Die Emanzipation der Juden in Frankreich unter der Revolution und dem Kaiserreich

Der Kampf um die Gleichberechtigung auf dem Boden der Deklaration der Rechte.

Im historischen Frühling des Jahres 1789, als die Generalstaaten Frankreichs, die sich bald darauf in die konstituierende Versammlung verwandelten, in Paris zusammengetreten waren, erkannten die französischen Juden, dass die heranrollende Freiheitswelle auch sie aus den Tiefen der Rechtlosigkeit mit in die Höhe ziehen könnte. An der sozialen Bewegung, die der Einberufung der Volksvertreter vorangegangen war, konnten sich die vom staatsbürgerlichen Reben ferngehaltenen jüdischen Massen nicht beteiligen; sie wählten keine Abgeordneten und äußerten keine Wünsche in »Instruktionen«. Einigen Anteil an der Wahlkampagne nahm nur eine einzige Gruppe naturalisierter Juden im südlichen Frankreich (die sogenannten Portugiesen oder Sephardim); in Bordeaux fanden sich einige jüdische Wähler, und einem von ihnen mangelte es bloß an einigen Stimmen, um Abgeordneter werden zu können (David Gradis). Allein die Verfechter jüdischer Interessen in den nördlichen Gebieten rüsteten sich auf ihre Weise zum Kampf um ihre Rechte. Der Kampf wurde auch ‘durch die Notwendigkeit der Selbstwehr hervorgerufen, denn in vielen Bezirken der jüdischen Ansiedelungszone – Elsass-Lothringen — erteilten die christlichen Wähler aus den beiden ersten Ständen ihren Abgeordneten judenfeindliche Instruktionen. In den Bistümern Kolmar und Schlettstadt verlangte die Geistlichkeit, dass in jeder jüdischen Familie nur dem ältesten Sohne die Ehe gestattet werde, um »die übermäßige Vermehrung dieses Stammes« zu verhindern; der Adel dieser Gegend äußerte die Ansicht, dass schon die bloße Existenz der Juden ein »gesellschaftliches Unglück« bedeute; die Stadt Straßburg beharrte auf ihrem alten »Vorrecht« – die Juden aus ihrem Gebiete auszuweisen. Die judenfeindlichen Tendenzen der Geistlichkeit und des Adels fanden oft auch in den Instruktionen an die Abgeordneten des dritten Standes ihren Ausdruck. Wenn in Paris und in anderen kulturellen Zentren (Metz) den Abgeordneten eingeschärft wurde, »die Tage der Juden in Erwägung zu ziehen« und für deren Gleichberechtigung einzutreten, so gab sich im Elsass auch der dritte Stand alle Mühe, dem Wachstum der jüdischen Bevölkerung einen Damm entgegenzusetzen, ihrer gewerblichen Tätigkeit, insbesondere auf dem Gebiete der Kreditversorgung, enge Grenzen zu ziehen, und selbst einzelne jüdische Gemeinden zu beseitigen. Die meisten Elsässer wünschten – am Vorabende der Revolution – eine neue vermehrte Auflage des drakonischen Regimentes des Jahres 1784 herbei.

Cerf Berr – von einem unbekannten Künstler / CC BY-SA 2.0 FR

Gegen diese Bestrebungen traten die Verfechter jüdischer Interessen aus Elsass und Lothringen auf. Dem »Generalsyndikus« der elsässischen Juden Cerf-Berr gelang es nach langwierigen Bemühungen, von der Regierung Neckers die Erlaubnis zur Einberufung eines Kongresses von Bevollmächtigten aus den jüdischen Gemeinden dreier Provinzen (Elsass>. Lothringen und Metz) zu erwirken und der Regierung ihre Wünsche darzutun. Die Beratungen der jüdischen Bevollmächtigten begannen im Mai 1789, als die Generalstaaten bereits zusammengetreten waren; es wurde eine Anzahl bescheidener Forderungen aufgestellt, die sämtlich nicht etwa auf die gänzliche Abschaffung der jüdischen Rechtlosigkeit – daran wagte damals niemand zu denken – sondern lediglich auf die Milderung der größten Härten hinzielten… Allein die Sommerereignisse des großen Jahres, die eine neue politische Ära in Frankreich eröffneten, gaben auch der jüdischen Frage eine neue Wendung. Die Julitage des Jahres 1789 brachten dem Juden zugleich Freude und Kummer.

Die Juden der Stadt Paris sahen die niedergerissene Bastille, die Demütigung des Despotismus und den Triumph des Volkes. Die Ghettobewohner, die gestern noch vor jedem Polizeileutnant, der jeden Beliebigen dieser »Rechtlosen« aus der Hauptstadt ausweisen konnte, zitterten, waren mit einem Male in andere Wesen verwandelt: der belebende elektrische Strom, der den Organismus Frankreichs durchrieselte, berührte auch sie. In Paris begannen Gruppen von Juden in die Armee der Freiheit, in die Nationalgarde einzutreten; das gleiche geschah in Bordeaux.
Aber zur selben Zeit (Ende Juli) kamen aus dem schlimme Nachrichten: im Zusammenhang mit den Bauernaufständen in den ländlichen Provinzen wurden jüdische Wohnungen geplündert. Die durch den jahrhundertelangen Druck aufs äußerste gereizten Bauern begannen die Schlösser und Herrengüter des Adels, mitunter aber auch die Wohnungen der Juden in den Dörfern zu plündern, wobei sie es besonders auf die Vernichtung der Schuldverschreibungen und der Handelsbücher ihrer Gläubiger absahen.
Die durch den Adel gedemütigten Juden wurden nach dem Ausspruche eines Geschichtsschreibers zu Leidensgefährten ihrer Unterdrücker. Mehr als tausend Juden flüchteten, ihr Hab und Gut der Willkür der Plünderer preisgebend. In der schweizerischen Stadt Basel fanden sie zeitweilige Unterkunft. Der Schmerzensschrei der elsässischen Juden drang bis zur Nationalversammlung. Ein freiheitsliebender Geistlicher, der sich die Befreiung der Juden zur Lebensaufgabe machte, erhob seine Stimme zugunsten der Verfolgten. Der Abgeordnete der Nationalversammlung Abbe Gregoire aus Nancy (Verfasser einer noch vor der Revolution geschriebenen leidenschaftlichen Apologie des Judentums) war im Begriffe, mit einer Rede zugunsten der Gleichberechtigung der Juden hervorzutreten, als die Kunde von den elsässischen Judenplünderungen ihn veranlasst die Rednertribüne zu besteigen, um für die Entrechteten Sicherheit des Lebens und Schutz des Eigentums zu fordern.
Mit sichtlicher Teilnahme hörte die Versammlung die Rede des aufgeregten Abbes (in der Sitzung vom 3. August) an und ging zur Tagesordnung über. In dem Moment, als sie sich anschickte, das uralte Problem, die Abschaffung der Leibeigenschaft in radikaler Weise zu lösen, konnte sie nicht länger bei einem Ereignis verweilen, das sie für eine Episode der Agrarbewegung hielt. Unter der Wirkung des wuchtigen Protestes der Volksmassen gegen die feudale Herrschaft fasste die Nationalversammlung in der berühmten Nacht auf den 4. August den Beschluss, die feudale auf Leibeigenschaft beruhende Ordnung abzuschaffen. Die Judenfrage kam in der Nationalversammlung bei der Erörterung der Punkte »der Deklaration der Rechte des Menschen und Bürgers« zum ersten Mal zur Sprache. Am 22. August wurde der Punkt »von der Toleranz« in der folgenden Formulierung des Abgeordneten de Castellaux behandelt: »Niemand! darf wegen seiner religiösen Überzeugungen verfolgt werden.« Die konservativen Abgeordneten wollten die katholische Religion als die herrschende anerkannt wissen, indem sie den Andersgläubigen gegenüber »Duldsamkeit« einräumten. Da erschien auf der Rednertribüne der aufs tiefste entrüstete Mirabeau. »Eine herrschende Religion!« – rief er aus. »Möge dieses tyrannische Wort aus unserer Gesetzgebung ausgemerzt werden! Denn wenn ihr eine derartige Bezeichnung auf religiösem Gebiet einmal zulasset, werdet ihr sie auch auf allen anderen Gebieten zulassen müssen: Ihr werdet einen herrschenden Kultus, eine herrschende Philosophie und herrschende Systeme haben. Nein, nur die Gerechtigkeit allein soll herrschen; das höchste Prinzip ist das Recht der Persönlichkeit; ihm soll sich alles unterordnen«… Der Donnerschleuderer der »Konstituante« fand Unterstützung bei dem protestantischen Pastor Rabeau Saint – Etienne. Seine Rede über die Rechte der Protestanten schloss mit den Worten:
»Für die französischen Protestanten, für alle Nichtkatholiken in unserem Königreich fordere ich alles, was ihr für euch fordert: Freiheit und gleiche Rechte! Ich fordere es auch für jenes, vom Boden Asiens losgerissene, seit achtzehn Jahrhunderten unterdrückte und verfolgte Volk, das sich unsere Sitten und Gebräuche angeeignet haben würde, wenn unsere Gesetzgebung es in unsere Mitte eingeführt hätte; wir haben auch nicht das Recht, diesem Volke seine sittlichen Mängel vorzuwerfen, weil sie nur die Frucht unserer eigenen Barbarei sind, die Frucht jenes erniedrigenden Zustandes, zu dem wir dieses Volk ungerechterweise verdammt haben.«
Nach langen Debatten wurde der 10. Punkt der Deklaration — der über die Gewissensfreiheit – in folgender Formulierung angenommen (23. August):
»Niemand darf wegen seiner Überzeugungen verfolgt werden, selbst wegen der religiösen, insofern deren Äußerungen der durch das Gesetz festgelegten gesellschaftlichen Ordnung nicht widersprechen.«
Wenn gleich nach der Annahme dieses Punktes alle die sich daraus ergebenden praktischen Folgen festgelegt worden wären, so hätte die Frage der Gleichberechtigung der Juden auf Grund der Deklaration der Rechte eine sofortige Entscheidung gefunden. Aber die Versammlung tat es nicht. Es ist leichter, dem Menschen die Anerkennung einer theoretischen Wahrheit abzuringen, als die Zustimmung zu deren praktischer Anwendung. Die Nationalversammlung ging zu der Behandlung der-anderen Punkte der Deklaration der Rechte und dann zu der Ausarbeitung der Grundlagen für die Verfassung über. Das Toben der Revolutionsstürme, das fortwährend in den Sitzungssaal der Volksvertreter eindrang, lenkte ihre Aufmerksamkeit auch von anderen speziellen Fragen ab, die sogar bedeutender als die jüdische waren. Der letzteren stand noch ein langer Leidensweg bevor. Die Proklamierung der Deklaration der Rechte und das erste wohlwollende Wort über die Juden in der Nationalversammlung lösten unter den jüdischen Führern eine freudige Erregung aus. Nun konnten sie mit mehr Mut und Zuversicht jene Politik der außerparlamentarischen Beeinflussung – durch Petitionen und Deputationen – verfolgen, für die sie sich schon früher entschieden hatten.
Am 26. August wurde der Nationalversammlung eine vorwiegend von Vertretern der sephardischen Gemeinde Unterzeichnete Adresse der Pariser Juden unterbreitet.
Entzückt von den »großen Akten der Gerechtigkeit«, die von der Nationalversammlung ausgehen, und der Hoffnung Ausdruck gebend, dass diese Taten eine Rückwirkung auf das Schicksal der jüdischen Bevölkerung nicht verfehlen werden, ersuchen die Verfasser der Bittschrift die Versammlung, in ihren Beschlüssen des jüdischen Volkes besondere Erwähnung zu tun (faire une mention particuliere) und »seine staatsbürgerlichen Rechte« zu sanktionieren, »damit in diesem Punkte keine Zweifel bestehen, und der lange Druck nicht als Rechtfertigung für weitere Unterdrückung diene«.
Einige Tage darauf lief eine ebensolche Adresse von den »Vereinigten jüdischen Deputationen« aus Elsass-Lothringen ein, die sich bei der Einberufung der Generalstaaten mit bescheidenen Wünschen begnügen wollten und um Milderung des Schicksals der Juden baten. Nun begannen die Abgeordneten eine kühnere Sprache zu führen. »Die Revolution«, schrieben sie in ihrer Adresse, »verkündete die Rechte des Menschen und des Bürgers: sollen denn wir Juden einzig und allein von diesem Akt ausgeschlossen sein?
Wir werden noch bis auf den heutigen Tag unterdrückt, und selbst in der letzten Zeit, als die Volkswut nach Opfern fahndete, wandte sie sich gegen uns, denn solange nicht die Gleichberechtigung der Juden durch einen feierlichen Erlass verkündet ist, wird das Volk in dem Glauben leben, dass der Jude außerhalb des Gesetzes steht«. –
In diesen beiden Adressen, von denen die eine von den privilegierten Juden der Hauptstadt, und die andere von den jüdischen Massen der »Ansiedelungszone« ausging, fällt eine charakteristische Meinungsverschiedenheit auf. Bei ihrer Forderung nach Gleichberechtigung erklären die Pariser ihre Bereitschaft, »in unserem eigenen Interesse und dem des Gemeinwohls auf das uns gewährte Vorrecht, unsere eigenen, aus unserer Mitte gewählten und von der Regierung ernannten Vorgesetzten (d. h. auf die Gemeindeselbstverwaltung) zu verzichten.« Hingegen bitten die Elsässer dringend, uns »unsere Synagoge (Gemeinde), unsere Rabbiner, unsere Syndiker« zu belassen und die Gemeindeselbstverwaltung nicht anzutasten, ohne welche die inneren Angelegenheiten der Juden in die Brüche gehen würden. So verzichteten bereits die vom Volke losgerissenen oberen Schichten der Hauptstadt auf ihre kulturelle Autonomie im bloßen Vorgefühle der Gleichberechtigung, während die kompakten Massen der Judenheit keine demütigenden Konzessionen als Dank für die Verleihung staatsbürgerlicher Rechte anboten …

In der Sitzung vom 2. September wurden diese und manche anderen jüdischen Petitionen der Nationalversammlung vorgelegt. Der Abbe Gregoire, der als Verfechter der jüdischen Sache auftreten wollte, verlangte das Wort, aber andere unaufschiebbare Fragen veranlaßten die Versammlung, die Untersuchung der jüdischen Petitionen einer besonderen Kommission zu übergeben. Unterdessen wollten die Klagen der während der Agrarbewegung zugrunde gerichteten jüdischen Familien in den Dörfern und Städten Elsass-Lothringens noch immer nicht verstummen.
Die Pogromepidemie hatte sich noch nicht gelegt; an manchen Orten rissen die Aufständischen die Dächer von jüdischen Häusern herunter, schossen in die Synagoge hinein und drohten mit einem Gemetzel. Die königlichen Truppen zeigten sich in der Verteidigung der Juden sehr lässig.
Am 28. September forderten die Abgeordneten Gregoire und Graf Clermont – Tonnerre die Nationalversammlung auf, die laufenden Arbeiten zu unterbrechen, um unverzüglich die gegen die Judenpogrome zu er greifenden Maßnahmen zu beschließen.
»Es naht der jüdische Versöhnungstag heran«, sagte Clermont, »und die in den Synagogen versammelten Menschen bleiben gegenüber der Volkswut wehrlos; der Ort, an dem die Juden ihre Gebete verrichten, kann zu dem ihres Todes werden.«
Beide Abgeordnete forderten sofortige Einwirkung auf die elsässischen Behörden. Die Versammlung, die ihrer Entrüstung über die im Elsass verübten Gräuel Ausdruck gab, erteilte ihrem Vorsitzenden Dementier den Auftrag, an die elsässischen Behörden sofort ein Rundschreiben wegen Ergreifung außerordentlicher Maßnahmen zum Schutze der Person und des Eigentums der Juden zu erlassen und gleichzeitig den König um Unterstützung dieser Forderung »durch die ganze Macht seiner Autorität« zu bitten. Am Abend des 14. Oktobers, einige Tage nach der Übersiedelung des Königs und der Versammlung aus Versailles nach Paris, spielte sich in der Nationalversammlung eine feierliche Szene ab. Der Abbe. Gregoire meldete, dass eine aus elsässischen und lothringischen Juden bestehende Deputation schon lange darauf warte, der Versammlung, vorgestellt zu werden, und ersuchte, diese sofort zu empfangen. Es wurde der Befehl gegeben, die jüdische Deputation in den Sitzungssaal eintreten zu lassen. Sie trat ein und blieb am Gitter stehen.
An der Spitze der Deputation befand sich der bekannte jüdische Vertreter Isaak Berr aus Nancy,. Freund und Landsmann von Gregoire.

Mit einer vor innerer Erregung zitternden Stimme wandte sich Berr an die Versammlung mit folgenden Worten:

»Meine Herren! Im Namen des ewigen Schöpfers jedes Rechtes und jeder Gerechtigkeit; im Namen Gottes, der den Menschen gleiche Rechte verlieh und ihnen damit auch gleiche Pflichten auferlegte; im Namen der im Verlaufe vieler Jahrhunderte beleidigten Menschheit, beleidigt durch die schmähliche Behandlung, die den Nachkommen des ältesten der Völker fast in allen Rändern der Erde widerfuhr – im Namen alles dieses beschwören wir euch: wendet eure Aufmerksamkeit unserem kläglichen Los zu!
Allerorten unterdrückt, allerorten gedemütigt und dabei immer gefügig, nimmer einen Widerstand entgegensetzend; ein Gegenstand des Hasses und der Verachtung bei allen Völkern, während sie doch eher auf Duldsamkeit und Mitleid Anspruch erheben können, gestatten sich die Juden, in deren Namen wir nun vor euch treten, sich der Hoffnung hinzugeben, dass ihr an deren Klagen, trotz der euch beschäftigenden Arbeit nicht achtlos vorübergehen werdet; dass ihr ihre schüchternen Erklärungen, die sie aus der Tiefe ihrer Erniedrigung hier vorzubringen wagen, mit einigem Interesse anhören werdet.
Wir werden, meine Herren, eure Zeit nicht missbrauchen, um den Charakter und die Gerechtigkeit unserer Forderungen eingehend zu behandeln; dies alles ist bereits in den Denkschriften, die wir die Ehre haben, euch zu unterbreiten, dargelegt.
Von euch hängt es ab, uns in eine minder traurige Tage zu versetzen, als die, zu der wir bisher verurteilt waren.
Möge jene schändliche Scheidewand, die uns so lange von der Welt trennte, in sich zusammenfallen!
Mögen die Menschen in uns Brüder erblicken!
Möge jene göttliche Liebe zum Nächsten, die euch so teuer ist, sich auch auf uns erstrecken!
Möge sich eine gründliche Umwälzung in allen Institutionen vollziehen, die uns zu Sklaven machen; und möge diese Umwälzung, nach der wir bisher vergeblich rangen und um die wir euch nun mit Tränen in den Augen anflehen, eure Wohltat, das Werk eurer Hände sein!«

Mit tiefer Aufmerksamkeit hörte die Versammlung die Rede des Vertreters der Juden an. Viele waren gerührt. Vor der christlichen Gesellschaft standen die Sendboten einer jahrhundertelang unterdrückten Nation, die das Versprechen gaben, alle historischen Kränkungen zu vergessen, und flehentlich um Gerechtigkeit, um ein brüderliches Bündnis, um die Abschaffung Jahrtausende langer Feindschaft baten…

Als Berr mit seiner Rede zu Ende war, erhob sich der Vorsitzende der Versammlung, Preteau, von seinem Sitz und wandte sich an die jüdische Deputation mit folgenden Worten:
»Die zur Unterstützung eurer Forderungen angeführten wuchtigen Gründe gestatten es der Versammlung nicht, euch teilnahmslos zuzuhören.
Die Versammlung wird euer Gesuch zur Kenntnis nehmen und sich für glücklich halten, wenn sie in der Lage sein wird, euren Brüdern Ruhe und Glück zu verschaffen. Vorerst könnt ihr euren Wählern von unseren Erklärungen Mitteilung machen.«

Die Antwort des Vorsitzenden löste lauten Beifall bei der Versammlung aus. Auf Antrag Gregoires wurde es den jüdischen Delegierten gestattet, als Zeichen besonderer Aufmerksamkeit und Ehrung, in der Kammer bis zum Schluss der Sitzung zu bleiben.
Zur selben Zeit veröffentlichte der unermüdliche Abbe Gregoire in Form einer besonderen Broschüre jene Rede, die er infolge der Vertagung der Behandlung der jüdischen Petitionen zu halten nicht in der Lage war (»Motion en faveur des juifs«). Seine Apologie schließt mit folgenden an die Vertreter des Volkes gerichteten Worten: »50000 Franzosen sind heute als Sklaven erwacht; von euch hängt es ab, dass sie als freie Männer zu Bett gehen!«

Die Debatten in der Nationalversammlung über die aktiven Bürgerrechte der Juden.

