Gebete für Israeliten

Rosch haSchanah und Jom Kippur

Am Neujahrsfest – Rosch Haschana

Am Vorabend des Festes

Herr, unveränderlicher, ewiglebender Gott! sieh gnadenvoll nieder auf dein Kind, das kaum sich aufrecht zu erhalten vermag unter den wechselnden Gefühlen, die es an diesem heiligen Abend überwältigen, der das hingeschwundene Jahr von dem neuen trennt, welches sich aufzurollen beginnt. Denn erscheine ich mir doch fast selbst ein Wunder, wenn ich mir alles in Erinnerung zurückrufe, was mir in dem dahingeschwundenen Jahre widerfahren und begegnet: Freuden und Sorgen, Erquickungen und Bekümmernisse, Leiden und Momente des Glücks. Ja, jede Stunde, jeder Augenblick gab das Zeugnis, daß du mich auf den Armen deiner Liebe trägst, daß deine Huld mich umschwebt. Und ach! wie wenig habe ich all dieser Güte entsprochen, wie oft verzagte ich, und wie oft strauchelte ich! Und sehe ich hin auf die vielen Wünsche und Erwartungen, die sich nun in meiner Brust regen, und die ich nun vor dir für die kommende Zeit aussprechen will, o Herr und Vater, wo soll ich da beginnen und wo enden? O du, der du den Gedanken kennst, ehe er noch ausgesprochen wird, du weißt ja, wessen ich bedarf, und was zu meinem Wohle und dem Wohle der Meinen dienen kann. Darum empfehle ich mich deinem gnädigen Schutze und bitte nur um dieses: laß mich mit dem hingeschwundenen Jahre auch aller meiner Sünden ledig werden, und laß für mich ein Jahr beginnen, welches in Wahrheit ein neues ist, ein Jahr, in welchem ich mehr und mehr deine Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe erkenne, ein Jahr, das von Anfang bis zum Ende Zeugnis gebe von meinem eifrigen Streben, dir zu gefallen, und von meiner Hingebung an deine väterliche Leitung. Und so will ich denn getrost das neue Jahr antreten, denn ich weiß, daß du, Allgütiger, mir nahe bist, und daß du mein Gebet erhörest.

