Ki Tetze

Ki Tetze

Diese Woche in der Tora (Dt. 21,10-25,19):

Die Kriegsbraut, geliebte und gehaßte Frau, ungehorsamer Sohn, Fundsachen, Dachgeländer, div. Eherecht, Verhältnis zu Nachbarvölkern, Entlohnung, Zinsen, Pfand, Schwagerehe, Ehefrau greift in Streit ein, korrekte Gewichte, gedenke Amalek.

Schrei in der Stadt

Rav Asri’el Ari’el

Es kann manchmal vorkommen, daß ein Jude zwangsweise an einer Übertretung beteiligt ist. Er ist an dieser Sünde in keiner Weise interessiert, doch ein anderer Mensch zwingt ihn, die verbotene Tat gegen seinen Willen auszuführen. Welche Anleitung die Tora für so eine Situation parat hat, lernen wir aus dem leidvollen Abschnitt der „verlobten Jungfrau“. [Die in der Tora erwähnte Verlobung bedeutet rechtlich bereits eine vollgültige Eheschließung]. Die Tora unterscheidet zwei Fälle, nämlich ob der Angriff in der Stadt oder auf dem freien Felde erfolgte. Wenn die Verlobte in der Stadt angegriffen wurde, ist sie der Steinigung schuldig. Und warum? „Weil sie nicht um Hilfe geschrieen hat“ (Dt. 22,24), wobei ihr Schweigen als Zustimmung zur Sünde verstanden wird. Wenn ihr allerdings auf dem Felde Gewalt angetan wurde, ist sie frei von jeder Strafe. „Aber dem Mädchen tue nichts; an dem Mädchen ist keine Todsünde;… denn auf dem Felde hat er sie gefunden; das verlobte Mädchen hat geschrieen, aber es stand ihr niemand bei“ (Dt. 22,26-27).

Nach den talmudischen Weisen besteht kein so wesentlicher Unterschied zwischen „Stadt“ und „Feld“. In beiden Fällen wird keine Strafe ohne felsenfeste Beweise verhängt, daß die Tat mit ihrer Zustimmung und nicht gegen ihren Willen, absichtlich oder irrtümlich, erfolgte. Der Unterschied tritt vielmehr in Grenzfällen von Teilbeweisen zutage, wenn der Zusammenhang mit dem Ort des Geschehens einen Beweis mehr oder weniger glaubhaft macht. Für die Stadt besteht demnach die grundsätzliche Annahme, daß die Tat nur bei Schweigen des Opfers ausführbar ist, während für das Feld die gundsätzliche Annahme besagt, daß die junge Frau alles ihr Mögliche zu ihrer Rettung tat, letztendlich aber überwältigt wurde.

Über die gesetzlichen Feinheiten hinaus, wie sie von den talmudischen Weisen vorgebracht werden, läßt sich jedoch auch eine prinzipielle Moralbotschaft aus dem einfachen Wortlaut der Verse herauslesen. Hier lernen wir die Pflicht des Hilferufens. Das Hilferufen in der Stadt macht Sinn. An jedem Ort und zu jeder Zeit, wo eine Erfolgschance im Kampf gegen die Nötigung zu einer Übertretung existiert, besteht die Pflicht zum Kampf und zum Hilferufen. Wer sich zu schreien weigert, obwohl ihn jemand hören und zu Hilfe eilen könnte, wer sich zu kämpfen weigert, obwohl er eine Chance zu obsiegen hat – wird automatisch zum Beteiligten dieser Übertretung, wenn auch passiv. Doch auch auf dem Felde, wo niemand die Hilferufe hören kann – auch dort muß man die Stimme zum Schreien erheben! Man darf sich nicht ohne jede Gegenwehr und Protest in eine Sünde verwickeln lassen. Es kann nicht angehen, in einer Weise zu handeln, die nach innen oder außen, gegenüber dem Gewalttäter oder der Öffentlichkeit als Beteiligung, als Zustimmung oder auch nur als Abfinden mit der furchtbaren Tat ausgelegt werden könnte. Auch wenn man keine Kraft zu siegen hat, besteht eine moralische Pflicht zum Widerstand. Wer keinen Widerstand leistet, wird sich selbst einmal schwer den Verzicht auf Kampf verzeihen, daß er die Sünde mit solch unerträglicher Leichtigkeit ermöglichte. Gleichzeitig sind diese Dinge der Entscheidung jedes Einzelnen, je nach Zeit und Ort überlassen. Die Richter, oder das gesellschaftliche Umfeld, können Niemanden verurteilen, der in so eine Lage geriet, solange nicht klar bewiesen wurde, daß diese Sünde mit klarem Verstand und aus freien Stücken begangen wurde. Bei jedem Zweifel müssen wir den Menschen nach der Grundannahme der Unschuld beurteilen und voraussetzen, daß er sich mit allen Seelenkräften gegen die Sünde wehrte.