Die französischen Juden befanden sich einige Zeit in gehobener Stimmung unter dem Eindruck des feierlichen Augenblicks vom 14. Oktober.
Es schien ihnen, dass der aus den Tiefen ihrer Seele dringende Appell an die Gleichheit und Brüderlichkeit in den Herzen aller derjenigen, die die erhabenen hohen Gebote der »Deklaration der Rechte« dekretiert hatten, einen Widerhall gefunden habe.
Die Schönseher wollten glauben, dass die freundliche Antwort des Vorsitzenden Preteau die Stimmung der ganzen Nationalversammlung zum Ausdruck bringe und dass letzterer in der Tat »sich für glücklich erachten werde, wenn es ihm gelingen sollte, den Juden Ruhe und Glück zu verschaffen«.
Diese Illusionen zerschellten bald an der harten Wirklichkeit. Als die jüdische Frage von den Höhen der Prinzipien auf den Boden der Praxis herabstieg, zeigte es sich, dass bei weitem nicht alle Mitglieder der Versammlung die Lösung der Judenfrage für eine einfache Schlussfolgerung aus der Deklaration der Rechte hielten. Es stellte sich heraus, dass die reaktionären und klerikal gesinnten Abgeordneten aus der Partei der »Schwarzen« (les Noirs) bereit waren, für solche Grundfesten des alten Regimes, wie die Entrechtung und die Rechtseinschränkung der Juden, bis zum Äußersten zu kämpfen; dass die von jahrhundertelangen Vorurteilen durchdrungenen Stände des Adels und des Klerus organisch unfähig waren, die politische Gleichheit von Menschen anzuerkennen, mit denen sie wie mit Parias umzugehen gewöhnt waren.
Die jüdische Frage kam wieder auf die Tagesordnung der Nationalversammlung in der Sitzung vom 21. Dezember 1789, als die Bedingungen der »aktiven Bürgerrechte«, d. i. des Rechtes für administrative und munizipale Ämter zu wählen und gewählt zu werden, zur Diskussion standen. Die Liberalen beantragten die Ausdehnung der aktiven Bürgerrechte auf Nichtkatholiken, vornehmlich Protestanten. Um die Annahme dieses Antrags zu vereiteln, verlangten die unruhig gewordenen Konservativen, dass man zugleich auch die Frage von der Verleihung der aktiven Bürgerrechte an Vertreter niedriger Berufe, wie Komödianten und Henker behandeln möchte. Der liberale Abgeordnete Clermont-Tonnerre, der sich dadurch nicht aus der Fassung bringen ließ, schlug folgende Gesetzesformel vor: »Die Nationalversammlung beschließt, dass kein aktiver, den Bedingungen der Wählbarkeit genügender Bürger wegen seines Berufes oder seiner Konfession aus der Wahlliste gestrichen, oder des Rechtes, öffentliche Ämter zu bekleiden, beraubt werden darf.« Es erhob sich die Frage von der Anwendung des beantragten Gesetzes auf die Juden. Der elsässische Abgeordnete Reubell, ein grimmiger Judenfeind, sagte: »Ich denke von den Juden nicht anders, als sie von sich selber denken: sie halten sich nicht für Bürger.
Und gerade in diesem Sinne lasse ich die Formel des Giermont gelten: indem er den Ausdruck.aktiver Bürger‘ gebrauchte, schließt er dadurch die Juden von dem von ihm beantragten Gesetze aus.« Auf diese Herausforderung antwortete Clermont-Tonnerre mit Würde, dass er auch die Juden, die den formellen Bedingungen des Gesetzes genügen, zur Kategorie der aktiven Bürger zähle. In der Versammlung entstand ein Tumult, die Leidenschaften entbrannten – und die Debatten mussten bis auf die nächste Sitzung verschoben werden. In der nächsten Sitzung stand es klar vor aller Augen, dass weder die protestantische Frage, deren Lösung in einem positiven Sinne bereits gesichert war, noch der grobe, bizarre Zwischenfall mit den Komödianten und Henkern die Versammlung irgendwie interessierte, und dass ihre ausschließliche Aufmerksamkeit einzig und allein dem Streite um die politischen Rechte der Juden galt.
Diese Frage bedeutete einen Prüfstein für beide Parteien, für die liberale, wie für die reaktionäre. Für die Führer der ersteren handelte es sich darum, ihre Treue gegenüber den Prinzipien der Deklaration der Rechte in praxi zu beweisen; die Konservativen hingegen sahen sich vor der Aufgabe, die »Gefahr« der politischen Gleichstellung der Juden, die ihrem ganzen System das Todesurteil gesprochen hätte, zu beseitigen. Am 23. Dezember widerhallte der Sitzungssaal der Nationalversammlung vor solchen leidenschaftlichen Debatten, wie sie selbst in diesem stürmischen Parlament nur äußerst selten vorkamen. Clermont-Tonnerre, der zur Verfechtung seines Antrages mit einer begründenden Rede auftrat, widmete einen beträchtlichen Teil seiner Ausführungen den Juden.
»Ihr«, sagte er,
»habt euch über diese Angelegenheit schon ausgesprochen, indem ihr in der Deklaration der Rechte die Erklärung abgabt, dass kein Mensch seiner Überzeugungen wegen, und seien diese auch religiöser Natur, irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt werden darf. Hieße es aber nicht die Bürger wesentlich einschränken, wenn man sie einzig und allein ihrer Überzeugungen wegen des wertvollsten Rechtes (des aktiven Bürgerrechtes) berauben wollte?
Das Gesetz darf keineswegs das Glaubensbekenntnis eines Menschen antasten; keineswegs steht es dem Gesetz zu, einen Druck auf sein Gewissen auszuüben; nur die Handlungen des Menschen unterliegen der Gewalt des Gesetzes, das verpflichtet ist, ihnen allen Schutz angedeihen zu lassen, wenn sie nicht in Widerspruch zu den Normen gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen. Gott wollte es, dass die Menschen in den allgemeinen ethischen Wahrheiten eines Sinnes werden, und überließ es unserem eigenen Ermessen, moralische Gesetze zu schaffen; aber die dogmatischen Gesetze und das Gebiet des Gewissens behielt er für sich selber. Gebet also das Gewissen frei! Möge keine der Richtungen des Gefühls und des Denkens zum Himmel als ein Verbrechen angerechnet werden, für das die Gesellschaft mit sozialer Entrechtung zu strafen hätte! Oder aber – setzet eine nationale Religion ein, bewaffnet sie mit dem Schwerte und zerreißt eure Deklaration der Rechte!… Jedes Glaubensbekenntnis hat nur ein einziges Zeugnis vorzuweisen: das Zeugnis über die gute Beschaffenheit seiner Moral. Wenn es eine Religion gäbe, die ihren Bekennern Diebstahl und Brandstiftung zur Pflicht machte, so müsste man diesen Bekennern nicht nur das Wahlrecht verweigern, sondern sie einfach des Bandes verweisen. Dies lässt sich vom Judentume ganz gewiss nicht behaupten. Den Juden wirft man verschiedenes vor. Die schwersten unter diesen Vorwürfen sind ungerecht, die anderen gehören in das Gebiet der sozialen Vergehen. Man sagt, die Juden beschäftigen sich mit Wucher…Aber Menschen, deren ganzes Vermögen ausschließlich in Geld besteht, können eben ihre Existenz nicht anders bestreiten, als indem sie das Geld in Umlauf setzen; und ihr habt sie doch immer daran gehindert, etwas Anderes zu besitzen… Den Juden als Nation muss alles verweigert, den Juden als Menschen alles gewährt werden. Es ist notwendig,’«‘ dass sie Bürger werden. Man sagt, dass sie selbst keine Bürger werden wollen; wenn sie das behaupten, so soll man sie des Landes verweisen, denn es darf keine Nation in einer Nation geben… In ihrem Gesuche aber verlangen sie, dass man sie als Staatsbürger betrachte. Das Gesetz ist verpflichtet, ihnen diesen Titel, den ihnen nur das Vorurteil verweigern kann, zuzuerkennen.«

Die Rede Clermont-Tonnerres forderte den besten Redner der Rechten, den Abbe Maury, einen Mann »von scharfem Verstand, aber zweifelhafter moralischer Qualität« (Aulard) zu einer Erwiderung heraus. Voltairianer im Grunde seiner Seele, der mit der Revolution zu liebäugeln verstand, verfocht er die Sache »des Thrones und des Altars« mit einem Pathos, das kaum aufrichtig war, und machte oft von unsauberen polemischen Kunstgriffen Gebrauch. Dieser »schwarze« Abbe war Antipode des »roten« Abbe Gregoire, des edlen Kämpfers für die Gleichberechtigung der Juden. Für seinen Angriff auf die Judenheit gebrauchte der tückische Maury nicht nur die verrosteten Waffen aus der Rüstkammer der Judenfeinde, sondern auch noch eine von Clermont-Tonnerre leicht hingeworfene Bemerkung, nämlich, dass man den Juden als Nation alles zu verweigern, den Juden als Menschen hingegen alles zu gewähren habe. In seiner Erwiderung auf die Rede Clermont-Tonnerres sagte er: »Vor allen Dingen möchte ich bemerken, dass das Wort »Jude« nicht die Benennung einer Sekte, sondern die einer Nation ist, die ihre eigenen Gesetze hat, diesen Gesetzen immer treu blieb und fürderhin treu bleiben will.
Die Juden als Bürger (Frankreichs) anerkennen, wäre dasselbe, wie wenn man Engländer oder Dänen, die nicht naturalisiert sind und nicht aufgehört haben, sich für Engländer und Dänen zu halten, zu den Franzosen rechnen wollte… Die Juden sind durch siebzehn Jahrhunderte hindurchgegangen und haben sich mit den anderen Völkern nicht vermengt. Sie trieben nichts anderes, als Geldhandel. (Des Ferneren verfällt der Redner in kuriose geschichtliche Einzelheiten und behauptet z. B., dass die Juden auch in der Zeit der Könige David und Salomon keinen Ackerbau trieben und dass sie außer den Sabbaten um 56 Feiertage mehr haben, als die Christen…)
Der Schweiß christlicher Sklaven berieselt jene Äcker, wo jüdischer Reichtum entsteht, während die Juden, die gut bestellte Äcker besitzen, sich nur mit dem Ab wägen von Dukaten und der Berechnung des Gewinns beschäftigen, die sie aus diesen Münzen herausschlagen können, ohne der Verantwortung vor dem Gesetz zu verfallen… Im Elsass befinden sich in ihren Händen Hypotheken in einem Betrag von 12 Millionen. In einem Monat können sie sich der Hälfte der Provinz bemächtigen. Und in zehn Jahren können sie diese Provinz vielleicht ganz an sich reißen, so dass sie zu einer jüdischen Kolonie wird. Das Volk hegt gegen die Juden feindliche Gefühle, die. infolge des mächtigen Anschwellens des jüdischen Reichtums sich unvermeidlich in Gewalttaten entladen müssen. Man sollte eigentlich im Interesse der Juden selbst diese ganze Frage unberührt lassen. Die Juden darf man keineswegs unterdrücken: sie sind Menschen, und folglich unsere Brüder – und Fluch allen, die Unduldsamkeit predigen wollen! Seiner religiösen Überzeugungen wegen darf kein Mensch verfolgt werden. Ihr habt dieses Prinzip anerkannt und dadurch den Juden den weitestgehenden Schutz gesichert. Möge aber ihnen dieser Schutz als Menschen überhaupt, nicht aber als Franzosen zuteilwerden, denn sie können keine »Staatsbürger sein!« Die Entstellung der Tatsachen aus dem Leben der Vergangenheit und der Gegenwart in der Rede Maurys wurde im Parlament und außerhalb desselben von vielen bemerkt. Das »Journal de Paris«, das tags darauf in einem ausführlichen Artikel eine Anzahl tatsächlicher Irrtümer in der Rede Maurys aufdeckte, bemerkte zu seinen Schlussworten über die den Juden zu gewährende Protektion »Menschen dürfen nicht andere Menschen protegieren: solche Protektion erinnert an Tyrannei. Der Protektor aller Menschen ohne Unterschied ist das Gesetz, aber ein Gesetz ist immer ein Gewaltakt, wenn an seiner Ausarbeitung diejenigen, auf die es angewendet werden soll, nicht teilnehmen.«
Der grobe Sophismus Maurys, dass die Juden ewig Ausländer bleiben sollen, weil sie bisher in Frankreich nicht naturalisiert waren, d. h. dass man die Vergewaltigung fortsetzen müsse, weil sie bisher aus geübt wurde, fand ebenfalls eine gebührende Würdigung in der Presse. Aber schwerlich konnte damals jemand von den Freunden der Juden auf die durchaus richtige Bemerkung Maurys, dass die Juden keine religiöse Sekte, sondern eine Nation seien, erwidern, dass sich daraus die Notwendigkeit ergäbe, ihnen zugleich mit den staatsbürgerlichen auch die nationalen Rechte zu gewähren. Dieser letztere Ausdruck fehlte im Lexikon der französischen Revolution.
Durch den Mund Clermont-Tonnerres hatte der Liberalismus jener Zeit erklärt: Den Juden als Menschen —alles, den Juden als Nation – nichts. Die Französische Revolution ließ die Gleichberechtigung der Stände, der religiösen Gruppen, aber nicht der Nationalitäten gelten. Und dies bedeutet, dass die vollständige Assimilation der Judenheit außerhalb des Gebietes der Konfessionalität die einzige Bedingung zur Erlangung der aktiven Bürgerrechte bildete. Dem Abbe Maury antwortete Robespierre, der sich damals noch nicht als führender Revolutionär bemerkbar gemacht hatte. »Ihr habt über die Juden Dinge zu hören bekommen,« sagte er in seiner kurzen Rede, »die äußerst übertrieben sind und den geschichtlichen Tatsachen widersprechen. Die Mängel der Juden rühren von dem Zustande der Erniedrigung her, in den ihr sie versetzt habt. Sie werden sich bessern, sobald sie sehen werden, dass es vorteilhaft ist… Ich meine, dass man keinen einzigen Angehörigen dieser Klasse jener heiligen Rechte berauben darf, auf die sie als Menschen Anspruch haben. Die Frage ist prinzipieller Natur und muss auch dem Prinzip gemäß gelöst werden.«
Robespierre hatte die Judenfrage von neuem auf den Boden der allgemeinen Prinzipien der Deklaration der Rechte gebracht.
Eine derartige Zuspitzung der Frage war den Gegnern der Juden, zu denen auch der Bischof La Fare aus Nancy gehörte, nicht vorteilhaft. Ein Gesinnungsgenosse des Abbes Maury und seines Landsmanns, des Judenfeindes Reubell, konnte sich der Bischof von Nancy seines hohen Ranges wegen ihrer polemischen Methoden nicht bedienen. Seine Rede war mit dem Salböle eines Dieners der Kirche durchtränkt. »Die Juden«, sagte er, »haben viele Kränkungen erfahren, die man wieder gut machen muss. Man muss die Gesetze abschaffen, die der Gesetzgeber festlegte, ohne daran zu denken, dass die Juden Menschen und unglückliche Menschen sind. Man muss ihnen Schutz, Sicherheit und Freiheit gewähren. Soll man aber in eine Familie einem fremden Stamm (tribu), dessen Blicke stets nach seiner Heimat gerichtet sind und der den Boden, auf dem er jetzt wohnt, zu verlassen strebt, Einlaß gewähren ? Um gerecht zu sein, muss ich gestehen, dass die Juden im Land Lothringen und insbesondere der Stadt Nancy große Dienste erwiesen haben; es gibt erzwungene Lagen; mein Mandat befiehlt mir, eurem Antrag entgegenzutreten (dem Antrag, die Juden als aktive Bürger anzuerkennen). Dieser von mir erhobene Protest liegt im Interesse der Juden selbst. Für das Volk bilden sie einen Gegenstand des Entsetzens; im Elsass sind sie stets die Opfer der Volksbewegungen. Vor vier Monaten wollte man in Nancy ihre Häuser plündern. Ich begab mich nach dem Orte des Aufruhrs und fragte »Was habet ihr gegen die Juden?«

Und da erklärten mir die einen, dass sie das Getreide aufkaufen; die anderen beklagten sich, dass sie sich allzu rasch vermehren, sich die schönsten Häuser erwerben und bald die Stadt in ihre Hand bekommen werden. Einer von der Rotte sagte: »Ja, Eminenz, wenn wir Sie verlieren sollten, so werden wir vielleicht einen Juden als Bischof sehen; so geschickt eignen sie sich alles an. Ein Gesetzesbeschluss, der den Juden bürgerliche Rechte gewähren würde, könnte zu einer großen Volksempörung Anlass geben… Ich schlage vor: einen Ausschuss zu bilden und ihn mit der Revision der ganzen die Juden betreffenden Gesetzgebung zu betrauen.«
Anlässlich der Drohung Reubeils und des Bischofs La Fare, dass die Proklamierung der jüdischen Gleichberechtigung zu Ausschreitungen gegen die Juden führen könnte, wurde in der. Pariser Presse (»Le patriote frangais« vom 24. Dezember) folgende treffende Bemerkung gemacht: »Seltsam genug, dass man sich auf die eine Ungerechtigkeit beruft, um zu beweisen, dass es notwendig sei, eine andere zu begehen.
Muss denn wirklich das Gesetz der beständige Helfer des Fanatismus und unsinniger Vorurteile sein?« Diesen Standpunkt machte sich ein Redner zu eigen, der dem Bischof von Nancy antwortete; es war dies der ehrliche Duport, einer der einflussreichsten Führer der liberalkonstitutioneilen Partei in der Nationalversammlung – ein Mann, dem es in der Folge beschieden war, das Werk der jüdischen Emanzipation zu seinem endgültigen Abschluss zu bringen. »Das Gesetz« sagte er, »ist die Verkörperung der strengen Gerechtigkeit, und wenn die Gebräuche und Sitten zu dieser Gerechtigkeit im Widerspruche stehen, so ist es die Pflicht des Gesetzes, die Gebräuche der Gerechtigkeit anzupassen; letzten Endes werden die Sitten mit dem Gesetz eins werden.«

Duport schlug eine neue Formulierung des Gesetzes vor, in welcher nur das Prinzip der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommt, ohne dass dabei der Konfession Erwähnung getan wird: »Kein Franzose darf je seiner aktiven Bürgerrechte verlustig gehen, es sei denn aus Gründen, die in den Beschlüssen der Nationalversammlung dargelegt sind.«
Die Formel Duports wurde mit einer Mehrheit von nur 5 Stimmen abgelehnt (408 gegen 403). Als die Debatten am nächsten Tag (24. Dezember) von neuem einsetzten, brachte der Herzog Broglie folgenden Vermittlungsantrag ein: Die Formel Duports ist mit dem Vorbehalte anzunehmen, dass die Lösung der Judenfrage auf einen späteren Zeitpunkt hinausgeschoben wird. Beide Parteien beeilten sich, diesen Vorschlag anzunehmen: die Rechte hoffte, die »Gefahr der Gleichberechtigung« durch diese Vertagung hinauszuschieben, was Reubell mit der ihm eigenen zynischen Offenheit zugab; was die Liberalen anbelangt, so stimmten sie ebenfalls der Vertagung zu, denn sie fürchteten, die ganze Formel Duports, die vornehmlich auf die Protestanten hinzielte, den Juden zuliebe aufs Spiel zu setzen, und selbst Mirabeau schloss sich diesem Antrag an, mit der Begründung, dass »die Frage nicht genügend geklärt sei«. Allem Anscheine nach glaubte der Führer der Nationalversammlung, dass die Vertagung von kurzer Dauer sein und der Triumph des Rechts und der Freiheit nicht lange auf sich warten lassen würde; er konnte nicht voraussehen, dass er sterben würde, ohne die Emanzipation der Juden erlebt zu haben…

Der Beschluss der Nationalversammlung lautete dahin, dass alle Nichtkatholiken in völliger Gleichstellung mit den Katholiken das aktive und passive Wahlrecht, wie auch das Recht, im Staatsdienste tätig zu sein, genießen dürfen, »wobei hinsichtlich der Juden, über deren Lage sich die Versammlung eine Aussprache vorbehält, nichts Neues beschlossen wird«. Im Lärm der Debatten entging ein sehr gewichtiger Umstand der allgemeinen Beachtung. Indem nämlich die Nationalversammlung die Lösung der Frage von den »aktiven Bürgerrechten«, d. i. von der Gewährung der vollen bürgerlichen und politischen Rechte an die Juden vertagte, schob sie zugleich die Lösung der Frage wegen jener elementaren Rechte der Juden beiseite, gegen die auch die gemäßigt-rechte Opposition nichts einzuwenden hatte. Der Abbe Maury und der Bischof Da Fare gaben zu, dass das Gesetz verpflichtet sei, den Juden als Menschen »Schutz angedeihen zu lassen«, und dass Vieles an der alten repressiven Gesetzgebung bezüglich der Juden abgeschafft werden müsse – und dessen ungeachtet lautete der Beschluss der Kammer: »hinsichtlich der Juden wird nichts Neues beschlossen«. Das bedeutet, der Beschluss der Kammer beließ sie im früheren Zustande persönlicher Entrechtung.
Die Lösung der jüdischen Frage wurde auf diese Weise von der Kammer zweimal verschoben: am 23. August, als der Paragraph der Deklaration der Rechte, der sich auf die Gewissensfreiheit bezog, zur Abstimmung stand, und am 24. Dezember, als die Bedingungen der aktiven Bürgerrechte zur Sprache kamen.

Der Separatismus der Sephardim und die Anerkennung ihrer Gleichberechtigung.

Der Beschluss vom 24. Dezember versetzte die Juden in einen Zustand tiefster Entmutigung. Getragen vom ersten idealen Aufschwünge der Revolution, lebten sie in dem Glauben, dass die jüdische Frage in allernächster Zukunft eine Lösung im Geiste der humanitären Prinzipien der »Deklaration der Rechte des Menschen und des Staatsbürgers« durch die Nationalversammlung finden werde; da mussten sie plötzlich die Erfahrung machen, dass die Deklaration sehr gut bestehen könne, auch ohne dass den Juden Rechte – nicht einmal »menschliche«, geschweige denn staatsbürgerliche – eingeräumt werden. In den Räumen des großen Freiheitstribunals mussten sie es mit anhören, wie die Stimme der Verfechter der Emanzipation durch die Stimmen des religiösen und nationalen Hasses, die Stimmen der »Schwarzen«, übertönt wurde. Es war dies ein moralischer Schlag für das ganze jüdische Volk, und nicht nur für jenen winzigen Teil desselben, der in Frankreich lebte. So fassten es nämlich die national gestimmten »deutschen« oder elsass-lothringischen Juden auf, die die überwiegende Mehrheit der französischen Judenheit bildeten. Ein anderes Verhalten der ganzen Sache gegenüber legte die »bevorzugte« Minderheit an den Tag. Es waren dies die Sephardim von Bordeaux, die im Begriffe waren, sich zu »Franzosen mosaischer Konfession« herauszubilden. Die neue Niederlage würdigten sie nicht vom nationalen – sondern vom Gruppenstandpunkte aus. Sie, die Juden von Bordeaux hielten sich schon seit langem für die auserwählte Aristokratie der Judenheit; sie genossen die Rechte der in Südfrankreich Naturalisierten und folglich die Rechte des »passiven Bürgertums«; sie waren schon tatsächlich nahe daran, die »aktiven Bürgerrechte« für die Wahlen zu den Generalstaaten zu erhalten – und mit einem Male warf man sie, die Bevorzugten, durch den Beschluss, die jüdische Frage zu vertagen, in einen Topf mit den unglückseligen »deutschen Juden, die nicht einmal elementare Bürgerrechte besaßen, und an ihrer nationalen Absonderung festhielten«! In tiefer Verstimmung – nicht über das Schicksal ihrer größeren Leiden ausgesetzten Brüder, sondern über die Schmälerung und Beeinträchtigung ihrer Gruppenehre und ihrer Gruppeninteressen, sagten sich die Juden von Bordeaux in schändlicher Weise von der nationalen Solidarität los1). Sobald die Resolution vom 24. Dezember veröffentlicht worden war, wandten sich die Juden von Bordeaux mit einer Protestbittschrift an die Nationalversammlung (31. Dezember 1789). Sie machten die Versammlung darauf aufmerksam, dass die in Südfrankreich ansässigen Juden »portugiesischer« Herkunft sich schon längst der Bürgerrechte auf Grund königlicher »Patente« erfreuten, dass sie sowohl de jure, wie de facto die Gleichberechtigung besitzen, und es ihnen bloß an der Sanktionierung der »aktiven Bürgerrechte« fehle, um in den Besitz aller bürgerlichen Rechte zu treten. Und dies sei auch der Grund, weshalb sie, die Juden von Bordeaux, sich durch den Umstand verletzt fühlen, dass man sie in der Resolution der Nationalversammlung in eine Linie mit »Juden anderer Herkunft« stellte. Sie protestieren gegen das Verhalten der » Juden von Elsass-Lothringen l) Schon nach den ersten Pogromen im Elsass, im August 1789, wandten sich die Juden von Bordeaux an den Abbe Gregoire mit einem Brief, in dem sie zu beweisen suchten, dass sie sich im Gegensatz zu ihren »unglücklichen« Stammesgenossen im Elsass schon längst den Christen genähert hätten; »wenn daher das Benehmen oder das unglückliche Los einiger Juden im Elsass und den drei Bistümern die Nationalversammlung bewegen würde, irgendein alle Juden des Königreichs berührendes Reglement zu erlassen, würden die Juden von Bordeaux darin mit Recht eine unverdiente Beleidigung erblicken«.

