Krankheit - Sterben - Tod

Wann ist der Mensch tot? Die Frage nach der Sterbehilfe

Nun kommen wir zu der Frage, wann der Mensch denn nun „tot“ ist. Die Halacha definiert Tod als das Aufhören von Atmen. Dank moderner medizinischer Technik kann ein Patient mit Hilfe von Maschinen atmen, und sein Herz kann schlagen, selbst nachdem sein Gehirn nicht mehr funktioniert. Eine überraschende Antwort kommt aus den USA. Diese Antwort ist aufgrund der hier anderen Gesetzes- bzw. Rechtslage leider nicht auf deutsche Verhältnisse übertragbar.

Rabbi Moshe Feinstein, im allgemeinen ein strenger Befürworter der Präzedenzfälle im Talmud, hat überraschend „liberale“ Schlußfolgerungen zur Frage einer Definition des Todes gezogen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Schwiegersohn Rabbi Moshe Tendler, einem Fachmann für Medizin und Talmud. 1976 folgerten beide zusammen, Tod könne mit dem Aufhören der Hirntätigkeit definiert werden, und eine Beatmung mit der Maschine sei dann nicht mehr nötig.

Obwohl Rabbi Feinstein bereit ist, Hirntod als Ende eines Lebens zu akzeptieren, hat er trotz-dem das aktive Abschalten des Respirators untersagt. Er hat geboten, daß man, wenn die Sauerstoffbehälter ausgetauscht werden müssen, damit fünfzehn Minuten warten solle, das heißt, lange genug, um festzustellen, ob der Patient von allein atmen kann, und im negativen Fall brauche man den Apparat nicht wieder anzuschließen. Rabbi Eliezer Waldenberg hat vorgeschlagen, einen Timer an den Respirator anzuschließen, damit der Patient regelmäßig überprüft werden könne und, falls der Patient nicht ohne einen Respirator auskommt, ihn nicht wieder einzuschalten:

Zusammenfassend kann man also sage, daß Sterbehilfe nach wie vor verboten bleibt, daß aber kein Mensch am Leben erhalten werden soll, der ohne Hilfe nicht mehr lebensfähig ist. Weiter fällt auf, daß der „Hirntod“, also das Aussetzen des bewußten Verstandes, für die Feststellung des Todes ausreicht. Insofern folgt der Rabbiner also ausdrücklich dem Rambam.

Orthodoxe Halacha-Experten haben sich geweigert, die Schranke zwischen dem Nichtwieder-einschalten des Respirators und dem aktiven Abschalten zu überschreiten. Jüdischen Gelehrten aller Schattierungen widerstrebt es, einem Leben durch menschliches Eingreifen ein Ende zu setzen, selbst aus den gnadenvollsten Gründen: Der Mensch darf nicht G-tt spielen. Dieses Gefühl ist besonders in diesem Jahrhundert akut, das soviel Mord erlebt hat, vor allem den Mord an Juden durch die Nazis im Namen einer Säuberung der Menschenrasse. Und doch enthält die Halacha einen fest etablierten Grundsatz, daß man das Leid mildern muß, besonders das eines Menschen, der im Sterben liegt.

Die zeitgenössische halachische Meinung neigt sich überwiegend der Ansicht zu, daß Medikamente verabreicht werden können, um in extremen Situationen Leiden abzuschwächen, selbst wenn sie als Nebenwirkung das Leben verkürzen, vor allem dann, wenn auch nur die geringste Aussicht darauf besteht, daß das Medikament tatsächlich hilft, die Krankheit zu mildern. Euthanasie ist verboten. In einer aussichtslosen Situation Medikamente vorzuenthalten, „damit die Natur ihren Gang nehmen kann“, liegt durchaus innerhalb der Grenzen des jüdischen religiösen Gesetzes. Aber wie steht es mit der Bestimmung, Nahrung vorzuenthalten? Zweifellos muß ein Patient, der noch durch den Mund gefüttert werden kann, gefüttert werden. Bei intravenös ernährten Patienten sieht die Lage anders aus. Einige Fachleute in zeitgenössischer ärztlicher Ethik, darunter Ärzte und Moralphilosophen, die fromme Juden sind, vertreten die Ansicht, daß intravenöse Lösungen von Nahrung und Wasser genau wie die Medikamente, die dem Patien-ten intravenös verabreicht werden, Medizin sind. Deshalb dürfen sie aus dem gleichen Grund eingestellt werden wie Medikamente, die nicht mehr gegeben zu werden brauchen. Rabbiner beziehen, gleichgültig welcher Richtung, dagegen die entgegengesetzte Stellung. Nahrungs- und Wasserentzug, selbst wenn künstlich verabreicht, sind nicht das gleiche – darauf bestehen die meisten Fachleute – wie das Einstellen der ärztlichen Behandlung.

Mit dem Fortschritt der medizinischen Technologie dürften die Fragen, die in diesem Teil be-sprochen wurden, sowie neue, die zukünftige Fortschritte noch mit sich bringen, auch weiterhin aktuell bleiben. Die grundlegenden Prinzipien des Judentums über Leben und Tod erfahren eine neue Auslegung, und zwar von Gelehrten mit anderen Ansichten. Die Grundlage dürfte dabei jedoch immer die gleiche bleiben: Die jüdische Tradition fordert eindringlich zur Achtung des Lebens auf, was immer das Leben fördert, hat Vorrang. Man darf sich auf keinen Fall an Eutha-nasie beteiligen, aber dem Menschen muß geholfen werden, in Frieden zu sterben. Maimonides entschied, das Wesen des Menschen liege in seinem Intellekt, was beinhaltet es müsse dem Leben gestattet werden, zu Ende zu gehen, sobald die intellektuelle Fähigkeit dahin ist (Mischne Thora, Hilchot Jessodei ha-Thora 4:8). Von diesem Gedanken ließ sich Rabbi Seymor Siegel (1927-1988) von der konservativen Bewegung leiten, als er einem „Lebenstestament“ zustimmte, in dem ein Patient Anweisungen hinterläßt, die festlegen, wieweit er in extremen Situationen behandelt werden möchte.

Sterbehilfe wird, insofern stimmen im Ergebnis progressives und orthodoxes Judentum überein, auch im progressiven Judentum abgelehnt. Bestimmend hierfür sind der Glaube an die Heiligkeit des Lebens und die Überzeugung, daß die Beendigung eines Lebens G-ttes Recht ist. Der progressive Standpunkt wird sich dann ggf. ändern können, wenn eine andere Rechtslage entsteht. Dann könnte es angemessen sein, die jüdische Position neu zu überdenken und zu überlegen, wie aus jüdischer Sicht Rahmenbedingungen formuliert sein müssen, um in diesem Schattenbereich ethisch verantwortlich zu handeln.

Es gibt also keine allgemein verbindliche Definition des Todes bzw. des Todeszeitpunktes. Für das progressive Judentum läßt sich aber festhalten, daß es den Tod eines Menschen bereits dann annimmt, wenn das Gehirn irreparabel geschädigt ist, während es im „orthopraxen“ Bereich bereits „fortschrittlich“ ist, wenn der Einsatz lebenserhaltender Technik dann abgelehnt wird, wenn der Kranke ohne diese Technik nicht weiterleben könnte.