Neujahrstag – Rosch haSchanah

»Lobsinge dem Herrn meine Seele und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat«, das ist mein erster Gedanke, mein erstes Gefühl an diesem Tage. Und dieses Sinnen taucht nicht in meinem Innern auf, ohne daß meine ganze Seele sich zu der Bitte erhebt:»Mein Gott, vergib mir meine Sünden!« Denn ich weiß es gar wohl, daß ich alle Zeit vor deinem Angesichte stehe, und daß dein Auge mir folgt auf allen meinen Wegen. Aber heute, da ich so vieler Wohltaten mich erinnere, die du in einer langen Reihe von Tagen mir erwiesen hast, wie oft du meine Seele mit Freude erfülltest, mir Stunden schenktest, in denen ich mich so glücklich fühlte, wie oft du mir halfst bei meiner Arbeit, mich erfreutest durch den Anblick meiner Lieben, durch die Umgebung liebevoller Herzen und froher, freundlicher Gesichter, mich stärktest in schweren Augenblicken, mich Trost und Linderung finden ließest unter Schmerz und Sorge, ja mir so oft helfend zur Seite standest, mich, wenn die Versuchung mir nahte, und ich nahe daran war zu wanken, aufrecht hieltest in meiner Schwäche — heute muß ich die Last aller meiner Sünden um vieles schwerer fühlen, und all meine Schuld tritt mir vor die Seele. Jeder Tag, jede Stunde des verflossenen Jahres klagt mich ob meiner Versäumnisse an; wie oft habe ich nicht meine Pflicht vergessen, meinen Beruf als Mensch, als Israelit! Heute, da ich nicht nur so viele deiner Wohltaten gegen mich vergessen habe, sondern auch so manchen sündigen Gedanken, so manche unrechte Tat, die ich mir habe zuschulden kommen lassen, heute fühle ich es mit Furcht und Beben, daß ich von dir gerichtet werden soll, dir, dem Allwissenden, der all mein Tun und Lassen kennt, dem auch die verborgensten Gedanken meines Herzens offenbar sind und dessen Auge die Tat sieht, die keinen irdischen Zeugen hatte; o ja, heute erkenne ich vollkommen, wie ich all deiner Güte und Barmherzigkeit nicht wert gewesen bin. Und stehe ich nicht heute vor einer unbekannten Zukunft? Wie zahlreich sind meine Wünsche, wie mannigfaltig meine Hoffnungen, die ich an die kommenden Tage knüpfe, und wie erbebe ich bei dem Gedanken, was sie vielleicht für mich oder für diejenigen in ihrem Schoße bergen, die ich mehr noch liebe als mich selbst! O, wie konnte ich wohl der Zukunft vertrauensvoll entgegen sehen, wenn nicht deine Verzeihung mir würde auf meinem neuen Wege. O Allgütiger! Nimm mich und die Meinen in deine treue Hut, laß deine Gnade mir leuchten in dem neuen Jahre, unterstütze mich darin, daß ich das Gute übe, hilf mir, jede sündige Lust zu überwinden. Halte fern von mir jede Versuchung, und wenn du mir Kämpfe auferlegst, so verleihe du mir auch die Kraft, siegreich aus ihnen hervorzugehen, und stärke mich, Haß und Neid, Rachsucht und der Sinne Lust zu bezwingen durch eine innige Liebe zu dir. Erneuere du selbst in mir das feste Vertrauen auf deine Hülfe, daß ich fest stehen möge im Glauben, und lehre mich, an jedem Tage mit neuen Liedern dir zu lobsingen, und deinen heiligen Namen zu preisen.
Amen!

»Herr Gott, tausend Jahre sind ja vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, aber unsere Tage fahren dahin wie Rauch und verschwinden wie SchattenPs. 90.«, und ehe wir es merken, stehen wir vor den Pforten der Ewigkeit. So haben wir, ich und die Meinen, heute wiederum ein Jahr zurückgelegt, wir stehen an der Schwelle eines neuen, und wir wissen nicht, wie viele unter uns am heutigen Tage vielleicht zum letzten Male die Neujahrssonne aufgehen sehen. O, mein Vater, ich habe so viele, die meinem Herzen wert und teuer sind, und denen ich so gerne noch eine Weile meine volle Liebe erweisen möchte, o, erhalte du sie doch am Leben und schenke ihnen Freude und Segen! Erhalte am Leben (meine alten Eltern, meinen teuren Vater, meine geliebte Mutter, meinen guten treuen Gatten usw.) breite deine schirmende Hand aus über (meinen Großvater, meine Großmutter, meinen Bruder, meine Schwester, Geschwister, Wohltäter, Freunde usw.) O, himmlischer Vater, von ganzem Herzen bete ich auch zu dir für die, welche ich mit mütterlicher Liebe umfasse: o, laß meine Söhne und Töchter leben, und laß dieses Jahr ihnen Glück und Frieden bringen, führe du sie den richtigen Weg, daß auch meine Seele sich darüber freuen möge; verleihe du ihnen Kraft und Gesundheit; laß sie erzogen werden und aufwachsen in deiner Furcht und Erkenntnis, dir zum Wohlgefallen und den Menschen.—Allerbarmer! auch für mich wage ich zu beten, wie sehr ich auch erkenne, daß ich sündenbelastet bin. O, verleihe du mir Stärke! Solltest du in diesem Jahre meiner Seele gebieten, zu dir einzukehren, so laß sie dahinziehen in Frieden, ist es aber dein Wille, mir noch ein Lebensjahr zu schenken, so laß es zum Segen für mich werden. Ja, solltest du es mir vergönnen, die Tage zu erleben,»da des Hauses Wächter erzittern, die Stützen sich beugen und der Blick umdunkelt wirdKoheleth 12, 3. ff.!« »so verwirf mich nicht, mein Gott, in meinem hohen Alter und verlaß mich nicht, wenn mein Haar grau wird und meine Kräfte abnehmenPs. 71. 9.!« Und wenn die Freude an dieser Welt mir schwindet, so laß du die Freude an dir und die Sehnsucht nach deinem Himmel um so stärker in meinem Innern werden. Ach Herr! stärke mich, daß weder Glück noch Unglück, weder Freud noch Leid mich von dir entfernen möge, daß alles dazu diene, mich meiner Vollendung näher zu bringen, und daß auch ich dereinst ein freundliches Andenken hinterlassen möge, und mein Gedächtnis in Segen bleibe.