Der Brief war von Grandis, Furtado und anderen unterschrieben. und der drei Bistümer«, die unter ihrer selbsteigenen, partikulären (Gemeinde-)Verwaltung leben, ihre besonderen Gesetze haben und eine von allen anderen abgesonderte Bürgerklasse bilden wollen. Die Verfasser der Bittschrift sind über eine derartige »unvernünftige Leidenschaftlichkeit des religiösen Eifers« entrüstet und wollen hoffen, dass dieser Umstand die Sephardim oder Portugiesen, die sich »mit der Menge aller anderen Nachkommen Jakobs niemals vereinigten und vermischten«, nicht kompromittieren werde. Die Bittschrift (»Adresse«) der Juden von Bordeaux, unterzeichnet von ihren Bevollmächtigten und 215 »chefs de maison«, wurde im Publikum verbreitet und an alle Abgeordneten der Nationalversammlung verschickt. Und alle erfuhren auf die Weise, dass es zwei jüdische Stämme gibt: einen patentierten, patriotisch gesinnten und der Gleichberechtigung würdigen »portugiesischen« Stamm, und einen »deutschen«, der fanatisch und in staatsbürgerlicher Hinsicht nicht rechtsfähig ist. Die Bittschrift ging dem Verfassungsausschuss der Nationalversammlung zu. Der Ausschuss beauftragte eines seiner Mitglieder, den Bischof von Autun – den später berühmt gewordenen Diplomaten Talleyrand —, über das Gesuch der Juden von Bordeaux eine Denkschrift zu verfassen. Am 28. Januar 1790 wurde die Denkschrift dem Verfassungsausschuss mit folgender Bemerkung unterbreitet:
»Die Revolution, die die Rechte aller Franzosen wiederhergestellt hat, kann keiner einzigen Bürgergruppe die ihr einmal verliehenen Rechte entreißen. Ohne etwas in betreff der vertagten allgemeinen Frage (hinsichtlich der Juden) im Voraus zu bestimmen, schlägt daher der Ausschuss der Versammlung vor, den Juden von Bordeaux alles zu gewähren, was sie von Rechts wegen fordern, und sie als aktive Staatsbürger unter den für alle anderen Franzosen geltenden Bedingungen zu erklären.«
Der verlesene Antrag löste im Sitzungssaal einen mächtigen Tumult aus. Der obligate Judenfresser Reubell bestieg die Rednertribüne und begann mit folgenden Worten:
»Euch, meine Herren, schlägt man vor, die Juden von Bordeaux nicht mehr als Juden anzusehen…!«
Er suchte nachzuweisen, dass der Antrag des Verfassungsausschusses zu der Resolution vom 24. Dezember in Widerspruch stehe, dass, wenn den Juden von Bordeaux die Gleichberechtigung gewährt werde, kein Grund vorliege, sie den elsässischen Juden zu verweigern, was gefährlich wäre, angesichts des Umstandes, dass die Proklamierung der jüdischen Gleichberechtigung zu Ausschreitungen gegen die Juden im Elsass führen würde. In demselben Geiste sprach auch der Abbe Maury. Diesen beiden antworteten die Redner der linksstehenden Partei, die klarzumachen suchten, dass man die Juden von Bordeaux mit denen vom Elsass nicht verwechseln dürfe; denn bei den ersteren handele es sich um die bloße Erhaltung der früheren staatsbürgerlichen Rechte, während es sich bei den letzteren um die Gewährung von Rechten handle, die sie früher nicht besaßen. Eine berichtigende Klausel von großer Wichtigkeit schlug der Abbe Gregoire vor, indem er erklärte, dass die Gleichberechtigung, nicht nur den Juden von Bordeaux, sondern auch allen unter dem Namen der »portugiesischen, spanischen und avignoner« bekannten Juden Süd- und Westfrankreichs zu gewähren sei. Was nun die elsass-lothringischen Juden betrifft, so ersuchte er, einen eigenen Tag für die Erörterung dieser Frage festzusetzen, und versprach, alle falschen Beweise des Abbe Maury und der anderen Gegner der Emanzipation zu widerlegen. Nach unendlichen Formulierungen und Berichtigungen wurde endlich an die Abstimmung geschritten. Es wurde zunächst versucht, die Frage durch Aufstehen von den Plätzen zu entscheiden, aber der zweimal wiederholte Versuch ergab zweifelhafte Resultate. Man sah sich also genötigt, zu einer namentlichen Abstimmung zu schreiten.
Die antijüdische Partei beschloss, die namentliche Abstimmung zu vereiteln und eine Auflösung der Sitzung herbeizuführen. In den Reihen der Rechten entstand ein ungeheurer Lärm; die geistlichen und adeligen Abgeordneten erhoben sich von ihren Sitzen, gingen ein und aus, redeten durcheinander und lärmten. Die Stimme des Sekretärs, der die Namen der Abgeordneten aufrief, erstickte in diesem Lärm; an die zwanzig Mal wurde die Abrufung unterbrochen und wiederaufgenommen.
Zwei Stunden dauerte dieser Skandal. Das freche Benehmen der judenfeindlichen Abgeordneten regte die Linke und das Zentrum dermaßen auf, dass sie beschlossen, den Radaumachern keinesfalls nachzugeben. Der Vorsitzende der Versammlung erklärte, dass ihn nichts davon abbringen würde, die Sitzung bis zu ihrem Ende durchzuführen. Schließlich wurden die »Schwarzen« des Lärmens müde – und die namentliche Ab Stimmung nahm einen normalen Verlauf.
Für den den Juden günstigen Antrag mit der Ergänzungsklausel Gregoires wurden 373 Stimmen gegen 225 abgegeben. Der durch eine so starke Mehrheit angenommene Beschluss lautete folgendermaßen: »Die Nationalversammlung beschließt, dass alle als portugiesische, spanische und avignoner bekannte Juden nach wie vor alle die Rechte genießen sollen, die sie auf Grund königlicher Patente genossen, und dass sie daher alle Rechte der aktiven Bürger genießen dürfen, wenn sie den von der Versammlung hierfür festgesetzten Bedingungen genügen werden.«

Der Beschluss der Nationalversammlung wurde unverzüglich dem Könige zur Bestätigung unterbreitet und erhielt einige Tage darauf gesetzliche Kraft. Die in Paris wohnenden Sephardim schickten einen Boten nach Bordeaux, um ihren Landsleuten die frohe Botschaft mitzuteilen. Die jüdischen Einwohner von Bordeaux mussten jedoch noch einige peinliche Tage erleben. Das durch seinen Misserfolg erbitterte »schwarze Hundert« versuchte, das städtische Gesindel in Bordeaux gegen die Juden aufzuhetzen. Nach Paris kamen beunruhigende Gerüchte über einen Pogrom, der dort angeblich stattgefunden hatte; die klerikale Presse, die darin eine Bestätigung ihrer Meinung erblickte, dass »der König von Frankreich nicht zu einem König der Juden werden kann«, feierte ihren Triumph. Aber die Pogromgerüchte erwiesen sich als stark übertrieben. Am 9. Februar machte der Abgeordnete Garat der Nationalversammlung eine beruhigende Mitteilung, indem er einen von den Juden von Bordeaux durch einen Eilboten nach Paris geschickten Brief verlas. Daraus ergab sich, dass dort eine unbedeutende Demonstration stattgefunden hatte, die sich darin äußerte, dass ein Häuflein junger Deute im Theater und im Börsengebäude, »Nieder mit den Juden« schrie – und das jüdische Publikum zu entfernen versuchte. Ein großer Teil des Publikums jedoch missbilligte die Ausschreitungen der ungezogenen Schlingel, und tags darauf drückten die ehrbarsten christlichen Bürger der Stadt den Vertretern der jüdischen Gemeinde ihr Bedauern über den skandalösen Vorfall aus. Das Börsengebäude wurde von einer militärischen Abteilung bewacht, aber diese Maßregel erwies sich als überflüssig: die jüdischen Besucher, die den darauffolgenden Abend im Theater erschienen, wurden vom christlichen Publikum mit Beifallskundgebungen begrüßt.

Die Agitation der Pariser Kommune zugunsten der Juden.

Im Bericht über den Triumph der liberalen Ideen, der im Beschluss vom 28. Januar wegen der Juden Südfrankreichs zum Ausdruck gekommen war, machte das »Journal de Paris« folgende Bemerkung: »Aber an diesem Triumph blieb ein bitterer Beigeschmack haften. Die Juden der elsass-lothringischen Gebiete können der Nationalversammlung die Worte Esaus an seinen Vater zurufen: Hast du nur einen einzigen. Segen?«

Die elsass-lothringischen und Pariser Aschkenasim, an denen man in stiefväterlicher Weise achtlos vorübergegangen war, ließen es jedoch bei wehmütigen Klagen nicht bewenden. Sie hatten es gelernt, die Gleichberechtigung als ein ihnen zukommendes Recht zu fordern und nicht als ein Geschenk zu erflehen. Schon nach der Vertagung vom 24. Dezember verfertigten diese durch das Zögern der Nationalversammlung aufs äußerste erregten »deutschen Juden« eine »Bittschrift« an die Versammlung, in welcher sie erklärten, dass sie die Gleichberechtigung nicht »auf dem Wege allmählicher Verbesserungen« sondern »unverzüglich« erwarten. Sie fordern ihre Rechte »mit der Unbeirrbarkeit von Menschen, die nicht einen Gnaden sondem einen Gerechtigkeitsakt erwarten«; indem sie die Rasten der öffentlichen Pflichten mittragen, müssen sie auch ihren Anteil an den Segnungen des öffentlichen Bebens gesichert wissen. Es sei dies für sie »eine Existenzfrage auf dem Gebiet des öffentlichen Bebens«. Die Bittschrift, unterzeichnet von den besten Vertretern der Aschkenasimgruppe von Paris (Cerf-Berr, Beer-Isaak-Berr, David Sinzheim, dem späteren Vorsitzenden des napoleonischen Synhedrions und anderen), wurde in der Versammlung vom 28. Januar 1790, am Tage des Beschlusses über die sephardische Gleichberechtigung eingereicht, blieb aber ohne jeden Erfolg.

Die verhängnisvolle »Vertagung« blieb in Kraft. Für die Juden der Stadt Paris machte sich diese Kränkung besonders fühlbar. Sie standen im eigentlichen Mittelpunkte der revolutionären Bewegung und nahmen an ihr einen regen Anteil. Über hundert Juden standen im Dienste der Pariser Nationalgarde, in die sie kurz nach der Erstürmung der Bastille als Freiwillige eingetreten waren. In einigen Pariser Bezirken (besonders im Karmeliter-Bezirk) betätigten sich die Juden trotz der Rechtseinschränkungen in den Stadträten und anderen städtischen Institutionen. Die Juden legten einen patriotischen Eifer an den Tag und waren bereit, ihr Leben für ihre stiefmütterliche Heimat hinzugeben. Nicht unbeträchtlich waren auch« die Summen, die sie für gemeinnützige Zwecke spendeten. Ein armer Gelehrter, der Verfasser der vorrevolutionären »Apologie der Juden«, Salkind Hurwitz, der an der Königlichen Bibliothek zu Paris als Übersetzer angestellt war, spendete den vierten Teil seines knappen Jahresgehalts von 900 Franken der Gemeindekasse. Männer dieser Art konnten sich nicht länger mit dem Brandmal der gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Entrechtung zufriedengeben.
Und nun griffen die Pariser Juden zu einem neuen Kampfmittel, um sich ihre Rechte zu erringen: sie beschlossen, auf die Nationalversammlung durch die Pariser Kommune oder Stadtverwaltung einzuwirken. In der Kommune konzentrierten sich die radikalsten Elemente der Hauptstadt, die durch ihre Resolutionen mehr als einmal einen Druck auf die Nationalversammlung ausübten. Die Juden rechneten darauf, dass, wenn einmal die städtische Verwaltung, die das Organ der öffentlichen Meinung der Hauptstadt bildete, zugunsten der Emanzipation aufträte, auch die Nationalversammlung mit der Wiederaufnahme der vertagten jüdischen Frage nicht länger zögern könne und sie in positivem Sinne lösen würde. An eben demselben 28. Januar, als die Frage wegen der südfranzösischen Juden in der Nationalversammlung behandelt wurde, spielte sich im Sitzungssaale der allgemeinen Versammlung (Assemblee generale de la commune) eine feierliche Szene ab. Eine vielköpfige Deputation der Pariser Juden, in der sich auch an die fünfzig Nationalgardisten mit der dreifarbigen Kokarde befanden, trat vor die Kommunalversammlung mit der Bitte, die Gemeinde der Hauptstadt möge durch ihre Abgeordneten für die Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung eintreten.
Als Wortführer dieser Deputation figurierte der Advokat des Parlaments und Kommunemitglied Godard, der von den Pariser Juden bevollmächtigt wurde, sich für sie zu verwenden. Godard verließ seinen Platz, den er unter den Kommuneabgeordneten eingenommen hatte, machte ein paar Schritte vorwärts, trat an die Spitze der jüdischen Deputation und wandte sich an die Versammlung mit folgenden Worten: »Meine Herren, ich verließ für kurze Zeit meinen Platz, den ich unter euch einnahm, um ihn mit einem zu vertauschen, der mir in einem Augenblick, wie der jetzige, wo ich als Wortführer von Bittenden und Befürworter von Unglücklichen auftrete, mehr gebührt. Von dem größten Teil der im Königreiche lebenden Juden bevollmächtigt, ihre Interessen vor der Nationalversammlung zu verfechten1), erscheine ich zugleich als Vertreter der in Paris lebenden Juden. Und als solcher kann ich euch von ihrer tiefen Verehrung Zeugnis ablegen, kann euch ihre Ergebenheit beteuern und einen Beweis ihrer Erkenntlichkeit liefern. Denn die edlen Einwohner unserer Hauptstadt sind in Bezug auf die Juden der Wohltat des Gesetzes vorausgegangen, indem sie sich der jetzigen denkwürdigen Revolution bedienten, um sie zu Waffengenossen zu machen und ihnen die Bürgeruniform (der Nationalgarde), in der einige unter ihnen vor euch treten, zu verleihen. Was die Bevölkerung betrifft, so legt sie schon jetzt ein brüderliches Verhalten ihnen gegenüber an den Tag, noch ehe sie gelernt hat, mit ihnen wie mit Bürgern zusammenzuleben…«
Nachdem er des ferneren auf den patriotischen Eifer der Pariser Juden hinwies, die aus ihrer Mitte hundert Krieger in die Nationalgarde schickten, brachte Godard die Wünsche der jüdischen Deputation in folgenden Worten vor: »Die Juden, die ihr Anliegen vor die Nationalversammlung bringen und von ihrer Weisheit ein für sich günstiges Gesetz erwarten, messen jenen gewichtigen Kundgebungen des Wohlwollens, denen sie in der Hauptstadt begegnen, eine große Bedeutung bei… Sie sind der Meinung, dass dieses Wohlwollen seitens der hauptstädtischen Bevölkerung sie auch zu der Bitte berechtigt, eure Stimmen zu ihrem Schutze zu erheben und das Wort auszusprechen, das die Entscheidung ihres Schicksals beschleunigen könnte… Eure feierliche Erklärung, die nur ein der Wahrheit dargebrachtes Tribut sein würde, soll nicht nur der Sache der Pariser, sondern der aller Juden im ganzen Königreiche das Wort reden und auf diese Weise das Wohl von fünfzigtausend Seelen vorbereiten helfen.« Der Vorsitzende der Kommuneversammlung, Abbe Mulot, erwiderte darauf, dass das Anliegen der jüdischen Deputation von der Versammlung ernstlich erwogen werden würde, und gab der Überzeugung Ausdruck, dass die Kommune »ihren Beschluss in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen der Vernunft und der Menschlichkeit fassen werde«.
Aber die jüdischen Kämpfer und ihre christlichen Mitkämpfer ließen es dabei nicht bewenden. Sie entfalteten eine rege agitatorische Tätigkeit in den »Sektionen« oder Bezirksversammlungen der Abgeordneten der Stadt Paris (die Stadt war in 50 Verwaltungsbezirke eingeteilt, von denen jeder seinen Abgeordnetenrat besaß), indem sie die letzteren dazu zu bewegen suchten, ihre Meinung in der Frage der jüdischen Gleichberechtigung der zentralen städtischen Verwaltung mitzuteilen. Der Karmeliterbezirk war der erste, in dem diese Agitation Anklang fand; in diesem Bezirk wohnte der überwiegende Teil der Juden, die sogar ihre Vertreter im Bezirksrat der Abgeordneten hatten. Am 30. Januar erschien im allgemeinen Versammlungssaal der Kommune eine Deputation der Abgeordneten des Karmeliterbezirkes und überreichte dem Vorsitzenden die einstimmig angenommene Resolution des Bezirksrates: »an die Kommune die Bitte zu richten, alle ihr zu Gebote stehenden Hebel in Bewegung zu setzen, um die Anerkennung der Juden als aktive Staatsbürger bei der Nationalversammlung zu erwirken.«

Der Staatsanwalt und Syndikus, Cahier-de-Gerville, der an der Spitze der Deputation stand, hielt dabei eine warme Rede für die Juden: »Unter allen Bezirken der Pariser Gemeinde«, sagte er, »ist es der Karmeliterbezirk, der den überwiegenden Teil der jüdischen Bevölkerung beherbergt. Mehr als alle anderen Bezirke hat der Karmeliter die Möglichkeit gehabt, die Haltung der jüdischen Einwohnerschaft seit dem Beginne der Revolution zu beobachten, mit ihren Prinzipien Fühlung zu nehmen und sich ein Urteil über ihren sittlichen Zustand zu bilden … Es wird euch daher nicht befremden, wenn die Vertreter des Karmeliterbezirkes sich zu allererst die Freiheit nehmen, dem Patriotismus, der Tapferkeit und der edlen Gesinnung der Juden öffentlichen Tribut zu zollen. Kein Bürger legte solchen Eifer in der Sache der Erringung der Freiheit an den Tag, wie die Juden; niemand zeigte einen dermaßen heißen Drang nach der Uniform der Nationalgarde, wie die Juden; ich kenne keine Menschen, die der Ordnung und Gerechtigkeit in größerem Maße als sie zugetan wären, die sich durch Wohltätigkeit und freiwillige Spenden für die Gemeinde mehr hervorgetan hätten… Die in Paris lebenden Juden sind noch nicht zu Franzosen erklärt worden, aber glaubt uns, sie verdienen vollauf diese Benennung. Ich wage sogar zu behaupten, dass sie es in Wirklichkeit schon sind. Ja, meine Herren, das Karmeliterviertel will nicht, dass man einen Unterschied zwischen den Staatsbürgern mache. Die Juden werden in beratende Ausschüsse aufgenommen, sie teilen mit uns die Ehre und die Mühen des Militärdienstes, und von keiner Seite wird Unzufriedenheit gegen die Gewährung von staatsbürgerlichen Rechten an sie laut – von Rechten, denen nur die Bestätigung und Bekräftigung des Gesetzes fehlt… Geruht also, meine Herren, unsere gerechten und eindringlichen Erklärungen zugunsten unserer neuen Brüder zur Kenntnis zu nehmen. Fügt unserer Erklärung auch die eurige bei – und legt sie insgesamt der Nationalversammlung vor. Seid dessen gewiss, meine Herren: Ihr werdet für die Pariser Juden mühelos alles erringen, was man den Juden nicht verweigerte, die als portugiesische, avignoner und spanische bekannt sind. Und weshalb denn sollte man die letzteren den ersteren vorziehen? Ist denn nicht die Ehre aller Juden überall die gleiche? Sind denn unsere politischen Beziehungen zu den einen und den anderen nicht dieselben? Wenn die Vorfahren derjenigen Juden, deren Interessen wir verfechten, Härten und Plagen seitens willkürlicher Behörden in größerem Maße ausstehen mussten, als es bei den portugiesischen Juden der Fall war, – gibt denn nicht gerade dieser von ihnen erduldete furchtbare und langwierige Druck ein Anrecht mehr auf unsere nationale Gerechtigkeit?«
Das Drängen der Deputationen verfehlte nicht die gewünschte Wirkung. Am selben Tage, dem 39. Januar, kam in der Generalversammlung der Pariser Kommune die Frage wegen der Unterstützung der von den Juden unternommenen Schritte vor der Nationalversammlung zur Sprache. Es entspannen sich lebhafte Debatten: die Mehrheit war für die Unterstützung, die Minderheit schwankte unschlüssig. Um diese Unschlüssigkeit zu beseitigen und den Boden für einen einstimmigen Beschluss zugunsten der Juden vorzubereiten, bestieg einer der besten Redner der Kommune, Abbe Bertolio die Tribüne und hielt eine lange Rede, in der er die wichtigsten Seiten der Judenfrage berührte. Nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass Frankreich endlich an dem Zeitpunkt angelangt sei, wo es möglich wäre, alle zwischen den Menschen errichteten Scheidewände niederzuwerfen, rief er aus:
»Aber diese Revolution, die so glücklich verlaufen. und so unerwartet gekommen ist, wird ein unvollendetes Werk bleiben, wenn die Anschauungen der Menschen in ihrem Wachstum mit dem der von ihr geborenen Verfassung nicht gleichen Schritt halten. Erheben wir uns doch zur Höhe unserer Verfassung…!

