Christentum, Interreligiöses

„Sein Blut komme über uns.“

Seit Mel Gibson in seinem neusten Film die Kreuzigung Jesu auf der Kinoleinwand in Blut ertränkt, wird in den letzten Wochen immer wieder der Vorwurf laut, nicht nur der Film enthielte antisemitische Tendenzen, sondern bereits die Erzählungen der Verurteilung und der Hinrichtung Jesu im „Neuen Testament“ seien von einem Antijudaismus geprägt.

Nähert man sich den Berichten im Neuen Testament, wird einem ein Bild gezeichnet, wie es eindrücklicher kaum sein kann: Da fordert eine von der Priesterelite aufgestachelte jüdische kurz vor der Raserei stehende Volksmenge immer wieder die Hinrichtung dieses Jesus und schließlich knickt der schwache erscheinende Vertreter der römischen Besatzungsmacht, Pilatus ein und lässt Jesus zur Kreuzigung abführen. Damit aber nicht genug in der drastischen Darstellung, dass rasende Volk vor die Wahl gestellt, wer denn freigelassen werden soll, entscheidet sich für den Mörder und gegen den unschuldigen Jesus. Die Rollen sind damit klar verteilt, hier der schwache Pilatus, der ohne die Juden wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen wäre, diesen Jesus hinzurichten und dort die Juden, nichts anderes im Sinn, als diesen Jesus endlich am Kreuz enden zu sehen. Wer wagt da noch zu fragen, wer Schuld am Tod Jesu ist? Und so ziehen die Karfreitagspogrome ihr blutiges Band durch die Geschichte des Christentums, denn schließlich waren die Juden doch Schuld am Tod des Heilands und so soll das Blut über sie kommen, wie sie es sich selbst vorausgesagt haben (Matthäus 27, 25). Bleibt einem ernsthaften Zeitgenossen da nichts anderes übrig, dem Vorwurf des Antijudaismus der Evangelien zuzustimmen und damit auch einen latenten Antijudaismus in den Wurzeln des Christentums zu erkennen?

So verständlich diese Sicht ist, sie sieht aber nur die halbe Wahrheit. Es gibt Aspekte, die mit bedacht werden müssen und wohl zu einem anderen Schluss führen. Einer dieser Aspekte ist die Frage nach der historischen Schuld am Tod des Jesus von Nazareth. Aus theologischer Sicht ist diese Frage nicht sachgemäß, aber darauf ist später noch einzugehen. Da sie aber dennoch immer wieder eine wichtige Rolle spielt und viele Menschen, wenn auch unterschwellig, bereits eine Entscheidung gefällt haben, muss doch auf sie eingegangen werden. Dabei lassen sich historische Aussagen nur mit allergrößter Vorsicht machen. So lässt sich vermuten, dass Jesus mit seiner Tempelkritik als Bestandteil seiner Verkündigung der kleinen jüdischen städtischen Elite in Jerusalem ein Dorn im Auge war. Schließlich lag die Legitimation ihrer Macht im Tempel und die Zahl innerjüdischer Kritiker an der Situation im Tempel und an der herrschenden Elite war nicht allzu klein. Die zweite Gruppe die mit ins Spiel kommt, ist die römische Besatzungsmacht. Israel war ein ständiger Unruheherd und so galt es jeglichen Anflug von möglicher Gefahr für die Aufrechterhaltung des Besatzungsstatus im Keim zu ersticken. Anscheinend stellte für sie dieser Jesus eine solche Gefahr dar. Diese beiden Faktoren können wohl als Gründe der Hinrichtung Jesus angenommen werden, es geht also um politische und gesellschaftliche Macht. Die letzte Verantwortung liegt allerdings bei den Römern, den nur sie besaßen die Vollmacht zur Beschließung und Ausführung von Todesurteilen. Diese Tatsache scheint auch in den Evangelien durch (Johannes 18, 31). Historisch gesichert ist nur dies, die genauen Gründe lassen sich nur vermuten, denn außerbiblische Quellen mit genaueren Angaben liegen nicht vor.