Zwischen den Zeilen der Toraverse kristallisieren sich Feinheiten dieser Regelungen heraus. Wie weit geht die Forderung der Tora an das Opfer, den Angreifer abzuwehren, der ihm sündhaftes Verhalten aufzwingen will? Für Rabbiner Moscheh ben Nachman (RaMbaN, „Nachmanides“, führender Torakommentator aus der Periode der Rischonim) bedeutet „Hilferufen“ nur ein Beispiel für Widerstandsleistung; eine andere Möglichkeit wäre „wenn sie mit ihm ringt mit all ihrer Kraft und weint und an seinen Kleidern zerrt oder an seinen Haaren, um sich ihm zu entwinden“. Dem einfachen Wortlaut der Verse können wir jedoch für den Fall entnehmen, in dem es kein Entrinnen vor der Sünde gibt und jeglicher Widerstand nur zur Erfüllung der Torapflicht nützt, daß vom Opfer nicht mehr als nur Hilferufen gefordert wird, das auf eindeutige Weise dem Widerwillen Ausdruck verleiht, auch wenn auf der Welt nachdrücklichere Methoden des Widerstandes existieren. Darum braucht sich jener Mensch keine Gewissensbisse zu machen, weil er nicht mit aller Kraft Widerstand leistete, wenn er das Endergebnis unter keinen Umständen hätte ändern können.

Der Kommentar „Sfat Emet“ hebt die Dinge auf eine höhere Ebene. Mit „Stadt“ sind Ort und Zeit gemeint, wenn die göttliche Präsenz offen gegenwärtig ist und der Mensch die G~ttesnähe spürt, im Sinne von „Nahe ist der Ewige allen, die ihn rufen, allen, die ihn anrufen mit Wahrheit“ (Psalm 145,18). Demgegenüber bedeutet „Feld“ Ort und Zeit, wenn sich der Mensch entfernt von G~tt fühlt bis hin zum Eindruck, daß niemand sein Flehen hört. „Auch wenn ich wehklage und schreie – zugestopft ist mein Gebet“ (Klagelieder 3,8). Die Pflicht zum Beten und Wehklagen gen Himmel – entsprechend dem Toragebot des Wehklagens und Betens in schweren Zeiten – besteht an jedem Ort und zu jeder Zeit, sowohl in der „Stadt“ als auch auf dem „Felde“, bis es uns vergönnt sein wird, den „König auf dem Felde“ zu sehen. Dann wird sich an uns, der „jungfräulichen Verlobten G~ttes“, erfüllen: „sie hat geschrieen, und es stand ihr jemand bei“, denn „auf wen sollten wir uns verlassen? Auf unseren Vater im Himmel“ (Sota 49b, Mischna).

„Denn nicht lassen wird der Ewige sein Volk, und sein Erbe verläßt er nicht “ (Psalm 94,14), „Ewiger, hilf, der König erhöre uns am Tage unseres Rufens“ (Psalm 20,10).

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