Die durch die Nationalversammlung geheiligten Prinzipien gaben drei Millionen Franzosen das staatsbürgerliche Reben wieder. Die französischen Protestanten sind in ihren staatsbürgerlichen Rechten wiederhergestellt… Die neuen Prinzipien haben vor kurzem ihren Triumph über ein anderes, noch festgewurzelteres Voxurteil errungen. Durch einen feierlichen Gesetzbeschluss wurde die staatsbürgerliche Stellung der Juden von Bordeaux, Bayonne und Avignon bekräftigt. Die in Paris und den anderen Teilen des Königreichs lebenden französischen Juden ‘bemühen sich gegenwärtig darum, dass man ihnen die gleiche Gerechtigkeit widerfahren lassen möge. Kann man eine abschlägige Antwort geben?

Welches ist der wesentliche Unterschied, den man zwischen ihnen und ihren Brüdern in Bordeaux machen könnte? Man wird sagen, dass sie Patente und Vermögensrechte besitzen, deren die anderen entbehren. Darauf erwidere ich nun, dass die Patente der Juden von der Natur selber unterzeichnet sind, und das Siegel der Natur wird alle Siegel sämtlicher Kanzleien Europas aufwiegen.« Der Redner schloss seine Rede mit folgendem Wunsch: »Ich meine, wir müssen uns dahin aussprechen, dass die Nationalversammlung die Judenfrage, deren Erörterung von ihr vertagt wurde, sobald wie möglich auf die Tagesordnung setzen und einen Gesetzesbeschluss erlassen solle, wonach sämtliche Juden den Juden von Bordeaux, Bayonne und Avignon gleichgestellt werden.
Aber eine derartige Erklärung müsste der Nationalversammlung nicht eher unterbreitet werden, als bis sie an alle 60 Bezirke von Paris versandt und durch Stimmenmehrheit bewilligt wird.« Der Redner erreichte sein Ziel vollauf. Nach seiner Rede schwanden Unschlüssigkeit und Schwanken dahin. Nach einer kurzen Debatte nahm die Versammlung der Kommune folgende Resolution an:

  1. Ein öffentliches Zeugnis über die gute Aufführung, den Patriotismus und die persönlichen Tugenden der Juden abzugeben;
  2. den Wunsch der Pariser Bevölkerung, dass den Juden alle Rechte aktiver Bürger zuerkannt werden sollen, öffentlich bekanntzugeben.

Um diesem Akt den Charakter einer Volksabstimmung zu geben, beschloss die Versammlung der Kommune, ihre Resolution sämtlichen Bezirken der Stadt Paris mitzuteilen und nach Erhalt ihrer Einwilligung der Nationalversammlung vorzulegen. Die Resolution wurde von dem in der Geschichte der Revolution berühmt gewordenen Pariser Maire Bailly und dem Vorsitzenden Mulot unterzeichnet. Godard dankte der Versammlung im Namen der Pariser Juden und schloss seine Rede mit der Wiederholung des historisch gewordenen Ausspruches des Maire Bailly: »Segnen wir die Revolution, die uns alle zu Brüdern macht!« Die Pariser Stadtverwaltung konnte alsbald ihren Beschluss in Erfüllung bringen.
Die eigens zu diesem Zwecke einberufenen Bezirksversammlungen beeilten sich, ihre Stimmen für die Emanzipation zu erheben. Von 60 Bezirken äußerten sich 53 in diesem Sinne; die Stellungnahme von 6 Bezirken blieb unbekannt, und nur ein einziger Bezirk (Maturin) schlug vor, mit der Emanzipation der Juden so lange zu warten, bis die diesbezüglichen Äußerungen der Provinzversammlungen einlaufen. Es stand außer Zweifel, dass fast »ganz Paris« sich für die Gleichberechtigung der Juden aussprach. Am 25. Februar erschien eine aus dem Vorsitzenden Mulot, Godard, dem Abbe Bertolio und anderen bestehende Deputation der Pariser Kommune vor der Nationalversammlung. Die Deputation überreichte der gesetzgebenden Versammlung eine schriftlich abgefasste Resolution über die Notwendigkeit, sich mit der Erörterung der Judenfrage zu beeilen und diese im Sinne der Gewährung der aktiven Bürgerrechte an die Juden zu lösen.
Das Verlesen der Resolution wurde von einer warmen Rede des Präsidenten der Kommune, Abbe Mulot, begleitet. Talleyrand-Perigord, der an diesem Tage den Vorsitz in der Nationalversammlung führte, antwortete der Deputation der Kommune mit folgenden Worten:
»Die National-Versammlung hat es sich zur heiligen Pflicht gemacht, allen Menschen ihre Rechte wiederzugeben. Sie hat alle die Bedingungen bekanntgegeben, die erforderlich sind, um die aktiven Bürgerrechte zu erwerben. In eben diesem Geiste und gemäß diesen Bedingungen wird sie in aller Gerechtigkeit die von euch in solch rührender Form zugunsten der. Juden vorgebrachten Argumente prüfen.«

Als jedoch tags darauf der Herzog von Biancourt an die Nationalversammlung mit der Forderung herantrat, einen Tag für die Behandlung der Frage der staatsbürgerlichen Stellung der Juden festzusetzen, erklärte einer der Abgeordneten folgendes: »Die jüdische Frage ist ganz gewiss eine wichtige Angelegenheit, aber wir haben auf unserer Tagesordnung noch wichtigere Fragen, die alle Bürger angehen. Was wir hinsichtlich der Juden beschließen werden, wird nur die Interessen eines einzigen Volksteiles berühren; hingegen sind die Festlegung der Gerichtsordnung, die Bestimmung der Stärke und die Zusammensetzung des französischen Heeres und die Regelung des Finanzwesens – drei Fragen, an denen das ganze Band interessiert ist und die unsere ganze Zeit in Anspruch nehmen müssen. Und daher beantrage ich: die Judenfrage von neuem zu vertagen.« Der Antrag wurde angenommen. Die Lösung der Judenfrage in der Nationalversammlung wurde wiederum bis zur Lösung der nächsten an der Tagesordnung stehenden Fragen verschoben.

Der weitere Kampf und die Proklamierung der Emanzipation.

Die Juden und ihre liberalen Freunde, die sich mit der abermaligen Vertagung der Lösung der Judenfrage gegen ihren Willen abfinden mussten, trösteten sich mit dem Gedanken, dass, wenn die sofortige Inangriffnahme dieser Lösung von neuem verhindert wurde, es diesmal einzig und allein an der Notwendigkeit der Behandlung nächstliegender allgemeiner Fragen gelegen habe, und dass folglich die Judenfrage von der Tagesordnung der Verhandlungen nicht gänzlich gestrichen sei. Aber die judenfeindliche Partei hatte ihre bestimmte Taktik.
Sie vereitelte jeden neuen Versuch, die Judenfrage in der Nationalversammlung aufzurollen, indem sie immer neue Anlässe zu Verschleppungen ersann und zugleich ihre judenfeindliche Agitation außerhalb des Parlaments zwecks Beeinflussung der Abgeordneten verstärkte. Als aber endlich am 15. April 1790 am Schlüsse der Osterferien die Reihe an die Judenfrage kam, erklärte der elsässische Abgeordnete Reubell, dass im Elsass eine neue judenfeindliche Bewegung im Anzuge sei, die sich im Falle der Proklamierung der Emanzipation in Gewalttätigkeiten gegen die Juden entladen werde. Ihm antwortete ein liberaler Abgeordneter, dass es gerade diese ewigen Vertagungen seien, die die Juden der Gefahr gewalttätiger Angriffe seitens des Pöbels aussetzen. »Die Vertreter der jüdischen Bevölkerung«, fügte er hinzu, »versichern, dass ihre Glaubensgenossen nur dann ein ruhiges Dasein führen werden, wenn die Versammlung sich einmal endgültig über ihr Schicksal ausspricht. Und auch im Elsass selbst hat die Erwartung der Emanzipation eine derartige Spannung erreicht, dass einige Gemeinden, die mit der Verteilung des ihnen gehörenden Grund und Bodens begonnen haben, nahe daran sind, auch den Juden (denen der Grundbesitz verboten war) Grundstücke zuzuweisen.« Dieser Stimme der Wahrheit schenkte die Versammlung kein Gehör und beschloss, die Judenfrage einem Verfassungsausschuss zu übergeben. Aber das immer wieder zurückgestoßene Schreckgespenst der Judenfrage tauchte tags darauf wieder in der Nationalversammlung auf. Im Elsass wurde eine kräftige judenfeindliche Agitation betrieben, deren Herd sich in Paris, im Kreise der reaktionären Abgeordneten dieser Provinz befand. Im brennenden Verlangen, die Proklamierung der Emanzipation des verhassten Stammes hintanzuhalten, setzten die »Schwarzen« in Paris und ihre Helfershelfer in der Provinz alle Hebel in Bewegung, um den Schein einer Volkserhebung gegen die Juden hervorzurufen. Die Agitation wurde energisch betrieben. Judenfeindliche Flugblätter und Broschüren wurden überall verbreitet; die reaktionäre und klerikale Presse wimmelte von marktschreierischen und verleumderischen Artikeln, von giftgeschwollenen Feuilletons und Versen gegen die Juden und ihre liberalen Verteidiger. Die Namen eines Mirabeau, eines Gregoire, eines Talleyrand und Bailly wurden von feilen Zeitungsschimpfern schonungslos in den Schmutz gezerrt, indem der eine als »von den Juden bestochen«, der andere als »Judas«, der dritte wiederum als »Beschneidungslustiger« verschrien wurde. Als die »Gesellschaft der Verfassungsfreunde« in Straßburg Schritte zur Unterstützung der jüdischen Gleichberechtigung unternahm, bemächtigte sich der »Schwarzen« eine heftige Erregung. Sie trommelten eine große Versammlung »aktiver Bürger« zusammen, um die Judenfrage zu behandeln; nachdem man die liberalen Redner, die für die Emanzipation einzutreten versuchten, ausgepfiffen oder mit Gewalt entfernt hatte, erzielte man eine »Einigung«.

Die von der Versammlung angenommene Resolution lautete, dass die in Straßburg sesshaften christlichen Bürger, vorwiegend Kaufleute, «sich in der Befürchtung einer Konkurrenz seitens der Juden gegen die Gewährung der Gleichberechtigung an diese aussprechen (8. April).

Diese offenmütige Resolution des »Fanatikerkongresses« wurde, mit Tausenden von Unterschriften versehen, an die Nationalversammlung geschickt. Eine gleichlautende Resolution ging auch von den Einwohnern der Stadt Kolmar zu. Die Propaganda blieb nicht ohne greifbare Folgen; Judenpogrome und Metzeleien lagen schon in der Luft.
Der unermüdliche Verfechter jüdischer Interessen, Cerf-Berr, teilte der Nationalversammlung mit, dass in der Provinz eine offene Agitation zur Aufhetzung des Pöbels gegen die Juden betrieben werde. Was die lokalen Behörden beträfe, so hätten diese nicht nur keine Maßnahmen zur Vorbeugung von Tätlichkeiten getroffen, sondern ermutigten alle gewalttätigen Elemente durch eine rohe Behandlung der Juden und durch das Betonen ihrer Rechtlosigkeit. In der Sitzung der Nationalversammlung wurde folgende Erklärung einer Elsässer Stadtverwaltung verlesen: »Die Ungewissheit der Tage der Juden macht, dass sie Gefahren ausgesetzt sind, die nur durch einen Beschluss der Versammlung verhindert werden können.« Angesichts des Ernstes der vorgebrachten Begründung beantragte der radikale Abgeordnete Röderer, das Dekret in folgender Fassung bekanntzugeben:
»Die Nationalversammlung erklärt von neuem die in Elsass und anderen Orten sesshaften Juden als unter dem Schutze des Gesetzes stehend, untersagt es jedem, sich an ihren Interessen zu vergreifen, und befiehlt den städtischen Magistraten und der Nationalgarde, von allen ihnen zu Gebote stehenden Machtmitteln zum Schutze der Juden und ihres Vermögens Gebrauch zu machen« (16. April). Diese Formel wurde von der Versammlung fast einstimmig angenommen. Nach zwei Tagen wurde das Dekret auch vom König unterzeichnet. Die Pogromgefahr wich, aber die judenfeindliche Partei erreichte ihr Ziel: da die Nationalversammlung eine Verschärfung der Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen der Bevölkerung vermeiden wollte, erachtete sie die Vertagung der Lösung der Judenfrage als einen im Interesse der Juden selbst liegenden Akt politischer Klugheit. Durch diese Erwägung beruhigte die Versammlung ihr Gewissen, als sie nach zwei Wochen wiederum eine günstige Gelegenheit zur Lösung der Judenfrage verpasste.

Man behandelte einen Gesetzentwurf wegen Gewährung von aktiven Bürgerrechten an jede Person, selbst an einen Ausländer, der nicht weniger als fünf Jahre in Frankreich ansässig war (30. April). Reubell forderte nun, in den Gesetzentwurf folgende Klausel aufzunehmen: »Die Frage wegen der staatsbürgerlichen Stellung der Juden, die als vertagt anzusehen ist, wird aber dadurch nicht berührt.« Die verräterische Klausel wurde angenommen – und selbst die liberalen Abgeordneten dachten anscheinend nicht daran, wie gekränkt sich die Juden durch diesen Beschluss fühlen mussten, der das Naturalisierungsrecht allen Ausländern, die auf einen fünfjährigen Aufenthalt in Frankreich zurückblicken konnten, gewährte, es aber einer Gruppe von Einheimischen vorenthielt, deren Vorfahren noch zu den Einwohnern des alten Galliens und der Frankenmonarchie gehört hatten. Nur eine einzige Erleichterung wurde den Juden so nebenbei gewährt: Im Zusammenhänge mit der allgemeinen Steuerreform schaffte die Nationalversammlung alle die demütigender und drückenden Steuern ab, die von den Juden in Metz und anderen Orten als Wohnrecht-, Schutz- und Duldungssteuer erhoben wurden. Die Verfechter der jüdischen Interessen begannen die Geduld zu verlieren.

Am 9. Mai 1791 richtete eine Gruppe Pariser Juden eine Adresse an die Nationalversammlung, die in einem eher protestierenden, als bittenden Ton gehalten war. »Die Nationalversammlung«, heißt es darin, »hat ein Dekret erlassen, kraft dessen alle Ausländer, die auf einen fünfjährigen Aufenthalt in Frankreich zurückblicken können, sich der Rechte französischer Staatsbürger erfreuen dürfen. Aus welchen fatalen Gründen werden die Überbringer dieses als weniger würdig angesehen als die Ausländer?
Warum werden sie von allen Rechten ausgeschlossen, die von der Natur verliehen und durch die Beschlüsse der Nationalversammlung den Menschen zurückerstattet worden sind? Will man sie (die Bittsteller) als Juden betrachten, so bilden sie doch einen Teil der französischen Staatsbürger, da sie allen an diese gestellten Bedingungen genügen und alle Bürgerpflichten erfüllen; und will man sie als Ausländer betrachten, wiewohl ihr überwiegender Teil in Frankreich geboren ist, so sind sie doch kraft des Gesetzes schon französischer Staatsbürger geworden, da sie seit vielen Jahren in der Hauptstadt ansässig sind. In dem einen wie dem anderen Falle dürfen sie sich aller aus diesem Titel erwachsenden Rechte erfreuen.« Dieser Protest teilte das Schicksal aller ihm vorangegangenen Bittschriften und Erklärungen: er wurde dem Verfassungsausschuss überwiesen.

Nach zwei Wochen wurde ein letzter Versuch gemacht, auf die zögernde Nationalversammlung vermittels der Pariser Kommune einen Druck auszuüben.
Infolge des Dekrets vom 7. Mai 1791 über die Freiheit des öffentlichen Gottesdienstes erhielten die Pariser Juden die Möglichkeit, in einem der öffentlichen Gebäude ein Bethaus in offizieller Weise zu eröffnen. Diese Gelegenheit wurde von dem unermüdlichen Anwalt der Juden, Godard, aufgegriffen. Er wandte sich an den Rat der Kommune mit einem Gesuch, in welchem er dem Wunsche Ausdruck gab, dass auf die Proklamierung der Freiheit in Sachen der Religion auch eine solche in staatsbürgerlicher Hinsicht folgen möge, da die eine ohne die andere nicht denkbar sei. »Können sie denn der Rechte und des Titels von Bürgern beraubt bleiben, nachdem sie kraft des Gesetzes das Recht, Bethäuser zu errichten, erhalten haben?
Können sie denn nur in ihren Synagogen Bürger sein, außerhalb derselben aber Ausländer und Sklaven?
Die Glaubensfreiheit bleibt ein leeres Wort, wenn sie bürgerliche Entrechtung als Strafe nach sich zieht. Nein, wenn ihr die Menschen zur Höhe der religiösen Freiheit erhoben habt, so habt ihr sie zugleich zur staatsbürgerlichen Freiheit erhoben. Eine halbe Freiheit gibt es ebenso wenig wie eine halbe Gerechtigkeit.«

Nachdem die Pariser Kommune in der Sitzung vom 28. Mai dieses Gesuch angehört hatte, nahm sie folgende Resolution an: »Überzeugt von der Gerechtigkeit der von den Juden mit solch lobenswerter Beharrlichkeit erneuerten Forderung; genau unterrichtet über die Tatsachen, auf denen diese Forderung beruht und die die provisorischen Vertreter der Stadt schon einmal veranlasst hatten, sie persönlich der Nationalversammlung vorzulegen, beschließt die Munizipalversammlung: der Nationalversammlung von neuem zu schreiben, ihr das Gesuch der Juden und den Wunsch der Munizipalität zu unterbreiten und sie zu bewegen, die Folgen all der segensreichen Prinzipien, die sie soeben durch die Verkündung der Freiheit der religiösen Überzeugung von neuem geheiligt hat, auch auf die Juden der Hauptstadt auszudehnen.« Die Resolution, versehen mit der Unterschrift des Pariser Stadtpräfekten Bailly, wurde an die Nationalversammlung abgeschickt. Aber in dieser stürmischen Zeit hatte man an andere Dinge zu denken. Im Sommer 1791, inmitten der politischen Besorgnisse, die durch die » Flucht Ludwigs XVI. nach Varenne hervorgerufen waren, hatte man die jüdische Frage vergessen. Das Land erlebte höchst unruhige Tage, indem es zwischen Royalismus und Republik unschlüssig hin und her schwankte; eine neue Phase der großen Revolution war in Paris im Entstehen begriffen – und die nebensächlicheren Fragen des staatlichen Lebens traten zeitweilig in den Hintergrund. Endlich aber war der Augenblick gekommen, wo eine weitere Verschiebung der Lösung der Judenfrage unmöglich wurde. Nach einer zweijährigen Arbeit brachte die Konstituante den Text der Verfassung zum Abschluss, und der König bestätigtes (14. September).

