwächling oder ein Held, ein Armer oder ein Reicher, ein Kurzer oder ein Langer, ein Hässlicher oder ein Schöner, ein Dicker oder ein Dünner, und er bestimmt alle seine Schicksale“ aber ob er ein Frommer oder ein Bösewicht werden soll, das bestimmt er nicht, denn das ist in des Menschen Hand allein gestellt. Und dann winkt der Heilige“ gelobt sei er, dem Engel, der über die Seelen gesetzt ist, und sagt ihm: „Bringe mir diese und diese Seele aus dem Garten Eden, so und so heißt sie, so und so sieht sie aus“ -denn alle Seelen, die einst auf die Welt kommen sollen, sind von Anfang an erschaffen, vom Tage, da die Welt entstand, bis an ihr Ende sind sie vorbestimmt für die Menschen. –
Sofort geht der Engel und holt die Seele und bringt sie vor den Heiligen gelobt sei er, und sie verneigt sich und bückt sich vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei er. In dieser Stunde sagt der Heilige, gelobt sei er, zu der Seele: „Geh‘ ein in jenen Keim“ öffnet die Seele ihren Mund und spricht: „Herr der Welt, mir genügt die Welt, in der ich weilte seit dem Tage, da du mich erschaffen hast, warum willst du mich eingehen lassen in jenen unsauberen Keim, da ich doch rein und heilig bin und ein Stück deiner Herrlichkeit?“
Da antwortet ihr der Heilige, gelobt sei er: „Die Welt, in die ich dich einführe, wird dir bald schöner sein, als die, in der du bisher geweilt, und von Anfang an habe ich dich erschaffen, um mit jenem Keim vereinigt zu werden.“ Und schon vereinigt sie Gott mit ihm. Danach nimmt sie der Engel und tut sie ein in den Mutterleib; man bestellt ihr zwei Wächter die aufpassen, dass sie nicht herausfällt und ein Licht wird hinein getan, das ihr zu Häpten brennt, denn so heißt es: „Oh wäre ich noch wie in den ersten Monden, als Gott mich behütete, als sein Licht mir zu Häupten leuchtete“; mit Hilfe dieses Lichtes schaut sie von Anfang der Welt bis zum Ende. Dann nimmt sie der Engel von dort und führt sie nach dem Garten Eden und zeigt ihr dort die Frommen, wie sie in Herrlichkeit thronen, Kronen auf ihren Häuptern, und er fragt sie: „Weißt du, wer diese sind? Sagt die Seele: „Nein, mein Herr“, und der Engel erklärt ihr: „Die du hier siehst, sind einst wie du in einem Mutterleib gebildet worden, traten ans Licht der Welt und haben die Thora und die Gebote gehalten, deshalb sind sie solchen Glückes gewürdigt worden, und wenn du einst Gottes Thora halten wirst, wirst du gleicher Herrlichkeit teilhaftig werden“. Am Abend führt er sie nach Gehenna und zeigt ihr dort die Schlechten, wie die Engel des Verderbens sie mit feurigen Ruten schlagen, sie schreien: wehe, wehe, aber jene haben kein Erbarmen mit ihnen. Und der Engel fragt aufs neue: „Weißt du, wer diese sind?“, sagt die Seele: „Nein, mein Herr“. Und der Engel erklärt: „diese in Glut Getauchten sind einst geschaffen worden wie du, traten ans Licht der Welt und haben die Thora und die Gebote nicht gehalten; deshalb sind sie in solche Schande gekommen, auch Du wirst in die Welt eintreten, sei fromm und nicht böse, und du wirst des ewigen Lebens gewürdigt sein.“ So führt der Engel die Seele herum vom Morgen bis zum Abend, zeigt ihr den Ort, wo ihr Leib einst sterben wird, und wo er begraben werden wird, dann tut er sie wieder in den Mutterleib, und der Heilige, gelobt sei er, setzt ihr Tür und Riegel.