Amen!

Beim Schofarblasen

Dir, o allmächtiger und liebreicher Gott, will ich huldigen als dem König der Welt! Deshalb ruft mich heute Schofars (der Posaunen) Schall auf zum Kampfe wider den Feind, der in meiner eignen Brust hauset, siehe, alle die verflossenen Zeiten mit ihren denkwürdigen Begebenheiten ziehen an meiner Seele vorüber, indem mein Ohr auf diese Töne lauscht. Im Geiste sehe ich des Widders Horn vom Gebüsch festgehalten, mich daran erinnernd, wie jener Patriarch die schwere Prüfung bestanden. Ach Herr, wie oft seufzte ich doch, selbst bei dem Geringsten das mich heimsuchte; wie werde ich bestehen, wenn du beschlossen haben solltest, meine Treue auf gleiche Art zu prüfen? Und im Geiste höre ich gleichsam das Wort des Bundes, wie es verkündigt wird unter Posaunenschall, und ich erbebe; denn mit zerknirschtem Herzen muß ich es bekennen: Ich habe deinen heiligen Bund nicht gehalten. Es ist mir, als ob der Propheten gewaltige Stimme, ihre Warnungsrufe und Ermahnungen, ihre Predigt zur Buße und Umkehr und die Verkündigung des mahnenden Gerichts in dieser Stunde an mein Ohr dringe, und ich erbebe. O Ewiger! laß diese Töne mich aus meinem Schlummer wecken, laß sie mich mit Reue erfüllen über die Tage der Vergangenheit, welche ich nicht für das ewige Leben benutzt habe, aber auch zugleich mit dem Trost, daß du als ein huldreicher Herr mit Erbarmen auf deinen bußfertigen Diener herabschauen, und daß du, ein gütiger Vater, dein reuiges Kind in Liebe wieder zu Gnaden aufnehmen wirst. Stärke mich in der Prüfungszeit, laß mich widerstehen allen Versuchungen der Welt, laß mich siegen über die sündige Lust und verachten den Spott der Ungläubigen. Ja, laß diese Stunde gnadenbringend sein für mein Herz und meine Seele, daß ich von dieser Zeit an wandern möge in dem Lichte deines Angesichtes.
Amen!