Die Gleichberechtigung der Juden ging aus den allgemeinen Grundlagen der Verfassung, die die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz festsetzte, als logische Notwendigkeit hervor. Es blieb nur übrig, diese Gleichberechtigung durch einen formellen Gesetzesbeschluss zu besiegeln und durch einen besonderen gesetzgeberischen Akt zu verkünden. Einer neuen Erörterung der Frage bedurfte es nicht, nachdem die Nationalversammlung die Argumente für und wider die Emanzipation während zweier Jahre in Reden, Bittschriften, Adressen und Resolutionen verschiedener Institutionen und gesellschaftlicher Gruppen zur Kenntnis genommen hatte.
An einem der letzten Tage der Nationalversammlung, in der Sitzung vom 27. September 1701. bestieg der Abgeordnete Duport die Rednertribüne und sagte: »Ich meine, dass die von der Verfassung ein für alle Mal bestimmte Glaubensfreiheit, es nicht mehr gestattet, irgendwelchen Unterschied zwischen Menschen verschiedener Glaubensbekenntnisse hinsichtlich ihrer politischen Rechte zu machen. Die Frage wegen der politischen Stellung der Juden wurde vertagt, während Türken, Muselmänner und Angehörige aller Sekten in Frankreich sich bereits im Besitze der politischen Rechte befinden. Ich fordere daher die Aufhebung dieser Vertagung und als Folge davon die Proklamierung eines Gesetzesbeschlusses, kraft dessen die Juden in Frankreich in den Besitz der Rechte aktiver Bürger gelangen sollen.«

Die Erklärung Duports wurde von der Versammlung als eine Forderung aufgenommen, die keine weiteren Einwände zuließ. Der Judenfeind Reubell machte den Versuch, gegen den Antrag Duports aufzutreten, als der Abgeordnete Regnault sich von seinem Sitze erhob und rief: »Ich fordere, dass alle diejenigen, die es nunmehr wagen, gegen diesen Antrag (die Gleichberechtigung der Juden) aufzutreten, zur Ordnung gerufen werden, denn ein Angriff auf diesen Antrag ist zugleich ein Angriff auf die Verfassung.« Dieser zornige Ruf eines Konstitutionalisten verfehlte « seine Wirkung nicht: die Rechte wurde mäuschenstill, und die Mehrheit schloß sich dem Anträge Duports an. Im selben Augenblick wurde ein kurzer, aber eindringlicher Gesetzesbeschluss verfasst, der in der darauffolgenden Sitzung (vom 28. September) durch einige Wendungen, den Bemerkungen der Abgeordneten entsprechend, ergänzt wurde: »In Anbetracht des Umstandes, dass die für den Stand eines französischen Bürgers und für den Besitz der Rechte aktiver Bürger erforderlichen Bedingungen durch die Verfassung festgelegt sind; dass jeder, der den genannten Bedingungen genügt, einen Bürgereid leistet und alle von der Verfassung ihm auferlegten Verpflichtungen erfüllt, ein Anrecht auf die ihm von der letzteren gewährten Vorteile besitzt, hebt die Nationalversammlung alle Aufschiebungen, Vorbehalte und Ausnahmen auf, die in den früheren Beschlüssen hinsichtlich der Juden, die einen Bürgereid geleistet haben, enthalten waren; dieser Eid ist nur als ein Verzicht auf alle die Privilegien und Sondergesetze aufzufassen, die früher für sie gegolten haben.«

Die judenfeindlichen Abgeordneten in der Nationalversammlung konnten auch in diesem letzten Augenblick den Triumph der Gleichberechtigung nicht ruhig hinnehmen. Da sie keine Möglichkeit vor sich sahen, diesen Akt zu verhindern, so suchten sie wenigstens den Juden die Freude etwas zu vergällen. Als in der Sitzung vom 28. September die Klauseln zu dem von Duport verfassten Beschluss zur Verhandlung kamen, machte Reubell den Versuch, die Kammer durch das Gespenst einer »Volkserhebung, die durch diese Beschlüsse im Elsass hervorgerufen werden würde«, einzuschüchtern. Um Ausschreitungen gegen die Juden vorzubeugen, beantragte er, die christliche Bevölkerung im Elsass für die jüdische Gleichberechtigung zu entschädigen, und zwar auf folgende Weise: da die Verschuldung der christlichen Bevölkerung an die jüdischen Gläubiger sehr groß sei (der Betrag dieser Schulden im Elsass soll die Höhe von 12—15 Millionen Livres erreicht haben), müsse die Regierung die Liquidierung dieser Schulden auf dem Wege einer Kürzung des Schuldbetrages um zwei Drittel vornehmen; mit dieser Maßnahme hätten sich angeblich auch die Juden einverstanden erklärt; und daher seien die lokalen Behörden zu beauftragen, an alle jüdischen Gläubiger die Forderung ergehen zu lassen, binnen eines Monats genaue Angaben über die ausgeliehenen Summen vorzulegen; dann müsse man Erkundigungen über die Zahlungsfähigkeit der Schuldner einziehen, einen Liquidierungsentwurf ausarbeiten und das gesamte Material nach Paris schicken, um es der gesetzgebenden Versammlung zu unterbreiten. Auf diese Weise – versicherte Reubell – würde die Kammer zeigen, dass sie die Volksinteressen wirklich wahrnimmt und die christliche Bevölkerung im Elsass mit der jüdischen Gleichberechtigung versöhnen will. Der Reubellsche Antrag wurde von der Nationalversammlung angenommen…

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die auf dem «Boden der Kreditoperationen entstandenen, verworrenen wirtschaftlichen Verhältnisse eine offizielle Einmischung und Regelung dringlich erforderten, damit beide Teile aus diesem finanziellen Sumpfe, dem Erbe des alten Regimes herauskämen. Und doch musste das Zusammenfallen eines derartigen Beschlusses mit dem feierlichen Emanzipationsakt einen deprimierenden Eindruck machen. Beide Gesetzesbeschlüsse – der über die Gleichberechtigung und der über die Liquidierung – wurden an ein und demselben Tage angenommen, und man konnte sich des Eindruckes nicht erwehren, als sei die Gleichberechtigung den Juden als Entgelt für die zwangsmäßige Tilgung ihrer Guthaben verliehen worden.

Patriotismus der Freiheit; Opfer der Schreckensherrschaft.

Seit den ersten Revolutionstagen waren viele Juden, und insbesondere die von der Freiheitsbewegung hingerissenen Pariser Juden von jenem Patriotismus ergriffen, der zu jener Zeit die Liebe zur Freiheit und zur Heimat der Freiheit, zum Lande, das als erstes die Rechte des Bürgers und des Menschen verkündet hatte, bedeutete. (Als Patrioten wurden bekanntlich die Anhänger der Revolution bezeichnet.) In den neuen Losungen der »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« hörten die Nachkommen der alten Propheten heimatliche Töne, die jahrhundertelang vom Klirren der Sklavenketten übertönt geworden waren…

Dieser mächtige Einfluss der revolutionären Atmosphäre im Zusammenhang mit der vorangehenden Einwirkung der aufklärerischen Ideen des XVIII. Jahrhunderts erklärt den so raschen Eintritt der Menschen, die gestern noch in sich verschlossen und staatsbürgerlich isoliert lebten, ins politische Leben.
Die regste politische Aktivität entfalteten natürlich die Pariser Juden. Welchen Grad diese Aktivität erreicht hatte, ist daraus zu ersehen, dass die kleine jüdische Kolonie von Paris schon im ersten Revolutionsjahr 100 Freiwillige in die Nationalgarde stellte.

Zur selben Zeit traten die Juden auch den verschiedenen einflussreichen politischen Klubs, wie dem der Jakobiner und der Feuillants als Mitglieder bei. Sie beteiligten sich auch an den Sektions- und Bezirksversammlungen der Pariser Bürger. An diesen Herden politischer Tätigkeit erwarben sich die jüdischen Politiker die Erfahrung und die Energie, die sie im Kampfe für ihre Gleichberechtigung, in ihrer außerparlamentarischen Agitation und in der unablässigen Beeinflussung der Nationalversammlung, der Pariser Kommune und der Presse, zeigten. In der Presse hatten die Juden nur wenige Vertreter. Der tätigste unter ihnen war der alte Kämpfer für die Sache der Emanzipation der bereits genannte patriotische Schriftsteller Salkind Hurwitz.
Seine Aufsätze in der radikalen Pariser Presse (»Chronique de Paris« u. a. m.), die er mit »Polonais« neben seinem Namen unterschrieb, lenkten die Aufmerksamkeit auf sich durch ihren originellen, scharfsinnigen Stil, einen Vorläufer des sarkastischen Stiles Börnes.

Als die jüdische Frage in der Nationalversammlung vertagt wurde, veröffentlichte Hurwitz einen Brief in der »Chronique de Paris« (am 22. Februar 1790), in dem er die »Kasuisten aller Religionen« in ironischer Weise ersuchte, folgenden ihn quälenden Zweifel zu lösen: einerseits hätte er, der Verfasser, den »Bürgereid« geleistet, dass er die auf der Anerkennung der Menschenrechte beruhende Verfassung respektieren werde; andererseits aber verpflichte ihn der Beschluss der Nationalversammlung, diese selben Rechte solchen Menschen nicht zuzuerkennen, die ihren Gottesdienst in hebräischer Sprache verrichten und das Glück, in Bordeaux oder Avignon geboren zu sein, nicht haben.
Hurwitz beantwortete auch die Parlamentsreden des Abbe Maurv und die Auslassungen der klerikalen Presse mit bissigen polemischen Aufsätzen. Als die durch das Dekret über die Enteignung der Kirchengüter aufgebrachte katholische Geistlichkeit gegen die Juden zu hetzen begann, ließ Hurwitz einen satirischen Aufsatz erscheinen, in welchem er die Kundigen bat, ihm, dem Baien »einige physische und moralische Erscheinungen aus der Naturgeschichte der Geistlichkeit« klarzumachen.
Nach der Proklamierung der Emanzipation schwoll die patriotische Stimmung der Juden noch mehr an. Begeisterte Briefe und Dankhymnen Befreiter erschienen in den Zeitungen.
Ein gewisser Samuel Levy, der sich den sonderbaren Titel: »Fürst der Gefangenschaft, Oberhaupt der westlichen und östlichen Synagogen« zugelegt hatte, schrieb folgenden Brief, der mit besonderer Rührung gelesen wurde: »Frankreich, das als erstes die Schmach Judas beseitigte, ist unser Palästina; seine Berge sind unser Zion, seine Flüsse – unser Jordan. Fasset uns das lebendige Wasser seiner Quellen trinken: es ist das Wasser der Freiheit…

Die Freiheit hat nur eine Sprache, und alle Menschen kennen ihr Alphabet. Die Nation, die mehr als alle anderen geknechtet war, wird für die Nation beten, die die Fesseln der Sklaven löste. Frankreich ist die Zuflucht der Bedrängten«… Viele Juden riefen beim Reisten des Bürgereides die revolutionäre Losung jener Zeit: »Als Freie leben oder sterben.« Ihre Anhänglichkeit an das Vaterland bemühen sich die Juden durch »patriotische Gaben«, d. h. durch reiche Spenden für gemeinnützige Zwecke zu bezeugen. Solche Spenden wurden in jenem Jahre der Finanzkrise und der Kraftanspannung des ganzen Randes im Kriege gegen die europäische Koalition (1792—1793) sehr geschätzt.

Die Spenden bestanden aus barem Geld und auch Gegenständen: zuweilen gab man das Letzte hin; für Kriegszwecke wurde auch die Ausstattung einiger Bethäuser gespendet. Der Krieg erheischte auch Opfer an Blut, und jüdische Soldaten zogen an die Grenze unter die Kugeln der Preußen und Österreicher. Die Grenzgebiete Elsass und Lothringen befanden sich in der Kriegszone, und die Juden teilten mit allen anderen Bürgern die Sorgen und Lasten der unruhigen Zeit. Im Jahre 1793 zählte die französische Armee ungefähr 2000 Juden. Dies hinderte übrigens die judenfeindliche Einwohnerschaft der Stadt Nancy nicht, in einem von ihr im selben Jahre gefassten Beschlüsse zu erklären, dass die Vertreibung sämtlicher Juden aus Frankreich eine wünschenswerte Maßregel wäre.

Als dieser Beschluss dem Jakobinerklub in Paris mitgeteilt wurde, dekretierte er folgendes: »Die Republik kennt nicht das Wort Jude, denn dieses Wort bezeichnet im gegenwärtigen Augenblick nicht ein Volk, sondern eine Sekte; nun erkennt die Republik keine Sekten an und hat nicht die Absicht, Sektierer auszuweisen, es sei denn, dass letztere sich eine Verletzung der gesellschaftlichen Ordnung zuschulden kommen lassen«… Unwillkürlich drängt sich der Gedanke auf: was wäre, wenn die Juden in der Eigenschaft als Volk, als Nation anerkannt worden wären? … Die jähen Schwenkungen der Revolution nach der Seite des Despotismus und der Schreckensherrschaft Ern in der Zeit des Konvents von 1793—1794 trafen zuweilen auch die jüdischen Bürger sehr empfindlich. Das Dekret des Konvents vom November 1793 über die Einführung des »Kultus der Vernunft«, anstatt des katholischen Gottesdienstes erstreckte sich in der Praxis auch auf die jüdische Religion. All jene Szenen freiwilliger oder erzwungener Lossagung von der Religion, die sich in ausgedehntem Maße unter den katholischen Bürgern abspielten, wiederholten sich auch unter den Juden. An den im Revolutionskalender festgesetzten Feiertagen, den »Dekaden«, führten die Pariser jüdischen Schullehrer Ahron Polak und Jakob Kohen ihre Schüler in den »Tempel der Vernunft«, in den die katholische Notre-Dame-Kirche verwandelt war. Manche jüdischen Bethäuser stellten ihre »Beute«, d. h. die wertvollen Gottesdienstutensilien dem Konvent oder den städtischen Kommunen zur Verfügung; sie folgten hierin dem Beispiel vieler katholischer Kirchen, dieser »Lügenbuden«, wie man sie zu jener Zeit nannte.

Die Deputation einer der Pariser Synagogen gab am Gitter des Konvents die Erklärung ab: »Unsere Vorfahren haben uns Gesetze überliefert, die vom Gipfel eines Berges (Sinai) verkündet worden waren; die Gesetze, die ihr Frankreich gebet, gehen von einem Berge aus, den wir nicht minder verehren. Wir sprechen euch dafür unseren Dank aus«… Ein »jüdischer Geistlicher« Salomon Hesse, überreichte einer Sektionsversammlung der »Freunde des Vaterlandes« in Paris seinen silbergestickten Gebetmantel und erklärte, dass er »keinen anderen Gott als den der Freiheit, und keine andere Religion als die der Gleichheit« kenne. Ähnliche Szenen spielten sich auch in der Provinz ab. In Avignon lieferten die »unter dem Namen Juden bekannten Bürger« alle »Maschinen aus Gold und Silber«, deren sie sich bei ihrem Gottesdienst bedienten, an die Kreisverwaltung ab.

Im rabbinischen Zentrum Lothringens, Metz, wurden die »Gesetzestafeln Mosis« und die Thorarollen aus Pergament vernichtet. »Die auf Häuten geschriebenen Gesetze dieses gewandten Betrügers (Mosis)«, erklärte triumphierend der »Republikanische Kurrier«, »werden nun zur Bespannung von Trommeln dienen, um Attacken zu schlagen und die Mauern des neuen Jerichos umzuwerfen.«
Und das Blatt versicherte, dass sich unter den Juden kein Mensch darüber grämte, außer einigen »von dummen Vorurteilen befangenen Weibern«. In Nancy mussten die Juden auf Befehl eines Munizipalbeamten ihre »mystischen Pergamente« und die goldenen und silbernen Verzierungen und Embleme ihres Kults abliefern. In Paris forderten die sansculottischen Blätter, dass man den Juden verbieten sollte, ihre Neugeborenen zu beschneiden; der Konvent schenkte aber dem keine Beachtung. Es wurden auch Versuche gemacht, den Juden die Sabbatfeier zu verwehren, in Anbetracht dessen, dass doch ein Bürgersabbat, die Dekade, als Ruhetag festgesetzt sei; an einigen Orten zwang man jüdische Händler, ihre Läden an Sabbaten offen zu halten.

In Metz hatten die Juden große Angst auszustehen, als sie ihre Passahbrote (Mazzes) buken, da sie befürchteten, wegen »Aberglaubens« angezeigt und angeklagt zu werden. Eine Frau erwirkte aber bei der Behörde die Erlaubnis, das Passahfest als Gedenktag der politischen Befreiung der israelitischen Nation zu feiern. Es kamen auch Fälle von Vergewaltigungen vor: fanatische Anhänger des »Kultes der Vernunft« und der aus Rand und Band geratene Pöbel drangen in die Synagogen ein, verbrannten die Thorarollen und die heiligen Bücher (»gaben ihre lügenhaften Bücher dem Feuer patriotischer Scheiterhaufen preis« – wie die offiziellen Berichte lauteten) und schlossen die Synagogen; einige Rabbiner im Elsass hatten Verfolgungen zu erdulden. Im Frühjahr 1794 wurde die »Religion der Vernunft« vom Robespierrischen deistischen Kult des Höchsten Wesens abgelöst: die Religionsverfolgungen hörten auf – aber die Schreckensherrschaft wütete weiter. Die Revolution verschlang ihre eigenen Kinder: unter dem Messer der Guillotine fielen hintereinander die Köpfe der Girondisten, Hebertisten, Dantonisten; die Reihe kam an die Partei Robespierres. Da die Juden sich an verschiedenen politischen Parteien und Klubs beteiligten, so wurden sie auch vom roten Flügel des Terrors getroffen. Schon die Dekrete des Konventes vom Jahre 1793 über die Verhaftung aller, die sich einer unfreundlichen Haltung gegenüber der Republik verdächtig machten, und über die Ausweisung aller »Aristokraten« und Ausländer versetzten viele Pariser Juden in eine unerträgliche Lage.
Die einen wurden auf den Verdacht hin verhaftet, dass sie fremdländischer Herkunft seien, die anderen unter der Anklage eines »verstockten Aristokratismus«, die dritten – wegen der Zugehörigkeit zu der Partei, die im gegebenen Augenblick von den zuständigen Revolutionsausschüssen dem Untergange geweiht war. Der jüdische Politiker aus Bordeaux, der Girondist Furtado musste flüchten, um dem traurigen Los der Idealisten der Revolution, der Girondisten zu entgehen. Verhaftungen und Einsperrungen wurden des Öfteren auf falsche Angaben hin vorgenommen; man unterzog die Verhafteten und Eingesperrten einem gerichtlichen Verhör, worauf sie in den meisten Fällen freigelassen wurden; zuweilen aber hatten die Verhaftungen ernste Folgen. Einige jüdische Bankiers und Kaufleute aus Bordeaux wurden zu beträchtlichen Geldbußen verurteilt, weil sie früher in Beziehungen zum königlichen Hof und der Aristokratie gestanden hatten oder auch einen nicht genügenden Eifer für die Sache der Revolution an den Tag legten.

Der Bankier Peixotto wurde neben allen diesen Versündigungen auch noch des Versuches beschuldigt, unter dem alten Regime den Titel eines Adligen zu erlangen, wobei er sich auf seine Abstammung vom biblischen Geschlecht Levi berufen hätte. Auf Grund solcher kuriosen Beschuldigungen verurteilte ihn die Kriegskommission zu Bordeaux zu einer Geldbuße im Betrage von 1200 000 Livres.

Nicht immer begnügte man sich aber mit Geldbußen: mehrere jüdische Köpfe kamen unter das Messer der Guillotine. Jakob Pereir a bestieg als einer der ersten das Blutgerüst. Südfranzose von Geburt, übersiedelte er im Jahr 1790 nach Paris, wo er eine Tabakfabrik gründete und sich in den politischen Strudel der Hauptstadt stürzte.
Er schloss sich den extremen linken Parteien an und wurde zu einem hervorragenden Repräsentanten des Jakobinerklubs. Als die »Religion der Vernunft« offiziell eingeführt wurde, beteiligte sich Pereira in Gemeinschaft mit dem Kosmopoliten Anacharsis Klotz, dem »Redner des Menschengeschlechtes« an einer antikatholischen Demonstration, die ganz Frankreich in Aufregung versetzte. Beide Jakobiner kamen zum Pariser Bischof Gobel und forderten ihn auf, vor dem Konvent zu erscheinen, um sich da von seinen »Verirrungen« öffentlich loszusagen, d. i. sein geistiges Amt niederzulegen.
Der eingeschüchterte Bischof begab sich nach einigem Widerstand vor den Konvent, wo er die Erklärung abgab, dass er auf sein Amt verzichte. Er legte das Kreuz ab und setzte die rote Mütze auf, die ihm einer von den Umstehenden unter dem begeisterten Beifall des gesamten Konvents auf den Kopf stülpte. Die Beteiligung Pereiras an dieser Komödie besiegelte sein Schicksal. Als Robespierre bald darauf, nach der Abschaffung des Vernunftkultes einen Feldzug gegen die »Missionare der atheistischen Religion« eröffnete und einen Prozess gegen die Terroristen aus der Hebertschen Partei anstrengte, geriet auch Pereira in Gemeinschaft mit Anacharsis Klotz unter die Angeklagten. Nach einer fünfmonatlichen Haft, wurde Pereira wegen angeblicher »Beteiligung an einer die Vernichtung der nationalen Vertretung (des Konventes), die Ermordung ihrer Mitglieder und den Sturz der Republik bezweckenden Verschwörung« vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt. Er wurde im gleichen Wagen mit Hebert, Klotz und den anderen auf den Richtplatz geschafft.
Unter den lauten Schreien der Menge: »Es lebe die Republik« fiel der Kopf des jüdischen Demagogen. Einen Monat später kam der Prozess der Dantonisten zur Verhandlung, und unter diesen befanden sich zwei Angeklagte jüdischer Abstammung: die Brüder Frey.

Aus Österreich, wo ihr Vater, ein reicher Armeelieferant, zum Christentum übergetreten war, übersiedelten die Brüder Julius und Emanuel Frey samt ihrer jugendlichen Schwester Leopoldine nach Paris, um die »Wohltaten der Freiheit« zu genießen. Hier trat die Familie Frey in nähere Beziehungen zu den Montagnarden, insbesondere zu dem rohen Demagogen Chabeau, einem ehemaligen Kapuziner. Um ihr Bündnis mit der Revolution zu befestigen, verheirateten die Brüder ihre sechzehnjährige Schwester mit Chabeau, indem sie ihm das schöne Mädchen mit einem ansehnlichen Vermögen als Mitgift beinahe aufdrängten. Das Ehebündnis erwies sich als verhängnisvoll für beide Teile. Als Chabeau bald darauf in die Netze der revolutionären Spionage geriet, wurde gegen ihn die Anklage erhoben, dass er sich mit einer Österreicherin verheiratet und Geld aus dem Auslande erhalten habe, um einen Staatsstreich zu inszenieren. Die Freys wurden beschuldigt, eine Verschwörung angezettelt zu haben, zum Zwecke, »das Prestige der republikanischen Regierung mittels Bestechungen zu untergraben«. Die beiden Brüder, von denen der eine 36, der andere 27 Jahre alt war, wurden vom Revolutionstribunal verurteilt und zugleich mit Chabeau, Danton, Desmoulins und anderen Revolutionshelden im April 1794 hingerichtet. Freigesprochen und am Leben geblieben war nur die nach halbjähriger Ehe verwitwete Leopoldine Frey, eine zarte, vom Revolutionssturm gebrochene und vernichtete Blüte. Eine andere Tragödie spielte sich in der Familie des jüdischen Barons Liefmann Kalmer, eines Einwanderers aus Holland, ab, der sich in Frankreich lange vor der Revolution naturalisiert hatte. Von seinen beiden Söhnen stand der eine, Isaak Kalmer in den Reihen der wildesten Sansculotten (»ein Sansculotte mit 200000 Livres Jahreseinkommen«), der andere aber sympathisierte mit den Royalisten; beide Brüder wurden durch die Schreckensherrschaft von zwei Polen der politischen Welt heruntergeholt und vor die Stufen des Schafotts gebracht. Isaak Kalmer, ein tätiges Mitglied des revolutionären Ausschusses von Clichy (bei Paris), in dem er öfters den Vorsitz führte, wurde von seinen politischen Gegnern der despotischen Willkür, der verletzenden Behandlung der Munizipalitätsbeamten und der Terrorisierung der Bürger von Clichy angeklagt. Kraft eines vom Revolutionstribunal gefällten Urteils, wurde er im Juni des Jahres 1794 hingerichtet.
Sein jüngerer Bruder, Louis-Benjamin, wurde unter der Anklage, »die extremen Royalisten und Konterrevolutionäre unterstützt zu haben«, ins Gefängnis geworfen. Die Anklage gründete sich darauf, dass er, als er während des Aufenthaltes der königlichen Familie in den Tuilerien Grenadier war, des Öfteren ins Schloss gekommen sei und mit dem Könige und der Königin gesprochen habe; auch dass er Aufträge des »verächtlichen Höflings« Lafayette ausgeführt und in dessen Namen Medaillen verteilt habe.
Im Mai 1794 wurde auch der zweite Kalmer vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt und bald darauf guillotiniert. Die Guillotine drohte auch der Schwester des hingerichteten Kairoers, Sarah, die durch einen glücklichen Zufall dem Tode entrann; sie war im Gefängnisse etwas länger als ihre Brüder geblieben, inzwischen aber vollzog sich der Umsturz vom Termidor, der der blutigen Diktatur Robespierres ein Ende setzte (Juli 1794). Die eingekerkerte Jüdin wurde mit allen anderen zum Tode verurteilten Gefangenen freigelassen. Jüdische Namen tauchen auch in den politischen Prozessen der folgenden Jahre, der Zeit der »Beruhigung«, auf.