Man ist also an die innerbiblischen Quellen verwiesen und hier entgehen dem aufmerksamen Leser nicht die Unterschiede zwischen den Erzählungen der Verurteilung und Hinrichtung Jesu. Desto jünger das Evangelium, desto mehr bekommen „die Juden“ eine negative Rolle zugewiesen, Pilatus dagegen wird immer mehr ins positive Licht gerückt, bis er schließlich seine Hände in Unschuld badet (Matthäus 27, 24). Diese auffallenden Diskrepanzen verdanken sich hauptsächlich zwei Tatsachen: Die Evangelien verstehen sich nicht als historische Quelle in unserem heutigen Sinn. Sie sind Ausdruck einer Glaubensüberzeugung, einer Erfahrung des Glaubens. Die Autoren der Evangelien glauben an das Handeln Gottes in Jesus Christus in seinem irdischen Leben, in seiner Kreuzigung und in seiner Auferweckung. Von diesem Ort aus schreiben sie ihre Evangelien und von diesem Punkt aus werden sie in den christlichen Gemeinden damals wie heute gelesen. Es handelt sich also nicht um minutiöse Protokolle oder einer Biographie Jesu, sondern um vom Glauben aus gedeutete Geschichte. Daher besitzen die Evangelien nicht nur eine Ebene. Sie sind gedeutete Darstellungen der Überlieferungen über das Leben, Sterben und die Auferweckung Jesu, gleichzeitig haben sie aber auch die aktuelle Situation, die aktuellen Fragen und Probleme der christlichen Gemeinden ihrer Zeit im Blick. Aus diesem Grund muss immer auch diese Situation der Autoren für ein angemessenes Verständnis in den Blick genommen werden. Wie kam es also zu der Rolle „der Juden“ in den Erzählungen? Ein grundsätzlicher Antisemitismus kann ausgeschlossen werden, da nicht nur viele Christusgläubige jüdischer Abstammung waren, sondern auch ein Teil der Autoren, so z.B. der Verfasser des Matthäusevangelium. Nach der Zerschlagung des jüdischen Aufstandes und der Zerstörung des Tempels 70 änderte sich die Situation der Christusgläubigen. Verstanden sich die meisten der Christusgläubigen zu diesem Zeitpunkt noch als Bestandteil der Synagogengemeinde, kommt es nun im Zuge der jüdischen Reorganisation zu einer immer stärker werdenden Trennung zwischen Synagogengemeinde und Christusgläubigen. Die Gründe für diese Trennung sind vielschichtig, einerseits kam es zu einem bewussten Ausschluss der Christusgläubigen, andererseits auch zu einer bewussten Abtrennung, begründet in dem starken Zustrom von Nichtjuden zu der Gruppe der Christusgläubigen. Die Wege trennten sich endgültig. Damit veränderte sich die soziale Situation der Christusgläubigen. Galten vorher für sie die gleichen Privilegien wie für alle Juden im römischen Reich, die Befreiung vom direkten Kaiserkult und dem Militärdienst, so fallen diese Privilegien nun für die Christusgläubigen weg. Da sie aber als Christen kein Bekenntnis zum Kaiser als Gott ablegen konnten und wollten, sahen sie sich als Minderheit nun doppelt bedrängt: Von der Synagogengemeinde, von der sie ausgeschlossen wird und von dem römischen Reich, dass sie unterdrückt und verfolgt. In dieser Situation kommt es zu den antijudaistischen Äußerungen in den Evangelien, denn, so scheint es die Sicht der Verfasser gewesen zu sein, waren es nicht „die Juden“, die jetzt sich gegen die Christusgläubigen stellten und sie dem Vorwurf der Aufruhr aussetzen, die damals Christus genau mit diesem Argument ans Kreuz haben schlagen lassen. Die Darstellungen der jüngeren Evangelien können und dürfen also nicht ohne den Konflikt zwischen der Synagogengemeinde und der Gruppe der Christusgläubigen um 100 gesehen werden.

Diese bedenkenswerten Aspekte stellen sich also gegen die Annahme, das Christentum sei in sich antijudaistisch, als auch gegen eine Verharmlosung der antijudaistischen Aussagen in den Verurteilungs- und Kreuzigungserzählungen. Die Situation der Christusgläubigen zur Zeit der Verfasser der Evangelien darf nicht als Entschuldigung für den Antijudaismus und Antisemitismus, der sich durch die Geschichte der Christenheit zieht, herhalten.

Es sollte also nicht zu einer vorschnellen Verurteilung des Christentums kommen, noch darf auf christlicher Seite weiterhin am Karfreitag der Eindruck entstehen, am Ende seien dann doch schließlich „die Juden“ am Tod Jesu schuld gewesen. Dies ist nicht nur antijudaistisch und steht in einer unguten Tradition, sondern folgt auch nicht der neutestamentlichen Botschaft, die für die Christen bindend ist. Folgt man ihr, so ist die Frage nach der historischen Schuld nicht sachgemäß, denn sie spricht davon, dass G-tt an Jesus Christus Ostern und Karfreitag gehandelt hat! Und so heißt es auch konsequenterweise in den beiden christlichen Glaubensbekenntnis, dem sog. Apostolischem und dem Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel: „Ich glaube an Jesus Christus (…) gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt und gestorben (…)“ und „Er wurde für uns gekreuzigt unter Pontius Pilatus, hat gelitten und ist begraben worden (…)“. Von irgendeiner Schuld „der Juden“ am Tod Jesu ist dort keine Rede.

Kategorie: Christentum, Interreligiöses

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Sven Pernak ist evangelischer Theologe, er schreibt auf talmud.de über die "Aussensicht" auf das Judentum und das jüdisch-christliche Verhältnis.