Am Versöhnungsfest – Jom hakippurim

Zu Anfang des Abendgottesdienstes – Kol nidre
Barmherziger Vater! Wie erbebt mein Herz, wie zittert meine Seele, da ich mich dir an diesem heiligen Abend nahe, da des Himmels Tore sich vor dem bußfertigen Sünder, der um Versöhnung bittet, auftun. So will ich denn mit all meinen Gedanken dich suchen und bei dir weilen, und mit aufrichtigen Worten der Reue deine Verzeihung mir erflehen. Ach Herr! Treten nicht meine Gedanken und Reden vor deinem Richterstuhle wider mich auf? Wer vermöchte alle sündigen Gedanken zählen, die in meiner Seele aufgestiegen; und wie oft hatten nicht unlautere, habsüchtige, rachgierige Wünsche und Begierden in meiner Brust sich geregt! Es tauchen verlangende Gedanken in meinem Herzen auf, vor denen ich selbst erschrecken muß, und doch habe ich ihnen damals Raum gegeben, anstatt sie zu verscheuchen, und habe so oft meine Seele mit ihnen befleckt!—Herr! Herr! Wie könnte ich wohl ohne Erröten meine Gedanken jetzt zu dir erheben, und wie darf ich es wagen, meine Lippen jetzt zum Gebet zu öffnen, da ich doch weiß, wie oft dieselben Lippen sich schon zur Schmeichelei oder zum Spott, zu Verleumdung, Hohn und Kränkung öffneten! O ewiger Richter! Ich habe leichtsinnige, zweideutige, heuchlerische, falsche, verführerische und unlautere Worte geredet, Worte die dich und dein Gesetz schmähten! Ich habe unüberlegt Versprechungen gemacht, die ich nicht gehalten habe! Ach ich erinnere mich in dieser Stunde nicht nur der leeren Versprechungen, die ich meinen Nächsten gegeben, sondern ich denke auch daran, wie oft ich gelobt habe, mein Leben dir, mein Gott, zu weihen, und in Zucht und Rechtschaffenheit vor dir zu wandeln, wie oft ich gelobt habe, deine Gebote zu halten, und mich und mein ganzes Wirken zu heiligen, und daß ich, ach, nicht minder oft mein Gelübde dir gebrochen habe! Darf da derselbe Mund nun wagen, um Gnade zu bitten, der so oft die Sprache, die Gabe deiner Gnade mißbraucht hat? Ach, ich will an die Pforte deiner Gnade anpochen und um Eingang flehen, und sieh! die Schlüssel, welche du mir gabst, des Himmels Tore mir zu öffnen, und mir den Weg zu dir zu bahnen:»Gedanken und Worte«, die treten anklagend wider mich auf. O! so vergib mir vor allen Dingen, was ich bis auf diese Stunde in Gedanken und Worten gesündigt! Sieh, Allgütiger, die tiefe Trauer, welche mich ergreift, und verbirg die Menge meiner Sünden unter dem Mantel deines Erbarmens: reinige meine Seele von unlauteren Gedanken und laß die Glut der Andacht hier in deinem Heiligtum alles Unlautere meines Geistes verzehren! Laß meines Herzens Angst und Reue »eine glühende Kohle von deinem heiligen Altar« sein, die meinen Mund berührt, während mich deine Zusage tröstet: »Siehe! diese hat deine Lippen berührt, dein Vergehen ist getilgt, und deine Sünde soll gesühnt seinJesaias, Kap. 6.!« Vergib mir jedes übereilte Wort, das ich gesagt habe, und lehre mich von dieser Stunde an, meine lose Zunge zügeln; vergib mir die unbedachten Versprechungen, die ich gegeben habe, und erfülle mich mit der Gewißheit, daß du ein huldvoller Vater bist, der seinen Kindern gerne vergibt. Ja laß mich dir danken, daß du mich diesen Tag hast erleben lassen, und laß mich ihn vom Abend bis zum Abend dazu benutzen, durch Gebet und Buße in innerliche Gemeinschaft mit dir zu treten.

Amen!