Wenn zur Zeit des Konvents der Verdacht eines mangelnden Radikalismus genügte, um ins Gefängnis geworfen zu werden, so wurden in den Jahren des Direktoriums (1795—1796) Prozesse gegen Personen angestrengt, die sich des extremen Jakobinertums verdächtig machten. Dies alles berührte jedoch nur die Interessen einzelner Personen und wurde nicht der ganzen jüdischen Bevölkerung als solcher auf die Rechnung gesetzt.

Die ersten Früchte der Emanzipation (1796 bis 1806).

Das Jahrzehnt zwischen dem Direktorium und der Errichtung des Napoleonischen Kaiserreichs war im Leben der französischen Juden durch keine hervorragenden Geschehnisse ausgezeichnet, aber es ebnete den Weg zu den Ereignissen der darauffolgenden Jahre. In dieser Zeit reiften die ersten Früchte der Emanzipation heran, die süßen wie die bitteren. Das bürgerliche und insbesondere das wirtschaftliche Wachstum der jüdischen Bevölkerung löste seitens der von diesem Wachstum getroffenen fremden Interessen eine Gegenwirkung aus, und unter der Sonne der Freiheit reifte eine Frucht heran, die ihre Säfte aus dem Boden der Knechtschaft sog. Seit der Revolutionszeit nahm die jüdische Bevölkerung Frankreichs zusehends zu. Die jüdische Einwanderung aus dem benachbarten Deutschland nach den östlichen Departements Frankreichs, nach Elsass und Lothringen, gewann an Ausdehnung; die entrechteten Bewohner des deutschen Ghettos fanden hier eine ihr in Lebensgestaltung und Sprache (jüdisch-deutsche Mundart) verwandte jüdische Bevölkerung vor und akklimatisierten sich rasch den neuen Verhältnissen.
Viele von ihnen drangen noch tiefer ins Land und gingen insbesondere nach Paris, dessen jüdische Bevölkerung in fünfzehn Jahren auf das Dreifache gestiegen war: um das Jahr_i8o6 lebten da an die 3000 Juden. Eine bedeutende jüdische Gemeinde bildete sich in Straßburg, das früher den Juden verschlossen war.

Die Eroberungen der französischen Revolution und des Kaiserreichs (Belgien, Holland, die Schweiz, Teile Italiens und Deutschlands) hatten eine mechanische Vergrößerung der jüdischen Bevölkerung im Gefolge, die in den ersten Jahren des Kaiserreichs (1804—1808) die Zahl 135 600 überstieg. Ungefähr die Hälfte davon entfiel auf die rein französischen Departements.

Diese ganze Menschenmasse zeigte sich bestrebt, ihre Kräfte im Bande der Freiheit zu entfalten; aber jene stürmische Zeit war nicht dazu angetan, das normale Wachstum des befreiten Volkes zu fördern. Die inneren Revolutionskrisen wurden von einer Periode ununterbrochener äußerer Kriege abgelöst. Der Drang nach Freiheit machte dem Drange nach militärischem Ruhme Platz, der den Militarismus Napoleons I. so üppig emporschießen ließ. Unwillkürlich mussten die Juden in dieses Fahrwasser hineingeraten, das die bürgerlichen Tugenden in die Kasernen und auf die blutigen Schlachtfelder mit sich riß. Sie lieferten nicht wenig Stoff für jenes Kanonenfutter, das der »Ruhm Frankreichs« benötigte. Durch die starken Aushebungen wurden die jugendlichen Reihen der jüdischen Bevölkerung erheblich gelichtet. Die Juden begaben sich unter die Fahnen der Republik und des Kaiserreiches, indem sie persönlich den Militärdienst leisteten oder gedungene Söldner stellten. Es gab unter ihnen auch viele Freiwillige und Berufssoldaten, die es zuweilen bis zum Offiziersrange brachten. Die Lage der Juden unter ihren christlichen Kameraden war mitunter eine sehr schwierige; dies bewog viele Juden im Heere, ihre Abstammung zu verheimlichen und ein militärisches Pseudonym (nom de guerre) anzunehmen. In dem Maße, als sich die Aushebungen verstärkten, und die »Blutsteuer« immer unerträglicher wurde, wuchs auch die Zahl der Drückeberger. Die Präfekten der östlichen Departements berichteten darüber, dass viele Juden zur Musterung überhaupt nicht erschienen, dass die jüdischen Geburtsscheine nicht in Ordnung seien, und dass viele jüdische Eltern ihre Kinder männlichen Geschlechts unter Mädchennamen eintragen ließen, um sie dem Militärdienste zu entziehen. Trotzdem Fälle des Nichterscheinens zur Musterung und selbst solche der Fahnenflucht ’sich auch unter den Christen immer häuften, wurden sie doch den Juden besonders zur East gelegt, da man darin einen Mangel an staatsbürgerlichem Gefühl erblickte.

Dass die Juden der Beteiligung an den Hekatomben Napoleons I., der im Verlaufe von fünfzehn Jahren über drei Millionen Menschen unter die Fahnen sammelte, sich zu entziehen suchten, galt für viele als Beweis dafür, dass sie die Gleichberechtigung nicht verdienten. Die Tragik der Geschichte bestand darin, dass das Morgenrot der Befreiung den französischen Juden im blutigen Nebel der Schreckensherrschaft und im Pulverrauch der Schlachten aufging, dass man den Befreiten keine Zeit ließ, sich den neuen Verhältnissen des staatsbürgerlichen Bebens anzupassen und sich auf normalem Wege zu zivilisieren. Dies zog Anomalien auch im kulturellen Wachstum nach sich: jähe Sprünge auf der einen, Starrheit auf der anderen Seite. Die Spitzen der jüdischen Gesellschaft, insbesondere die der sephardischen in Paris und im Süden verfielen rasch dem Prozesse der Französierung.

Statt eine reformierte jüdische Schule zu schaffen, brachten die Eltern ihre Kinder in allgemeinen Lehranstalten und in »erlesenen Pensionaten« unter, wo sie in einer christlichen Atmosphäre erzogen und allem Jüdischen entfremdet wurden. Wie bereits erwähnt, zerriss auch der Militärdienst das den jungen Juden mit seiner nationalen Gemeinschaft verknüpfende Band. Wohl taten sich einige Juden in öffentlichen Diensten, wie auch in freien Berufen, hervor; aber von der jüngeren Generation waren es nur sehr wenige, die ein Interesse für das Schicksal ihres Volkes bekundeten (der Rechtsanwalt Michael Berr, Sohn des bekannten Emanzipationskämpfers Isaak Berr und andere). Es wurde auch der erste Keim zur Rassenassimilation gelegt – es kamen die ersten Mischehen zwischen Juden und Christen auf. Der Prozess der Assimilierung hatte selbst in den großen jüdischen Zentren von Elsass und Lothringen bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Schon im Jahr 1791, gleich nach Verkündung des Emanzipationsaktes, forderte Isaak Berr seine Stammesgenossen auf, ihre deutsch-jüdische Mundart aufzugeben, sich im täglichen Verkehr der französischen Sprache zu bedienen und ihre Kinder in französische Schulen zu schicken, da durch den Verkehr mit den christlichen Kindern in der Schule die gegenseitige Entfremdung schwinden und bald darauf einer »brüderlichen Liebe« zwischen Juden und Christen Platz machen würde. Die Wünsche Berrs begannen im inneren Leben der jüdischen Gesellschaft greifbare Gestalt zu gewinnen; die Volkssprache wurde nach und nach durch die offizielle Staatssprache – das Französische verdrängt, die jüdische Schule begann allmählich der französischen zu weichen, die Entfremdung der jungen Generation gegen alles Jüdische vollzog sich unaufhaltsam, aber vom »brüderlichen« Verhältnis zu der umgebenden Bevölkerung war man noch weit entfernt. Nach fünfzehn Jahren seit der Verkündung des Emanzipationsaktes musste derselbe Isaak Berr folgende traurige Zeilen niederschreiben:
»Gewiss, das segensreiche Dekret vom 28. September 1791 stellte uns in unseren Rechten wieder her und verpflichtete uns zu einem Gefühl ewiger Dankbarkeit, aber bis auf den heutigen Tag ist der Gebrauch, den wir davon machen, nur ein scheinbarer, denn in der Lebenspraxis ermangeln wir alles dessen, was wir de jure errungen haben. Die Verachtung, die dem Namen Jude anhaftet, bildet eines der Haupthindernisse zu unserer Wiedergeburt. Kommt ein jüdischer junger Mann zu einem Handwerksmeister, einem Fabrikinhaber, einem Künstler, einem Landmann, um Fachkenntnisse zu erwerben, so wird er zurückgewiesen, weil er Jude sei. Wird ein Jude vor Gericht geladen – so wird sich die gegnerische Partei selten das Vergnügen entgehen lassen, allgemeine und unziemliche Auslassungen gegen die Juden vorzubringen und sie mit all jenen Vorwürfen zu überschütten, die von alters her geltend gemacht werden. Man trägt nicht einmal Bedenken, uns auf der Bühne zur Zielscheibe des Spottes zu machen.« Dieser passive Widerstand gegen die Praxis der Gleichberechtigung seitens der christlichen Gesellschaft begünstigte die sozialwirtschaftliche Rückständigkeit unter den «jüdischen Volksmassen. Trotz der Beseitigung aller Rechtseinschränkungen auf dem Gebiet der Berufe und der Gewerbe, verharrten die meisten Juden im Elsass und Lothringen (den Departements des unteren und oberen Rheins, der Mosel usw.) in ihrer alten wirtschaftlichen Position – dem Kleinhandel und dem Geldgeschäft. Die langanhaltende finanzwirtschaftliche Krise Frankreichs während der Revolution und des Kaiserreichs machte es den Juden unmöglich, sich auf neue Erwerbsgebiete zu werfen, ohne dabei ihr Vermögen aufs Spiel zu setzen; andererseits wurden sie daran durch den Widerstand der interessierten Klassen der christlichen Bevölkerung verhindert. Daher der wirtschaftliche Konservatismus, das Festhalten an einem der traurigsten Monopole der jüdischen Wirtschaft – dem Geldkredit, insbesondere dem Kredit für landwirtschaftliche Zwecke. Der durch die Revolution bewirkte Umsturz in den Agrarverhältnissen (der Fall der feudalen Ordnung, die Auswanderung des Adels, das Aufkommen des bäuerlichen Grundbesitzes) erweiterte nur die Sphäre der jüdischen Vermittlungstätigkeit und verlieh ihr eine veränderte Gestalt. Einige jüdische Kapitalisten waren durch den Besitz von Bodenhypotheken zum unmittelbaren Grundbesitz übergegangen; die meisten aber befassten sich mit dem Wiederverkauf des ihnen verpfändeten Grundbesitzes an Bauern und Adlige.

Die Spekulation in Immobilien erreichte im Zusammenhang mit der Schreckensherrschaft und der unruhigen Zeit unerhörte Dimensionen; Profitjäger kauften zum Spottpreise die von den Auswanderern verlassenen Grundstücke auf, um sie dann zu hohen Preisen wieder zu verkaufen. Der jüdische Gläubiger, der den Landmann mit Kapital zwecks Bodenankaufs versorgte, erleichterte ihm den Übergang von Tagelöhnerei zum selbständigen Bodenbesitz; des Öfteren aber belastete er den neuen Eigentümer mit drückenden Schuldverschreibungen. Der Mangel an barem Geld und die Unsicherheit des Kredits machten eine Erhöhung des Zinsfußes erforderlich, die den Juden viele Vorwürfe zuzog.

Die Klagen über jüdische »Ausbeutung«, Wucher und Raub drangen ununterbrochen aus den Rheinischen Departements nach Paris. Marschall Kellermann erstattete im Jahr 1806 an Napoleon I. einen Bericht, in dem die Page des Elsass unter der wirtschaftlichen »Herrschaft« der Juden in düsteren Farben geschildert war.
Der judenfeindliche Bericht weckte die Vorstellung, als ob die Juden das elsässische Dorf zugrunde richteten, die gesamte ländliche Bevölkerung unterjochten und effektiv die Herren im Bande seien, da der meiste Grundbesitz in ihren Händen liege. Derartige einseitige Darstellungen verfehlten nicht einen starken Eindruck auf Napoleon zu machen, der in den ersten Jahren des Kaiserreichs lebhaftes Interesse für die Judenfrage zeigte. Die in Elsass und Lothringen ansässigen Juden hatten keine Ahnung davon, welch eine furchtbare Anklageschrift gegen sie in Paris vorbereitet wurde und dass sogar die Frage der Abschaffung ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung zur Diskussion stand…

Napoleon und die Juden; das Dekret von 1806.

Die neue zerstörende und zugleich aufbauende Kraft, in der sich despotische Willkür mit Revolutionsfreiheit paarte – diese wilde, über das Beben Europas hereingebrochene Gewalt ging auch an dem jüdischen Volke nicht ohne Wirkung vorüber. Napoleon I. war für die Juden Unterdrücker und Befreier in einer Person, ein guter und ein böser Genius; das Verhältnis des Weltbezwingers zu einer Nation, die von der Welt nicht niedergerungen werden konnte, zeigte eine Mischung von Niedertracht und Größe. Das erste Zusammentreffen Bonapartes mit den Juden fällt in die Zeit des märchenhaften Feldzuges des ruhmreichen Generals nach Syrien und Ägypten und spielte sich auf dem Boden der alten jüdischen Heimat ab. Nach der Einnahme von Gaza und Jaffa (Februar bis März 1799) erließ der vor den Toren Jerusalems stehende Bonaparte einen Aufruf an die asiatischen und afrikanischen Juden, in dem er sie ermahnte, dem französischen Heere behilflich zu sein, und die Wiederherstellung des alten Jerusalems in Aussicht stellte.

Es war dies ein politisches Manöver, ein Versuch, in den orientalischen Juden wohlgesinnte Vermittler bei der Einnahme der palästinischen Städte zu gewinnen. Dieser Ruf fand bei den Juden keinen Widerhall; die jüdische Bevölkerung der betreffenden Gebiete hielt treu zu der türkischen Regierung. Die Gerüchte von den durch die französischen Truppen verübten Gräueltaten veranlassten die in Jerusalem ansässigen Juden, sich an den Vorkehrungen zum Schutze der Stadt zu beteiligen.
Der phantastische Plan der Niederwerfung Asiens ging nicht in Erfüllung, und Bonaparte kehrte nach dem Westen zurück, um Frankreich durch den Streich vom 18. Brumaire kirre zu machen und dann Europa zu erobern. Das Problem der Regelung jüdischer Verhältnisse im modernen Staatswesen weckte die Aufmerksamkeit des regierenden Napoleon, des ersten Konsuls, zum ersten Mal, als die Frage der Organisierung der religiösen Kulte in Frankreich nach Abschluß des Konkordates mit dem Papste auf der Tagesordnung stand (1801).

Da der erste Konsul auch die Beziehungen des jüdischen Kultes zum Staate regeln wollte, beauftragte er den Minister der Bekenntnisse, Portalis, einen Bericht über dieses Problem zu verfassen.
Der Bericht wurde verfasst und in der Sitzung der gesetzgebenden Versammlung (5. April 1802) verlesen, aber er enthielt statt eines Vorschlags zur Regelung der geistlichen Angelegenheiten der jüdischen Bürger nur Beweise für die Schwierigkeit der Durchführung eines derartigen Entwurfs.
»Die Regierung«, schrieb Portalis, »die für die Organisierung der verschiedenen Konfessionen Sorge trug, hat auch die jüdische Religion nicht außer Acht gelassen: gleich allen anderen soll sie sich der durch unsere Gesetze gewährleisteten Freiheit erfreuen. Aber die Juden stellen weniger ein Glaubensbekenntnis als eine Nation dar (forment bien moins une religion qu’un peuple); sie leben unter allen Nationen, ohne sich mit ihnen zu vermischen; Es war die Pflicht der Regierung, die Ewigkeit dieses Volkes in Betracht zu ziehen, eines Volkes, das durch alle Umwälzungen und alles Missgeschick der Jahrhunderte hindurch sich in unsere Zeit hinüberrettete, das auf dem Gebiete des Kultes und seiner geistigen Verfassung im Besitze eines der größten Privilegien ist – des Privilegiums, Gott selbst zum Gesetzgeber zu haben. «

Diese Sätze verrieten bereits die spätere Zwiespältigkeit der napoleonischen Regierung in der jüdischen Frage: einerseits historische Komplimente für die Standhaftigkeit des Judentums, und andererseits die Besorgnis, dass eine derart standhafte Nation sich an die französische Staatlichkeit nicht werde anpassen können, d. h. dass sie auch künftighin ihre Standhaftigkeit bewahren werde. Derartige Befürchtungen bewirkten, dass die Lösung der Frage von der Organisation des Judentums vertagt wurde. Der Kaiser musste das Werk zu Ende führen, das der erste Konsul unternommen hatte. Aber dieses neue Unternehmen war mehr vom Geiste des Verdachtes und der Befürchtungen als von dem der Hochachtung für die »Ewigkeit des jüdischen Volkes« getragen, Napoleon, der dem jüdischen Leben vollständig fern stand, bildete sich einen Begriff davon auf Grund flüchtiger, bei Feldzügen empfangener Eindrücke, privater Beschwerden und offizieller Berichte. Unter dem bunten, aus verschiedenen Völkerschaften zusammengesetzten, durch die Uniform nivellierten Heere bemerkte er die jüdischen Soldaten nicht, umso weniger als diese Soldaten des Öfteren ihre Abstammung unter militärischen Pseudonymen verbargen; dafür aber fielen ihm die Scharen jüdischer, dem Heere auf die Spur folgender Händler in die Augen, die der Geldbeute überall nachjagten, wo der Führer der französischen Truppen auf Kriegsbeute ausging. Als der Kaiser im Jahr 1805 aus dem Feldzuge von Austerlitz zurückkehrte und durch Straßburg zog, bekam er mehrere Klagen gegen die Juden zu hören, die angeblich durch ihre Kreditoperationen die ganze bäuerliche Bevölkerung des Landes ausbeuteten.

Die christliche Bevölkerung von Straßburg, die sich seit langem um die Wiedererlangung des »Privilegiums« der Nichtzulassung von Juden bemühte, konnte sich noch immer nicht mit dem Emanzipationsakt von 1791 versöhnen; ebenso wenig befragte ihr die Entstehung einer gleichberechtigten jüdischen Gemeinde innerhalb einer Stadt, wo es früher »den Juden verboten war, zu übernachten«. Die Straßburger und Elsässer Judenfeinde erwarteten von Napoleon das, worum sie sich in den Revolutionsjahren vergeblich bemüht hatten: die tatsächliche Hintertreibung der jüdischen Gleichberechtigung. Sie täuschten sich nicht; der Kaiser versprach, die Klagen zu prüfen und Maßnahmen zu ergreifen. Als Napoleon nach Paris zurückkehrte, befand er sich in einem Zustand äußerster Missstimmung gegen die Juden und fasste den festen Beschluss, einen Kampf gegen sie aufzunehmen, der nötigenfalls bis zur Verletzung ihrer Gleichberechtigung gehen sollte. Er gab dem Staatsrat den Befehl, diese Frage einer sofortigen Erörterung zu unterziehen.

Der in der Folge bekannt gewordene konservative Staatsmann Graf Mole, damals noch ein junger Beamter und Anhänger des napoleonischen Regimes, wurde mit der Berichterstattung betraut. Als Mole in seinem Bericht von der Notwendigkeit sprach, die Juden, wenigstens auf dem Gebiete des Handels, Ausnahmegesetzen zu unterwerfen, gerieten die meistens liberal gestimmten Mitglieder des Rates in große Aufregung. Es wurden Stimmen laut gegen den reaktionären Versuch, das alte Regime für die Juden wiederherzustellen. Als die Frage auf der nächsten, unter dem Vorsitz des Kaisers abgehaltenen Sitzung (30. April 1806) von neuem erhoben wurde, hielt das liberale Ratsmitglied Beugnot eine feurige Rede gegen das Vorhaben, die Juden in ihren Rechten einzuschränken, wobei er sich dahin ausdrückte, dass jede ausschließliche Maßregel dieser Art »einer auf dem Felde der Gerechtigkeit verlorenen Schlacht« gleichkäme. Die Mehrheit erklärte sich mit dem Redner einverstanden. Aber den Männern des Gesetzes erwiderte der Mann des Schwertes. In einer sehr scharfen Rede drückte Napoleon seine Verachtung gegen alle solche »Ideologen« aus, die »die Wirklichkeit einer Abstraktion opfern«, die Wirklichkeit erscheine ihm aber in einem furchtbaren Eichte.