Nun ruht das Kind neun Monate im Mutterleibe, die drei ersten in der unteren Kammer, die zweiten in der mittleren Kammer und die letzten in der oberen Kammer. Kommt dann seine Zeit, einzutreten in die Welt, wälzt es sich in einem Augenblick aus der oberen in die mittlere, aus der mittleren in die untere Kammer; von allem, was die Mutter isst und trinkt, isst und trinkt es zuerst und scheidet nichts aus; darum heißt es eben: „Gott tut unerforschlich Großes und Wunder ohne Zahl“
Soll es nun hinabgehen in die Welt, so kommt derselbe Engel und sagt zu ihm: „gekommen ist deine Zeit hinauszugehen in die Welt“; und es sagt darauf: „warum willst du mich hinausführen in die Welt?“ Antwortet der Engel: „Wisse mein Kind, ohne deinen Willen wurdest du gebildet, ohne deinen Willen wirst du geboren, wider deinen Willen stirbst du einst und musst Rechenschaft ablegen vor dem König aller Könige, dem Heiligen, gelobt sei er.“; Es sträubt sich hinauszugehen, da gibt ihm der Engel einen Schlag, löscht das Licht, das zu seinen Häupten brennt, und führt es, auch ohne seine Zustimmung, in die Welt hinaus. Sofort vergisst das Kind alles, was es gesehen und erfahren. Und warum weint das Kind bei seinem Austritt? Weil es einen Ort der Ruhe und der Weite verloren hat, und weil es die Welt vermisst, in der es war.
Von dieser Stunde ab ziehen im Wechsel sieben Welten über den Menschen einher. In der ersten, bis er ein Jahr alt ist, ist er wie ein König, alles fragt nach seinem Wohle, ist begierig ihn zu sehen, herzt und küsst ihn. In der zweiten, wenn er zwei Jahre alt ist, macht’s ihm Behagen, mit den Händen gleich einem Schweinchen im Schmutz herumzutappen. In der dritten springt er gleich einem Lämmlein lustig hin und her vor Vater und Mutter, und alle freuen sich an ihm. In der vierten, wenn er 18 Jahre alt ist und mannbar gleicht er dem stolzen Ross, brüstet sich mit seiner Kraft. In der fünften, wenn er 40, ist ihm wie einem Lasttier gleichsam ein Sattel aufgelegt, er hat Frau und Kind und muss hierhin und dorthin rennen, um Brot zu schaffen. Und in der sechsten steigert sich das noch, er darf sich nicht schämen und muss gegen den und jenen ankämpfen, wie der Hund den ankläfft, der ihm sein Brot fortnehmen will. In der siebenten ist er wieder zum Kinde geworden, das nach allem fragt, isst und trinkt und spielt, und so leise ist sein Schlaf, ein Vögelchen. kann ihn aufwecken.
Kommt nun seine Zeit fortzugehen, kommt derselbe Engel wieder zu ihm und fragt ihn: „Kennst du mich?“ Er sagt: „Ja, warum kommst du gerade heute?“ Sagt der Engel: „Um dich aus der Welt herauszuführen, deine Zeit ist da“. Sofort fängt er an zu weinen und erhebt seine Stimme, dass sie von einem Ende der Welt bis zum anderem erschallt; aber niemand hört sie und erkennt sie, nur der Hahn allein (er ist das klügste Tier, weil er als erster den nahenden Anbruch des Tages ahnt). Darauf spricht der Mensch zum Engel: „Du hast mich schon aus zwei Welten geführt und in diese hineingesetzt, jetzt lass mich auch hier.“ Da sagt der Engel zu ihm: „Hab‘ ich’s dir nicht gesagt? ohne deinen Willen wurdest du geboren, ohne deinen Willen lebst du, und wider deinen Willen musst du Rechenschaft ablegen vor dem Heiligen, gelobt sei er.“