Zum Mogengottesdienst – Schacharit
»Herr! Herr! allmächtiger, barmherziger und gnädiger Gott, langmütiger und von großer Güte und Treue, der die Liebe bewahrt bis ins tausendste Geschlecht, Übertretungen und Sünden vergibt und doch nichts ungestraft läßt2. Buch Moses, 34, 6. ff.!« Du unerschöpflicher Quell der Gnade! ich beuge mich vor dir in den Staub und bete deinen Namen mit unendlichem Danke an, denn du hast mir diesen Tag zur Rettung meiner Seele geschenkt. Was wäre ich doch, und wie sollte ich die schwere Bürde aller meiner Sünden tragen können, wenn du nicht diesen heiligen Tag dazu bestimmt hättest, sie von mir zu nehmen, von meinen Übertretungen mich zu reinigen und meine Schuld zu sühnen, oder wie könnte ich mich davor retten, tiefer und tiefer zu sinken, wenn ich nicht durch Fasten, Gebet und Buße am heutigen Tage an alle meine Sündenschuld erinnert würde, und deine liebende Vaterstimme mich heute nicht von meinem Irrweg zurückriefe und mir den Tag des Gerichts vor Augen stellte, der einst für jeden Sterblichen erscheinen wird, aber mir auch zugleich wiederum deine Gnade zeigte, die gerne verzeiht und mir zuruft, daß ich,»dich suchen und leben soll«. Wohl weiß ich, o Gott, daß du stets alle meine Wege schaust, und daß deine Stimme mich ohne Unterlaß zu warnen sucht, aber das ist ja gerade mein Vergehen, daß ich darauf nicht achte. Ja gewiß, meiner Sünden Menge würde zuletzt allen Frieden und jegliche Ruhe aus meiner Brust verjagen, sie würde mich tiefer und tiefer ins Verderben stürzen und niemals zur Prüfung meiner selbst kommen lassen, wenn du nicht diesen großen SchabbatSchabbos Schabboßaun. eingesetzt hättest, der meiner Seele den heiligsten Frieden und die seligste Ruhe verschaffen soll. Siehe, indem ich diesen heiligen Tag in deinem Heiligtum zubringe, so werde ich daran erinnert, daß ich selbst heilig sein soll, denn du, o Gott, bist heilig und in deinem Lichte soll ich mich, meinen Sinn und meinen Wandel läutern.—Ach, Herr, wenn ich alle meine Versündigungen bekennen wollte, wo sollte ich da anfangen und wo aufhören? O! so oft ich an diesem Tage mit der Gemeinde das Sündenbekenntnis (Viduj) widerhole, so laß mich tief in das Innere meines Herzens schauen und mich selbst prüfen, ob die Sünden mich nicht in ihr Garn gelockt haben. Laß mich untersuchen, ob ich auch unverrückbar ein sittlich heiliges Ziel bei all meinem Tun und Handeln vor Augen habe, das ich vor den Menschen dereinst zeigen und mir selber auch gegenüber stellen darf, wenn ich im Gebete vor deinem Angesicht stehe. Schaue gnädig auf die Tränen meiner Reue herab, und laß die Zerknirschung meines Herzens dir ein angenehmes Sühnopfer sein. Schenke mir deine Verzeihung für jedes Mal, daß ich meine Pflicht als Mensch (als Mutter, Tochter, Schwester, Verwandte usw.), als Israelitin versäumt habe, vergib mir, daß ich so oft die Menschen mehr als dich gefürchtet habe, verzeihe mir, daß ich rasch zur Lust der Welt und zögernd zu deinem Dienste, daß ich eifrig zum Schlechten und langsam zum Guten, verschwenderisch für den Genuß und geizig für Wohltaten gewesen bin. Gerechter Gott! Verfahre nicht mit mir nach meinen Sünden, sondern nach deiner großen Barmherzigkeit welche gern vergibt. Ja, erbarme dich über mich und hilf mir in deiner Liebe, daß ich an diesem Tage der Versöhnung von neuem geheiligt werde; führe du mich selbst zurück auf deinem Wege, daß ich zum Guten und zur Wahrheit Umkehr halten möge, denn du bist Herr, mein Gott.

Amen!