»Die Regierung«, sagte Napoleon gereizt, »kann nicht gleichgültig und teilnahmslos zusehen, wie eine gesunkene, verlotterte und zu allen Schandtaten bereite Nation die beiden schönen Departements des alten Elsass an sich reißt. Die Juden müssen als Nation und nicht als Sekte angesehen werden – sie sind eine Nation innerhalb einer Nation…
Man darf sie nicht in die gleiche Kategorie wie die Protestanten und Katholiken setzen; ihnen gegenüber muss man nicht das bürgerliche, sondern das politische Recht anwenden, denn sie sind keine Bürger… Ich will den Juden, wenigstens für eine Zeitlang, das Recht entziehen, Immobilien in Pfand zu nehmen. Ganze Dörfer sind schon von den Juden in Beschlag genommen: sie sind an die Stelle der früheren Lehnsherren getreten… Nicht unangemessen wäre es, ihnen den Handel zu verbieten, den sie durch Wucher schänden, und alle ihre früheren auf Betrug beruhenden Abmachungen zu annullieren.«

Zum Schluss gab der Kaiser die Quellen seiner Informationen über die Juden an: sie bestanden in den Beschwerden der christlichen Bevölkerung der Stadt Straßburg und in den Berichten des dortigen Präfekten. Wenn man die Gedankengänge des Kaisers von den zufälligen Stimmungen lostrennt, so kann man in ihnen ein bestimmtes System erblicken: Die Revolution hatte den Juden Gleichberechtigung gegeben, die einer Sekte innerhalb der französischen Nation galt; da sie aber eine besondere Nation bilden, so gehören sie nicht in das Gebiet der staatsbürgerlichen, sondern in das der politischen Gesetzgebung; wir wissen aber, dass der politische Kodex Napoleons in demselben Maße schlecht war, wie sein »Code civil« gut… In der Praxis nahm der Kaiser von konsequentem Vorgehen, das ihm den zweifelhaften Ruf eines Unterdrückers der Juden einbringen würde, Abstand. In der folgenden Sitzung des Staatsrats vom 7. Mai verwarf er den radikalen Vorschlag des Berichterstatters, die jüdischen Hausierer des Landes zu verweisen und den Wucher der Überwachung der Tribunale zu unterstellen. »Fern liegt es mir,« sagte er, »Schritte zu unternehmen, die meinen Ruf beeinträchtigen und die Verurteilung bei den künftigen Generationen nach sich ziehen könnten …

Es wäre eine Schwäche, die Juden zu verfolgen, aber es ist ein Zeichen der Kraft, sie zu bessern.«
Unter »Besserung« verstand der Kaiser nicht nur Repressalien gegen die Schattenseiten des jüdischen Handels, sondern auch eine gründliche Reform der ganzen Lebensgestaltung der Juden. Nachdem er den Gedanken ausgesprochen, dass »der von den Juden verursachte Schaden nicht von einzelnen Personen ausgehe, sondern in der ganzen Verfassung des gesamten Volkes begründet sei«, beeilte er sich, die Erklärung hinzuzufügen, dass es notwendig sei, jüdische »Generalstaaten« einzuberufen. Die Vertreter des angeklagten Volkes sollten Rede stehen und die Frage beantworten, ob sich die schlechte »Verfassung« des Judentums bessern und der Staatsverfassung des Wirtslandes unterordnen lasse, oder ob die Juden eines staatsbürgerlichen Lebens unfähig seien. Alle diese Konferenzen hatten das aus zwei Teilen bestehende kaiserliche Dekret vom 30. Mai 1806 zur Folge. Im ersten Teile wurde befohlen, die Vollstreckung aller gerichtlicher Urteile betreffend die Schuldforderungen jüdischer Gläubiger an die ländliche Bevölkerung in den Departements des Ober- und Niederrheins und anderer »deutscher« Gebiete für die Dauer eines Jahres einzustellen.
Im zweiten Teile wurde verkündet, dass am 15. Juli 1806 »eine Versammlung von Personen, die sich zum jüdischen Glauben bekennen und in Frankreich sesshaft sind, in Paris einzuberufen sei. Die Versammlung soll aus mindestens 100 Personen bestehen, die sämtlich von den Präfekten unter den geistlichen und weltlichen Vertretern der jüdischen Gemeinden zu wählen sind. Beide Teile des Dekrets wurden in der Einleitung mit dem zwiefachen Wunsch begründet – einerseits der von dem jüdischen Wucher umgarnten ländlichen Bevölkerung behilflich zu sein, andererseits in den Juden alle die »Gefühle bürgerlicher Moral zu wecken, die infolge eines langwierigen Verharrens im Zustande von Erniedrigung, den wir jedoch weder unterstützen noch erneuern wollen, bei einem beträchtlichen Teil dieses Volkes eine Schwächung erlitten haben.« Das Dekret von der Annullierung aller Schuldforderungen jüdischer Gläubiger bei der nichtjüdischen Bevölkerung bedeutete einen harten Schlag nicht nur für einzelne Personen, sondern für das Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit selbst: denn nicht um die Wucherer als solche handelte es sich hier, sondern ausdrücklich um jüdische Wucherer. Was nun den Plan der Einberufung jüdischer Volksvertreter betrifft, so ist er ganz gewiss von einer gewissen Größe, die aber durch die Verbindung mit demütigenden Repressalien und einer das Ehrgefühl verletzenden offiziellen Begründung beeinträchtigt wird. Nichtsdestoweniger war die jüdische Gesellschaft in Frankreich und auswärts mehr geneigt, die Dichtseite als die prosaische Schattenseite des Dekrets zu sehen: die Einberufung des jüdischen Parlaments war an sich ein bedeutungsvoller, achtunggebietender Schritt und schien den Beginn einer neuen Ära für das jüdische Volk zu kennzeichnen. Zugleich mit den regierenden Kreisen beschäftigte sich auch die französische Presse sehr eifrig mit der jüdischen Frage. Gegen das Prinzip der jüdischen Emanzipation selbst trat die inzwischen erstarkte katholische Reaktion auf, die in dem bekannten Bonald ihren geistigen Vertreter hatte.

In einem im Februar 1806 veröffentlichten Aufsatz (im »Mercure de France«) wiederholte Bonald die üblichen Anklagen gegen die Juden und gelangte zu der Schlussfolgerung, dass, »solange die Juden das Christentum nicht annehmen, es ihnen trotz aller Bemühungen nie gelingen wird, sich zu Bürgern eines christlichen Staates heranzubilden«. Gegen diese lange nicht mehr gehörte Losung der streitbaren Kirche traten die Verfechter jüdischer Interessen auf. Einer von ihnen, der sephardische Publizist Rodrigues, entrüstete sich darüber, dass »unter der Ägide des freiheitlichen und mächtigen Frankreichs im XIX. Jahrhundert Aufsätze veröffentlicht werden können, deren Bestreben darauf ausgeht, den Juden alle die staatsbürgerlichen und politischen Rechte zu entziehen, die ihnen nicht von den Staatsgesetzen, sondern von der Vernunft selbst gewährt wurden«.

Es war kein Zufall, dass die judenfeindliche Agitation Bonalds mit dem Beginne der Verhandlungen über die jüdische Frage im Staatsrate zusammenfiel: der den Hofkreisen nahestehende Reaktionär, dem die Stimmung des Kaisers bekannt war, beabsichtigte, den Beschluss des Rates in eine bestimmte Richtung zu lenken. Als Graf Mole seinen obenerwähnten Bericht im Staatsrate verlas, stellten darin die liberalen Mitglieder des Rates den Einfluss der Ansichten der »antiphilosophischen Partei des Fontane und Bonald« fest. Wohl spürten sie, woher der Wind der Reaktion kam, aber sie konnten nicht umhin, dem Umstande Rechnung zu tragen, dass bis zu einem gewissen Grade auch der Kaiser selbst von diesem Wind ergriffen war.

Napoleon stellt den israelitischen Kult wieder her, 30. Mai 1806

Die Versammlung der Notablen.

Die Vorbereitungen zu dem durch den Beschluss vom 30. Mai 1806 einberufenen »jüdischen Parlament« nahmen einen raschen Verlauf. Gemäß der ihnen erteilten Weisung setzten die Departementspräfekten eine bestimmte Zahl von Abgeordneten für ihre Wahlbezirke fest, die aus der Mitte der Rabbiner, Geschäftsleute und sonstiger angesehener Personen gewählt wurden.
Man fasste vornehmlich gebildete, fortschrittlich gesinnte Personen ins Auge, die fähig wären, die »wohlwollenden Absichten der Regierung« vollauf zu würdigen. In den Departements des eigentlichen Frankreichs, und dann auch in Elsass-Lothringen und den angrenzenden deutschen Provinzen wurden 74 Abgeordnete gewählt, von denen zwei Drittel auf die Rheindepartements entfielen; diese Zahl wurde jedoch in der Folge vergrößert. Abgesehen davon, schickte auch das dem Kaiserreich angegliederte Königreich Italien (Venedig, Turin, Ferrara usw.) seine Vertreter, so dass bei der Eröffnung der Versammlung etwa 112 Abgeordnete aus dem ganzen Kaiserreiche anwesend waren. Unter den Abgeordneten ragten besonders die durch ihre frühere Tätigkeit bekannten Abraham Furtado aus Bordeaux, Beer-Jsaak Berr aus Nancy und der Straßburger Rabbiner David Sinzheim hervor. Furtado war der Vertreter der Sephardim, die während der Revolution so energisch ihre Verschiedenheit von der aschkenasischen Mehrheit unterstrichen hatten.

Furtado, ein alter Voltairianer und Girondist, seiner Gemütsveranlagung nach mehr Franzose als Jude, flößte den Vertretern der deutschen Departements kein besonderes Vertrauen ein. Die elsässischen Abgeordneten meinten im Scherz, dass Furtado die Bibel ausschließlich aus den Werken Voltaires kenne. Dessen ungeachtet wurde er zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt, da er über die nötigen äußerlichen Eigenschaften: politische Schulung und Rednergabe verfügte.
Der bedeutendste Vertreter der Aschkenasim war der unermüdliche Anwalt der jüdischen Sache Cerf Berr, ein Anhänger der Mendelssohnschen Schule, der einen Ausgleich zwischen dem Judentum und der modernen Aufklärung herbeizuführen strebte.
Kurz vor der Eröffnung der Versammlung wandte sich Berr an die jüdischen Kapitalisten mit einem Aufrufe, indem er sie ermahnte, den Absichten der Regierung entgegenzukommen und zunächst die Eintreibung der Wechselschulden bei der ländlichen Bevölkerung für die Dauer eines Jahres einzustellen und dann das schändliche Wuchergeschäft überhaupt aufzugeben. Unter den Rabbinern ragte der tiefe Kenner der talmudischen Literatur, der Straßburger Gelehrte David Sinzheim hervor, der in der Zeit des Konvents von den übereifrigen Verbreitern des »Kultes der Vernunft« viel auszustehen gehabt hatte.

Er war durchaus orthodox gesinnt, hielt es aber auch für möglich, die Schärfe seiner religiösen Prinzipien zu mildern, wenn es die politischen Umstände verlangten.

Diesen Führern der Versammlung schlossen sich eine Anzahl durch ihre Bildung und soziale Verdienste hervorragender Personen an: der erste jüdische Rechtsanwalt in Europa, Michael Berr, der Schriftsteller Rodrigues, die italienischen Rabbiner Segre, de-Cologna und Nepi. Nach dem Zeugnis eines der kaiserlichen Kommissare, der an der Versammlung teilgenommen, machte diese Zusammensetzung einen sehr vorteilhaften Eindruck.

»Wir befinden uns«, schrieb er, »unter Menschen, die die Menge weit überragen… unter Menschen mit entwickeltem Geiste, denen auch allgemein menschliches Wissen nicht fremd ist. Es ist unmöglich, der Existenz einer jüdischen Nation die Anerkennung länger zu verweigern, einer Nation, in der sich bisher nur der Abschaum bemerkbar machte, und die nun durch den Mund ihrer auserlesenen Vertreter eine höchst beachtenswerte Sprache zu führen beginnt.« Drei Sekretäre des Staatsrats wurden von Napoleon zu Regierungskommissaren für die Versammlung der jüdischen Abgeordneten ernannt. Es waren dies die Kreatur Napoleons, der obenerwähnte Graf Mole1), der jüngere Portalis (Sohn des Kultusministers) und Pasquier, der uns Memoiren über die Tätigkeit des »jüdischen Parlamentes« hinterließ. Die offizielle Aufgabe der Kommissare bestand in der Übermittlung und Erläuterung der vom Kaiser redigierten Fragen und in der Entgegennahme der Antworten; inoffiziell waren aber diese Kommissare (nach dem späteren Geständnisse eines von ihnen) beauftragt, »mit den einflussreichsten Mitgliedern der Versammlung Fühlung zu suchen und Mittel und Wege zur Erreichung des angestrebten Zieles ausfindig zu machen«; sie sollten also hinter den Kulissen einen Druck ausüben, um die Tätigkeit der Versammlung in eine dem Kaiser genehme Richtung zu lenken.

Als die Abgeordneten in Paris eintrafen, war die Eröffnung der Versammlung bereits für Sonnabend, den 29. Juli 1806 festgesetzt. Die gesetzestreuen Abgeordneten nahmen zunächst Anstoß an der bevorstehenden Verletzung der Sabbatruhe, und in einer privaten Konferenz wurde viel darüber gestritten, ob man nicht um die Verlegung der ersten Sitzung auf den darauffolgenden Tag bitten solle. Aber Erwägungen politischer Natur nahmen überhand: es handelte sich darum, der Regierung zu l) Wie das Verhältnis Moles zu den Juden im gegebenen Augenblick war, ist aus folgender, kürzlich in den Memoiren eines anderen Kommissars (Pasquier) aufgedeckten Tatsache ersichtlich. Einige Tage vor Eröffnung der jüdischen Versammlung erschien in der offiziellen Zeitung »Moniteur« ein langes judenfeindliches Pamphlet unter dem Titel: »Vom Zustande der Juden seit Moses bis auf den heutigen Tag«, in dem bewiesen wurde, dass das Laster des Wuchers schon in der Religion der Juden begründet sei. Diese »Anklageschrift gegen die jüdische Nation« war, nach Mitteilung Pasquiers, im Aufträge Napoleons vom Kommissar verfasst (oder redigiert). zeigen, dass die Juden nötigenfalls bereit seien, ihre Gesetze zu übertreten, wenn diese der Ausführung obrigkeitlicher Befehle im Wege stehen. Die erste Konzession wurde gemacht: die erste – vielleicht von der Regierung beabsichtigte Prüfung des Gehorsams war bestanden.

Die feierliche Eröffnung der Versammlung erfolgte an dem festgesetzten Sonnabend in einer zu einem großen Saale umgebauten Kapelle am Stadthaus.

Der Hauptkommissar Mole hielt die Eröffnungsrede. Durch die höflichen Redensarten drang der schlecht versteckte feindselige Inhalt hervor. »Jeder von euch,« sagte Mole, »die ihr von allen Ecken und Enden des weiten Reiches hierher berufen worden seid, kennt zweifellos die Ziele, um derentwillen seine Majestät geruhte, euch hier zu versammeln. Es ist euch bekannt, dass das Benehmen vieler Bekenner eurer Religion zu Klagen Anlass gab, die sogar bis zu den Stufen des Thrones gedrungen sind. Die Klagen erwiesen sich als wohl berechtigt, und doch beschränkte sich der Kaiser nur darauf, dass er dem weiteren Wachstum der Krankheit Einhalt gebot und den Wunsch äußerte, von euch Ratschläge zur Beseitigung des Übels zu hören.« Der Redner sprach des Ferneren die Hoffnung aus, dass die Deputierten die Gnade des Kaisers zu würdigen wissen und mit der Regierung und nicht gegen die Regierung arbeiten werden. »Seine Majestät verlangt von euch, dass ihr Franzosen seid, und von euch hängt es ab, diesen Titel anzunehmen oder auch einzubüßen, wenn ihr euch seiner als unwürdig erweiset. Die an euch gerichteten Fragen werden euch gleich vorgelesen werden, und eure Pflicht ist es, zu jeder von ihnen die ganze Wahrheit zu sagen.« Nach Beendigung der Rede, die mehr Drohungen als Begrüßungen enthielt, wurden die zwölf vom Kaiser an die Versammlung gerichteten Fragen verlesen.

Die ersten drei Fragen betrafen Angelegenheiten der Ehescheidung:
Ob den Juden die Vielweiberei gestattet ist?
Ob eine Ehescheidung auch ohne die gerichtliche Sanktion gültig ist?
Ob Mischehen zwischen Juden und Christen zugelassen werden?

Die folgenden drei Fragen betrafen den Patriotismus:
Ob die Franzosen von den Juden als Brüder oder als Fremde angesehen werden?
Wie stellt sich das jüdische Gesetz zu den Franzosen christlichen Glaubens?
Ob die in Frankreich geborenen Juden dieses Fand als ihr Vaterland anerkennen, ob sie sich für verpflichtet halten es zu verteidigen und seinen bürgerlichen Gesetzen zu gehorchen?

Die weiteren Fragen beziehen sich auf die Tätigkeit der Rabbiner und insbesondere auf deren gerichtliche Funktionen.

Die letzteren drei Fragen beziehen sich auf die Berufe und insbesondere auf den Wucher:
Ob es Berufe gibt, die den Juden verboten sind?
Ob es dem Juden verboten ist, einem Juden Geld auf Zins zu leihen, und ob ihm dies bei einem Fremdstämmigen erlaubt ist?

Als beim Verlesen der Fragen die Reihe an die Frage kam: ob Frankreich von den Juden als Vaterland angesehen wird, und ob sie es für ihre Pflicht halten, dieses Vaterland zu verteidigen, erhoben sich die Abgeordneten von ihren Sitzen und riefen aus:
»Ja, bis zum Tode!«

In seiner Erwiderung auf die unfreundliche Rede Moles sprach der Vorsitzende der Versammlung, Furtado, die freudige Bereitschaft der Versammlung aus, an der Verwirklichung der »großmütigen Absichten« des Kaisers mitzuwirken, da er darin ein Mittel erblicke, »manchen Irrtum zu zerstreuen und manches Vorurteil zu beseitigen«. Es wurde eine besondere Kommission aus zwölf Mitgliedern eingesetzt, der Isaak Berr, Rabbiner Sinzheim und andere angehörten, und die mit der Ausarbeitung der Antworten auf die gestellten Fragen betraut wurde.
Die Beantwortung der ersten Fragengruppe nahm nur einige Tage in Anspruch, so dass die Versammlung schon in der Sitzung vom 4. August an ihre Erörterung herantreten konnte. Die erste der Fragen (die von der Vielweiberei), wurde mit Leichtigkeit durch den Hinweis auf den Umstand abgefertigt, dass die Sitte der strengen Monogamie sich bei den europäischen Juden seit langem eingebürgert hätte.

Die Frage wegen der Ehescheidung wurde dahin beantwortet, dass der vom Rabbiner vollzogene religiöse Akt der Ehescheidung erst nach dessen Bestätigung durch das allgemeine bürgerliche Gericht in Kraft trete; es wurde dabei darauf hingewiesen, dass die französischen Rabbiner seit der Emanzipation am bürgerlichen Eide treu festhalten und die religiösen Akte der Kontrolle der staatlichen Institutionen unterstellen. Größere Schwierigkeiten bereitete die Beantwortung der dritten Frage, der von den Mischehen.
Aber auch hier fand sich ein Ausweg: die Antwort lautete, dass alle zwischen Juden und Christen geschlossenen Ehen die Kraft nicht religiöser, sondern bürgerlicher Akte besäßen, wie es auch bei den Mischehen zwischen Katholiken und Andersgläubigen der Fall sei: die katholische Geistlichkeit anerkenne zwar solche Ehen, erteile ihnen aber keine kirchliche Weihe. Andererseits wurde festgestellt, dass »ein mit einer Christin verheirateter Jude in den Augen seiner Stammesgenossen nicht aufhört, Jude zu sein«.

Den Antworten ging eine von der Versammlung angenommene charakteristische »Deklaration« voraus.
In dieser wurde gesagt, dass »die von den Gefühlen der Dankbarkeit, Diebe und Ehrfurcht gegenüber der geheiligten Person des Kaisers geleitete Versammlung berechtigt ist, seinen väterlichen Willen in allen Dingen zur Richtschnur zu nehmen«, dass die jüdische Religion befiehlt, in allen bürgerlichen und politischen Angelegenheiten den Gesetzen des Staates vor denen der Religion den Vorzug zu geben, so dass im Falle eines Widerspruches zwischen diesen und jenen die religiösen Gesetze zurücktreten müssen. Die Versammlung, die von Anfang an die abschüssige Bahn der Nachgiebigkeit und Diebedienerei betreten hatte, glitt unaufhaltsam in dieser Richtung weiter. Und als die Reihe an die zweite Gruppe der Fragen kam, die sich auf die Vereinbarkeit des bürgerlichen Patriotismus mit dem nationalen Gefühl bezogen, überschritt die servile Gesinnung der Versammlung jedes erdenkliche Maß. Statt sich darauf zu beschränken, die Zulässigkeit einer derartigen Vereinbarkeit festzustellen, gingen die Antworten der Versammlung weit darüber hinaus und leugneten die nationale Einheit der Juden. Der Satz, dass die Franzosen von den Juden als Brüder angesehen werden, wurde folgendermaßen erläutert: »Im gegenwärtigen Moment bilden die Juden keine Nation mehr, da ihnen der Vorrang zuteil wurde, einer großen Nation (der französischen) angegliedert zu werden, und sie erblicken darin ihre politische Erlösung.« Es wurde das Fehlen jedes Solidaritätsgefühls zwischen den Juden verschiedener Länder hervorgehoben: ein französischer Jude fühle sich als Fremder unter seinen Stammesgenossen in England; französische Juden kämpfen gern gegen ihre in feindlichen Truppen eingereihten Stammesgenossen …

Auf diese Weise wurde die Formel der nationalen Selbstverleugnung verkündet.
Nicht alle schlossen sich dieser Formel mit derselben Aufrichtigkeit an. Angesichts der offenkundigen Drohungen, die in der »Begrüßungsrede« Moles im Namen des Kaisers enthalten waren, enthielten sich viele einer Entgegnung. Man drohte den Juden mit der Entziehung der staatsbürgerlichen Rechte, wenn sie sich dem Wunsche des Kaisers, »Franzosen zu sein«, widersetzten; die eingeschüchterten Abgeordneten mussten sich fügen und erklären, dass die Juden nur »Franzosen mosaischer Religion« und auch bereit seien, aus dieser Religion alles auszuschließen, was mit den Forderungen der Regierung sich nicht vereinbaren ließe. Mit derselben äußerlichen Leichtigkeit, doch anscheinend nicht ohne schwere Kämpfe in den Seelen vieler Abgeordneter, verzichtete die Versammlung auch auf jeden Anspruch auf eine weitgehende Gemeindeautonomie.