Beim Mittagsgebet – Mussaf

Je länger ich heute in deinem Haus verweile, Allheiliger, je mehr ich mich selbst betrachte, indem die Quelle jeder Sinneslust gehemmt ist, und das Brausen der Leidenschaften in meiner Brust erstirbt, je klarer ich mir bewußt werde, daß ich hier vor deinem ewigen Richterstuhle stehe, wo nicht nur die Sünden, welche alle Welt sieht und verurteilt, mir vorgehalten werden, sondern wo eine jede sündige Neigung, jede gottlose Begierde, jedes unnütze Wort, ja selbst die geringste Versäumnis in der Ausübung des Guten, die ich mir habe zu schulden kommen lassen, als Zeugen gegen mich auftreten, mich ohne Schonung vor dich zu Gericht bringen, dem alles offenbar ist, und mich meiner Selbsttäuschung entreißen, die meinen Geist sonst gefangen hält, um so mehr muß ich wieder und wieder dein Erbarmen anflehen: O, vergib, vergib mir, Allbarmherziger, wende mir deine Gnade wieder zu, daß ich in meinen Sünden nicht verderben muß! Aber darf ich mein Angesicht wohl zu dir erheben und deine Verzeihung mir erflehen, so lange noch die Stimme eines gekränkten Bruders meine Stimme übertönt, und so lange dies mein Herz noch nicht erfüllt ist mit »der Liebe, welche alle Vergehen zudeckt«Spr. Sal. 10, 13. ? Über wie manchen habe ich nicht in Blindheit und Leidenschaft ein ungerechtes Urteil gefällt, wie oft habe ich meines Nächsten Absicht verkannt, wie oft ihm feindlich entgegengestrebt! Herr! soweit ich meiner eigenen Lieblosigkeit Sünde kenne, will ich mich bestreben das Meinige zu tun, um meines Bruders, meiner Schwester Verzeihung zu erlangen, aber, ach, wie viel habe ich nicht vergessen, wie manche sind nicht von mir geschieden, ohne daß ich damals ihre Verzeihung erhielt oder sie jetzt noch erhalten könnte. So laß mich denn vor deinem Angesicht für mein Vergehen, das ich gegen diese begangen habe, Abbitte tun. Dein ewiger Geist, der in ihnen wirkt, tilge meine Schuld in ihrem Andenken. Und mich, o Herr, mich erfülle du mit dem reinen Geiste der Versöhnung. O, ich will allen Groll und allen Haß aus meiner Seele ausmerzen! Ich will jede Kränkung für nicht geschehen erachten und jedes Versehen gegen mich verzeihen, und wenn jemand auch noch so schlecht gegen mich und die Meinigen gehandelt hätte, und wer versucht hat, mir zu schaden und meine Ehre zu beflecken, ja, Herr, selbst meinem Todfeinde, ich will ihnen allen verzeihen, und sollte es mir schwer fallen, so will ich mich daran erinnern, daß gegen mich sich doch keiner so schwer vergangen hat, als ich mich gegen dich, Allgütiger, versündigt habe, und daß ich doch auf deine Verzeihung hoffe, weil du meine Schwäche kennst, und will mir ins Bewußtsein rufen, daß meines Bruders Versehen gegen mich auch aus derselben Quelle der Schwäche und des bösen Willens fließen. Ich will eingedenk sein dessen, was unsere Weisen sagen, daß wir von dir mit demselben Maß gemessen werden, mit dem wir andere messen und andere richten, und daßSpr. Sal. 19. 11. des Menschen schönster Schmuck darin besteht, alle Verschuldung zu übersehen und zu vergessen!—O gnadenreicher Richter! so schaue denn herab auf meine Seele, die erfüllt ist mit Gefühlen der Vergebung, in der ein himmlischer Friede wohnt, den kein bitteres Gefühl gegen irgend einen Menschen mehr stört! Erhöre du auch meine Bitte um Vergebung meiner Sünden und erfülle meinen Geist mit der beseligenden Verkündigung: »Heute sollen deine Übertretungen getilgt werden und du sollst rein sein von allen deinen Sünden wider den Ewigen.«3. B. M. 16, 30. Mit diesem Trost will ich mich heute vor dir in den Staub niederwerfen, vor dir, der du selbst verzeihst und gerne die Vergehen tilgst.

Amen!

Beim Nachmittagsgebet – Mincha

Hilf, o Ewiger, denn der Frommen Anzahl ist geschwunden und der Gläubigen sind wenig, erhöre mein Gebet für die Sünder, welche frech ihr Haupt erheben, und vergib die schweren Übertretungen, die so zahlreich und häufig sind. Ach, der Himmel umdunkelt sich vor meinen Blicken, wenn ich daran denke, wie schamlos Wollust und Unmäßigkeit auftreten und die jungen Seelen bestricken, wie sie die schönsten Verhältnisse vergiften, das Wohl der Familien untergraben und so manche den wilden, unmäßigen Lüsten zum Opfer fallen lassen, während sie zugleich ihre Laster unter beschönigenden Namen verbergen, oder wenn ich an den Trotz gedenke, mit dem man deine Gebote übertritt, dein mildes himmlisches Joch verhöhnt, ja sich sogar rühmt, es abgeworfen, und dafür das Joch auf sich genommen zu haben, welches die Welt in ihrer Verderbnis geschmiedet hat! O du, mein Gott, dessen Barmherzigkeit kein Ende nimmt, ich bitte dich: Vergib meinen Brüdern ihren Abfall und ihre Schuld, gehe nicht mit ihnen ins Gericht und strafe uns nicht in deinem Zorn um ihrer Übertretung willen! Und doch, darf ich wohl eine Fürbitte für die Sünder zu dir emporsenden, ohne daß mich mein eigenes Gewissen als Teilnehmer an ihren Vergehen anklagt? Wie oft bin ich es vielleicht gewesen, der Veranlassung zum Sündigen gab, oder habe ich stets hinreichend meine Abscheu vor dem Laster zu erkennen gegeben und all den Kummer sehen lassen, von dem ich ergriffen wurde, wenn die Sünde ohne Erröten auftrat? War meine Betrübnis nicht viel größer über den geringsten Verlust an zeitlichen Gütern, als darüber, daß sich die Frechheit und die Ruchlosigkeit meinen Blicken darstellten, oder daß ich sah, wie eine Menschenseele verloren ging! Entflammte mein Zorn nicht weit mehr über die geringste Beleidigung, die mir widerfuhr, als wenn ich Zeuge war, wie dein Name und dein Haus entweiht wurden! Ach, Herr,»flossen Tränenströme aus meinen Augen, weil deine Gesetze nicht beobachtet wurden? Wurde ich von Kummer verzehrt, weil deine Worte vergessen wurdenNach dem Thora-Lesen, 3 B. Mos. 18? Habe ich freimütig dich und deine Lehre bekannt, wenn der Gottlosen Hohn mich mit Schmerz erfüllte?« O, es ist so schwer, ohne Fehler zu wandeln, selbst wenn auch der Edlen und Heiligen Beispiel mir stets voranleuchtet, wenn meine Augen jederzeit sehen, allenthalben, was dir verhaßt ist, und mein Ohr beständig hört, was Sinne und Gedanken irreleitet und stört. O du,»der du dich über uns erbarmest, wie ein Vater über seine Kinder«, laß deine Gnade groß sein gegen die sündige Welt und hilf mir, mit Sorgfalt alles zu vermeiden, was mir zu einer Schlinge werden könnte. Errette mich bei den ernsten und heiligen Erinnerungen dieses Tages, o Herr, errette auch (meine Kinder, meine Angehörigen, meine Verwandten und Freunde, meine Dienstboten), daß kein sündiger Umgang sie von dir entfernen möge.»Läutere mich, o Allgütiger, erforsche mein Herz, prüfe meine Gedanken, sieh, ob der Weg, den ich wandle, zum Verderben, führt, und leite mich auf den Weg zur Ewigkeit!«Ps. 139, 23. Möchten alle Sünder bedenken, wie nahe ihnen ihr Ende ist, wie bald das Leben ihnen verronnen, daß sie zur Zerknirschung geführt werden und zu dir umkehren möchten.»Verwirf mich nicht vor deinem Angesichte, und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir, sondern laß mich deiner Gnade wieder froh werden, und schenke mir einen neuen und willigen Geist, daß ich den Übertretern deine Wege kund tue, und die Sünder sich zu dir bekehren möchten.«Ps. 51.

Zum Schlußgebet – Neïlah
Vater, barmherziger Vater im Himmel! Es ist die letzte Stunde des heiligen Tages, welche jetzt naht. O, daß doch meine ganze Seele in diesem Augenblick sich von der Erde hin zu dir erheben möchte, als ob des Lebens letzte Stunde mir erschienen sei. Mit Gebet und Buße habe ich nun heute die Gelüste und Begierden meines Leibes besiegt, und doch, wie leicht ist nicht die Sehnsucht nach des Lebens Lust selbst mitten in meiner Andacht bei mir wach geworden, und selbst während ich reuevoll meine Sünden bekannte, konnte das Verlangen nach ihnen in meiner Brust nicht erstickt werden; ja, ja, vielleicht hat mich sogar der Wunsch erfüllt, daß dieser Tag schon überstanden sein möchte, gerade als ob dieser Tag an sich durch Fasten und Buße mir Ablaß für meine Sünden verschaffen könnte, und als ob ich alsdann frei wieder den Weg meiner alten Verirrungen betreten könnte, wenn er geendet habe. O, laß mich deshalb noch einmal aus allen meinen Kräften meine Gedanken und mein Inneres läutern, und laß meine heißen Tränen die Aufrichtigkeit meiner Reue bezeugen und dir ein angenehmes Sühnopfer sein, mit dem ich meines Herzens Gelübde besiegele, daß ich dich stets vor Augen haben will, und daß die Erinnerung an diesen Tag mit unverlöschbarer Schrift in die Tafeln meines Herzens eingegraben und mir nahe sein soll in jeder Stunde der Versuchung.—Herr! Zürne mir nicht, daß ich noch dieses letzte Mal zu dir bete; die Schatten des Abends breiten sich schon aus, und die dunklen Schatten meiner Sünden verfolgen mich; ich will sie verjagen und noch einmal meine Schuld bekennen, ich will an die Türe deiner Gnade anklopfen und deinen Namen anrufen, du einziger, ewiglebender Gott! Ich will mich unter dieser Anrufung dir heiligen mit Leib und Seele, und ich gelobe feierlichst, mich selbst in Liebe zu opfern. O, laß mich deiner Gnade Stimme vernehmen:»Ich, ich selbst tilge deine Übertretungen und will deine Sünden vergessen«Jes. 43, 25. O laß meine Seele beim Ende dieses Tages mit heiliger Freude erfüllt sein, daß sie jubeln könne:»Selig, selig ist der, dem seine Übertretung vergeben und dessen Sünde getilgt ist! Selig ist der Mensch, dem der Herr seine Schuld nicht anrechnet, und selig der Geist, den der Herr von der Last seiner Sünden befreit hat!«Ps. 32. —Ja, laß meine erlöste Seele deinen Namen in alle Ewigkeit lobpreisen, du, mein Herr und mein Gott.

Amen!

Kategorie: Gebete für Israeliten

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Rabbiner Abraham Alexander Wolffs Gebetbuch (geboren am 29. April 1801 in Darmstadt und gestorben am 3. Dezember 1891 in Kopenhagen) ist ein orthodoxes Gebetbuch mit zusätzlichen Gebeten in deutscher Sprache. 1856 erschien die dänische Ausgabe und erst später die deutsche Übersetzung. Die vorliegende Ausgabe präsentiert die Texte Wolffs mit einigen hebräischen Ergänzungen, in einer anderen Ordnung und mit einigen zusätzlichen Texten aus der gleichen Zeit.