Die Versammlung sprach sich in ihren Antworten auf die das Rabbinat betreffenden Fragen für die Abschaffung der Rabbinergerichtsbarkeit aus, wie auch für die Beschränkung der Tätigkeit der Rabbiner auf die religiösen Funktionen, wagte aber dabei nicht, irgendwelche Forderungen hinsichtlich der Organisation der jüdischen Gemeinden aufzustellen. Die Antworten der Versammlung auf die letzte Fragengruppe »bezüglich des Wuchers« bildeten eine lange Apologie der jüdischen Gesetzgebung, die die Wucherer niemals in Schutz genommen habe. Mit Entrüstung wies die Versammlung den Gedanken von sich, dass die Juden »eine natürliche Neigung zum Wucher« hätten: Gewiss gäbe es unter ihnen eine bestimmte Gruppe von Personen, die sich »diesem schändlichen, von ihrer Religion verpönten Beruf widmen«. Aber sollen denn Zehntausende für die Schuld eines Häufleins büßen?

Die in den Augustsitzungen des Jahres 1806 von der Versammlung ausgearbeiteten Antworten wurden dem Kaiser unterbreitet; im Großen und Ganzen befriedigten sie ihn.

Mit dem Instinkt eines gewohnten Eroberers begriff der Kaiser, dass er diesmal einen neuen Sieg davontrug – den Sieg über das Judentum.

Nun galt es, die Ergebnisse dieses Sieges zu festigen. Die Beschlüsse einer zufälligen Versammlung von Personen, unter denen sich sehr wenige Vertreter des geistlichen Standes befanden, konnten für die ganze jüdische Bevölkerung auch nicht bindend sein. Es musste also ein maßgebendes Organ ins Leben gerufen werden, das diese Beschlüsse bestätigen und ihnen bindende Bedeutung verleihen sollte.
Und da verfiel Napoleon, der eine Vorliebe für großartige Gesten hatte, auf den Gedanken, eine große alljüdische Synode, das Sanhedrin einzuberufen.
Aus den ihm unterbreiteten Antwortender Natabelnversammlung erfuhr er, dass das jüdische Volk seit dem Falle Judäas über kein Kollegium von autoritärer Macht verfügte, das mit dem großen alten Sanhedrin, welches die die Torah ergänzende Gesetzgebung ausgearbeitet hatte, zu vergleichen wäre. Um all diesen neuen Beschlüssen, die das jüdische Leben von Grund aus umgestalten sollten, besonderen Nachdruck zu verleihen, müsse man in Paris einen eigenen Sanhedrin einberufen, das ihnen die Weihe zu erteilen hätte.
Die neue Synode müsste nach dem Vorbild der alten ebenfalls aus 71 Mitgliedern, vornehmlich aus Personen geistlichen Standes und aus Gelehrten bestehen.
Da aber Napoleon andererseits befürchtete, dass die »fanatischen Rabbiner« in der künftigen Synode durch ihr numerisches und vielleicht auch geistiges Übergewicht die Liberalen verdrängen würden, so sorgte er rechtzeitig für die Sicherung einer gefügigen Zusammensetzung.
»Man muss«, schrieb er an den Minister des Innern, Champagny (3. September), »eine achtunggebietende Versammlung, yon Männern schaffen, die um die Wahrung und Aufrechterhaltung ihrer Errungenschaften (der Gleichberechtigung) besorgt wären, eine Synode jüdischer Führer, die sich scheuen würden, die Schuld am Unglück des jüdischen Volkes (wenn nämlich dem Kaiser unerwünschte Beschlüsse angenommen werden) zu tragen.«

Eine zuverlässige Mehrheit der Synode »wird die schüchternen Rabbiner mit sich reißen und auf die fanatischen unter ihnen, die möglicherweise einen zähen Widerstand an den Tag legen werden, einen entscheidenden Einfluss insofern ausüben, als sie sich vor dem Dilemma sehen werden, entweder die Beschlüsse (der Notablenversammlung) anzunehmen oder die Gefahr einer Vertreibung des jüdischen Volkes heraufzubeschwören.

In der Sitzung vom 17. September erklärten die Kommissare der Versammlung der Abgeordneten, dass die Beschlüsse der Versammlung den Kaiser zufriedenstellten, und verkündeten die bevorstehende Einberufung des »Großen Sanhedrins« (Grand Sanhedrin). Diesmal hielt Mole eine Rede, die bei weitem versöhnlicher klang. Er sprach von dem großartigen Anblick, den »diese Versammlung aufgeklärter, aus der Nachkommenschaft des ältesten der Völker gewählter Männer« gewährte; er versicherte, dass Napoleon der einzige Erlöser »der über den ganzen Erdball verstreuten Überreste einer auch in ihrem Falle herrlichen Nation« wäre; aber dieser mächtige Beschützer »fordere religiöse Bürgschaften« dafür, dass die in den Antworten der Versammlung niedergelegten Prinzipien streng gewahrt werden. Eine derartige Bürgschaft müsse von einer anderen maßgebenderen Versammlung ausgehen »deren Beschlüsse neben die des Talmuds gestellt und für die Juden aller Länder die größte Autorität haben sollten«. Das Große Sanhedrin sei berufen, den wahren Sinn der jüdischen Gesetze zu interpretieren »und die falschen Auslegungen der früheren Jahrhunderte« zu beseitigen.

Der Sanhedrin solle zu zwei Dritteln aus Rabbinern bestehen; letztere können aus der Zahl der Versammlungsabgeordneten entnommen, können aber auch von den Gemeinden neu gewählt werden. Das andere Drittel jedoch müsse auf dem Wege geheimer Abstimmung aus Laien gewählt werden. Der Kaiser beauftragt die jetzige Abgeordnetenversammlung das dem Sanhedrin vorzulegende Material vorzubereiten; sie werde aber auch nach dem Zusammentritt des Sanhedrins bis zum Abschlüsse seiner Arbeiten bestehen bleiben. Vorderhand müsse die Versammlung einen aus neun Mitgliedern bestehenden Organisationsausschuss wählen, in welchem alle drei Abgeordnetengruppen – »portugiesische«, deutsche und italienische Juden – gleicherweise vertreten sein sollen.

Dem Organisationsausschuss wird der Auftrag erteilt, »sämtlichen Synagogen Europas« mitzuteilen, dass sie ihre Abgeordneten zur Teilnahme am Sanhedrin schicken dürfen.
Die Versammlung, die in die Pläne Napoleons nicht eingeweiht war, nahm diese Mitteilung mit Begeisterung auf. Viele freuten sich aufrichtig über die traditionelle Form der bevorstehenden Synode; schon der bloße Name, der die glorreiche Vergangenheit in der Erinnerung hervorzauberte, brachte die Gemüter in Wallung.
Diese historische Dekoration verdeckte vor den einen die dreiste Anmaßung, das Judentum nach Weisungen der Obrigkeit erneuern zu wollen; die anderen wiederum sahen es wohl, aber billigten im Stillen das Vorhaben der Regierung. Einer von den Befürwortern der offiziellen Reformation, der Vorsitzende der Versammlung, Furtado, hielt in Erwiderung auf die Ansprache Moles eine lange begeisterte Rede.
Er verherrlichte den Kaiser, der die »Schicksale Europas reguliere« und der mitten in seinen Sorgen um den Erdball sich Zeit nehme und es für nötig erachte, an »unsere Wiedergeburt« zu denken, und brachte den Gedanken zum Ausdruck, dass jede »positive Religion« der Kontrolle der Regierung unterstellt werden müsse, um die Verbreitung von abergläubischen Vorstellungen und moralschädigenden Ideen zu verhüten. Die letzten Monate des Jahres 1806 und der Beginn des Jahres 1807 verliefen für die Notabelnversammlung in vorbereitenden Arbeiten für den Sanhedrin, die von. dem neungliedrigen Ausschuss unter Beteiligung der kaiserlichen Kommissare mit besonderem Eifer ausgeführt wurden. Anfangs Oktober erließ der Ausschuss einen Aufruf an sämtliche Juden Europas, in dem das »große Ereignis«, die Eröffnung des Sanhedrins, verkündet wurde; die Eröffnung sollte am 20. Oktober stattfinden (später wurde sie auf drei Monate verschoben): dieses Ereignis werde »für die zerstreuten Überbleibsel von Abrahams Nachkommen eine Periode der Erlösung und des Glückes« eröffnen.

Der in vier Sprachen – französisch, hebräisch, italienisch und deutsch – abgefasste Aufruf machte einen gewaltigen Eindruck, insbesondere auf die außerhalb Frankreichs lebenden Juden, die von den eigentlichen Triebfedern der vom Kaiser unternommenen parlamentarischen Organisation des Judentums nichts ahnten.

Im Dezember wurde ein vom »Ausschuss der Neun« ausgearbeiteter Entwurf der Organisierung jüdischer Konsistorien als Bindeglieder zwischen den Gemeinden und der Regierung von der Notabelnversammlung gutgeheißen. In einem erläuternden Zusatz zum Projekt wurde als Beweis für dessen Notwendigkeit nicht sowohl das Interesse der gemeindlichen Selbstverwaltung als vielmehr der Umstand angeführt, dass die genannten Konsistorien den Absichten der Regierung dienen, indem sie für die strikte Durchführung aller Beschlüsse der Abgeordnetenversammlung und des Sanhedrins, und unter anderem auch für die Heranziehung der jüdischen Jugend zum »edlen Kriegshandwerk«, sorgen werden. In all diesen Erklärungen und Beschlüssen läßt sich nur ein einziges Bestreben erkennen, und zwar das, dem Kaiser gefällig zu sein. In einer der letzten Notabeinsitzungen (5. Februar 1807) hielt ein junger Abgeordneter aus dem Departement der Seealpen, ein gewisser Isaak-Samuel Avigdor aus Nizza eine seltsame Rede: er bemühte sich, den »historischen« Nachweis zu liefern, dass die bedeutendsten Vertreter der christlichen Kirche sich zu allen Zeiten den Juden gegenüber freundlich verhalten hätten und deren Verfolgung verpönten, und dass sie daher auf den Dank des jüdischen Volkes Anspruch erheben dürfen.

Avigdor beantragte eine Resolution folgenden Inhaltes:
»Die an der jüdischen Synode teilnehmenden Abgeordneten des französischen Kaiserreichs und des italienischen Königreichs, die von den Gefühlen der Erkenntlichkeit für die fortwährenden Wohltaten der christlichen Geistlichkeit in vergangenen Jahrhunderten gegen die Juden verschiedener Ränder Europas geleitet werden und von Dankbarkeit für die Aufnahme erfüllt sind, die verschiedene Oberhäupter der Kirche (Päpste) und andere geistliche Würdenträger den Juden verschiedener Ränder in jenen Zeiten gewährten, als Barbarei, Aberglaube und Unwissenheit sich zur Verfolgung und Ausstoßung der Juden aus dem Schoße der Gesellschaft vereinten, fassen den Beschluss, den Ausdruck all dieser Gefühle im heutigen Protokolle der Versammlung niederzulegen, damit dies die Dankbarkeit der hier versammelten Juden für die von den kirchlichen Würdenträgern erwiesenen Wohltaten für immer besiegele. Eine Abschrift dieses Protokolls geht dem Kultusminister zu.«

Dieser seltsame Antrag wurde von der Versammlung angenommen.
Die Abkömmlinge der im Mittelalter aus Frankreich vertriebenen Juden, der Marranen und der Opfer der päpstlichen Inquisition verewigten in dieser Kundgebung die »Wohltaten« solcher Päpste, wie Innozenz III, Paul IV und der zeitgenössische Pius V, der Urheber des unmenschlichen »Judenedikts« von 1775. Eine derartig knechtische Gesinnung setzte sogar die der Sitzung beiwohnenden kaiserlichen Kommissare in Erstaunen, und einer von ihnen (Portalis) teilte es dem Kaiser als einen »pikanten« Fall mit: Juden preisen die Duldsamkeit und die Milde der katholischen Kirche zu einer Zeit, wo viele Christen »im Namen einer vermeintlichen Philosophie gegen den Fanatismus und die Unduldsamkeit der katholischen Geistlichen auftreten«. Wer von den beiden Parteien hier im Rechte war, konnte man aus einer Beschwerde ersehen, die gleichzeitig mit der Resolution der jüdischen Versammlung beim Kultusminister einlief: ein Jude, der das Amt eines Munizipalrates der Stadt Cogny bekleidete, beklagte sich, dass der dortige katholische Geistliche ihm den Eintritt in die Kirche an einem Tage verwehrt hatte, an dem ein Tedeum für den Kaiser verrichtet wurde… Natürlich verschaffte die katholikenfreundliche Kundgebung der jüdischen Abgeordneten dem Kaiser eine riesige Genugtuung: er gewann die Überzeugung, dass man sich auf eine derartig gefügige Versammlung getrost verlassen könne und dass die von ihr gewählten Mitglieder die Absichten der Regierung auf dem bevorstehenden Pariser Sanhedrin mit Erfolg durchsetzen würden.

Siddur für die Verwendung beim »Großen Sanhedrin« aus dem Jahr 1807

Der große Sanhedrin zu Paris.

Am 9. Februar 1807 wurden in Paris die Sitzungen des Sanhedrins eröffnet. Die Synode setzte sich aus 46 geistlichen Personen und 25 Laien zusammen, dazu 10 Stellvertretern und 2 Schriftführern.

Der überwiegende Teil der neu gewählten Rabbiner gehörte den italienischen und deutschen Provinzen an. Das vom Minister des Inneren ernannte Präsidium bestand aus 3 Rabbinern, die die Ehrentitel der Mitglieder des Präsidiums des alten Sanhedrins führen durften: als Präsident (nassi) fungierte der elsässische Rabbiner David Sinzheim, als sein erster Gehilfe (ab-betdin) der italienische Rabbiner Segre, als sein zweiter Gehilfe (chacham) Abraham de Cologna aus Mantua.
Nach einem Gottesdienstin der Synagoge, bei dem die Rabbiner Sinzheim und Cologna Reden hielten, wurde die Sitzung in einem der Räume derselben, »Hotel de Ville«, eröffnet, wo früher die »Notablen« getagt hatten.

Große Aufmerksamkeit wurde der dekorativen Seite der Sache zugewendet. Nach Anordnung der Behörden waren alle Mitglieder des Sanhedrins mit schwarzen Mänteln und schwarzen Hüten bekleidet, die Mitglieder des Präsidiums außerdem mit Talaren aus Samt oder Seide mit breiten Gürteln und pelzverbrämten Hüten. Die Mitglieder saßen im Halbkreise, zu beiden Seiten des Präsidiums, in einer nach dem Alter bestimmten Rangordnung. Die Sitzungen waren öffentlich und boten ein interessantes Schauspiel nicht nur für das jüdische, sondern auch für das christliche Publikum. Dies störte die Freiheit der Debatten und verurteilte viele Delegierte, die sich genierten, ihre tiefempfundenen, aber nicht modernen Überzeugungen auszusprechen, zum Schweigen., Und in der Tat bildeten die Sanhedrinsitzungen nur einen mit feierlichen Zeremonien umstellten Nachtrag zu der Arbeit, die von der Versammlung der Notabelndelegierten bereits vollendet worden war.

Der lebendige Zusammenhang zwischen diesen beiden Versammlungen machte sich auf eine drastische Weise geltend und lag klar vor aller Augen: der Vorsitzende der früheren Versammlung, Furtado, trat als Referent in den wichtigsten Fragen der Sanhedrinssitzungen auf. Der Sanhedrin brachte es im Verlaufe von sieben Sitzungen fertig, die Antworten der Delegiertenversammlung auf alle zwölf Fragen einer Prüfung zu unterziehen und außerdem einen schönen Vortrag Furtados über jede einzelne Frage anzuhören; die Antworten der früheren Versammlung wurden fast ohne Debatten und einstimmig angenommen; dargelegt wurden sie jedoch in der Form von »belehrenden Beschlüssen« (decisions doctrinales) mit Zusätzen in der Formulierung und im erläuternden Texte. In der neuen, dem Text der Antworten vorangeschickten »Deklaration« wurde die prinzipielle Stellungnahme des Sanhedrins zur Frage der Verträglichkeit der jüdischen Gesetze mit denen des Staates zum Ausdruck gebracht.
In dieser offensichtlich von Furtado inspirierten Deklaration wurde gesagt, dass die jüdischen Gesetze in zwei Kategorien eingeteilt werden müssen: in religiöse und politische. Die ersteren seien unveränderlich und weder an zeitliche noch an örtliche Bedingungen gebunden. Was jedoch die politischen Gesetze betrifft, die aus einer Zeit stammen, als das jüdische Volk ein selbständiges Dasein in seinem ehemaligen Heimatlande Palästina führte, so hätten sie »jede Wirksamkeit eingebüßt, seitdem das jüdische Volk aufgehört hat, einen nationalen Organismus zu bilden«. Aber auch die religiösen Vorschriften müssen bei einem eventuellen Zusammenstoße mit den staatsbürgerlichen Gesetzen vor diesen zurücktreten oder wenigstens sich ihnen anzupassen suchen – der letztere Gedanke wurde zwar in der einleitenden Deklaration nicht direkt ausgesprochen, gewann aber greifbare Gestalt in einer ganzen Reihe von Sanhedrinsbeschlüssen.
So hat beispielsweise der Sanhedrin in den mit der Ehescheidung zusammenhängenden Fragen die Ungültigkeit aller rabbinischen Entscheidungen betreffs Eheschließungen und Ehescheidungen beschlossen, denen nicht entsprechende standesamtliche Akt vorangegangen waren. In der Frage der Mischehen wurde dem betreffenden Beschluss eine sehr konziliante Form gegeben: solche Ehen bewahren ihre volle Gültigkeit in staatsbürgerlicher Hinsicht, und obwohl sie keine religiöse Sanktion erhalten können, ziehen sie doch kein Anathema nach sich. Über das Verschwinden des nationalen Familientypus bei Mischehen brauchte man sich keine Sorgen zu machen, nachdem das Judentum zu einer abgestorbenen Nation erklärt worden war…

Des ferneren beschloss der Sanhedrin, dass die jüdischen Soldaten während ihres Dienstes aller mit dessen Ausübung unvereinbaren religiösen Verpflichtungen enthoben werden. Und nur in den die Gewerbe und den Wucher betreffenden Fragen führte das Sanhedrin eine würdige Sprache, indem es die schändlichen Wuchergeschäfte aufs Entschiedenste verurteilte und die Stammesgenossen zu nutzbringenden, nunmehr allen zugänglichen Beschäftigungen aufrief. Die Tagung des Sanhedrins dauerte genau einen Monat. Die Schlusssitzung fand am 9. März 1807 statt.
Der Vorsitzende verlas ein Schreiben der kaiserlichen Kommissare, in dem es hieß, dass die Regierung die Arbeiten des Sanhedrins für glücklich abgeschlossen erachte. Das Sanhedrin wurde geschlossen, aber die meisten seiner Mitglieder kehrten zur Delegiertenversammlung zurück, die die Rolle einer allgemeinen Versammlung spielte und am 25. März ihre Sitzungen wieder aufnahm.
Furtado referierte über die Tätigkeit des Sanhedrins und redete im Tone eines Menschen, der eine mühevolle Heldentat vollbracht hatte.
Und nur als die Rede auf den alle Anwesenden peinlich berührenden Umstand kam, dass die Sanhedrinsmitglieder keiner Audienz beim Kaiser gewürdigt worden waren, verriet seine Rede eine etwas resignierte Wendung: die plötzliche Abreise des Kaisers an die Front habe ihn verhindert, die jüdischen Vertreter zu empfangen, sowie sie auch diese Vertreter daran verhindert habe, sich bei »unserem herrlichen Wohltäter« persönlich zu bedanken. In den darauffolgenden Sitzungen nahm die Versammlung nach langen Debatten eine Resolution an, worin dem Wunsche Ausdruck gegeben wurde, gegen all jene jüdischen Wucherer und Trödler mit äußerster Strenge vorzugehen, die durch ihr Benehmen zu verschiedenen Beschwerden Anlass geben und auf alle anderen »Glaubensgenossen« einen Schatten werfen; zugleich wurde jedoch beschlossen, Schritte zur Abschaffung des die Juden ruinierenden Erlasses vom 30. Mai 1806 zu unternehmen, der die Schuldforderungen annullierte.

Nach der Verlesung einer einfachen Erklärung der Kommissare, dass sämtliche der Versammlung überwiesenen Arbeiten nun beendet seien, wurde die Delegiertenversammlung am 6. April 1807 geschlossen.

Diese beiden jüdischen »Parlamente«, die ihre Entstehung einer Laune Napoleons verdankten, verloren für ihn nach und nach jedes Interesse. Anfangs wuchsen die Gelüste des Kaisers immer mehr in dem Maße, als die jüdischen Vertreter sich gefügiger und nachgiebiger zeigten.
Abgesehen von den bereits gemachten Konzessionen, erwartete er vom Sanhedrin folgende drei gegen die jüdische Bevölkerung gerichtete Maßnahmen:
das Verbot von Leihoperationen und die Beschränkung aller anderen Geschäftszweige für eine bestimmte Frist; die Förderung von Mischehen, die sogar einer bestimmten Norm unterliegen sollten: eine Mischehe auf zwei jüdische Ehen (»damit das jüdische Blut seine spezifischen Eigenschaften einbüße«); schließlich verlangte er, dass das Sanhedrin die genaue Erfüllung der Militärpflicht durch die Juden sicherstelle.

Das Bestreben Napoleons ging überhaupt darauf aus, durch Vermittlung der jüdischen »Vertreter« die Juden dauernd bevormunden zu können; das Sanhedrin sollte ihm die nötigen Handhaben dazu geben. Sein getreuer Diener, der Minister Champagny, war mit seinem Herrn in diesem Punkte eines Sinnes. »Diese Versammlungen«, schrieb er dem Kaiser, »sollen uns eine Waffe gegen sich selbst, wie gegen das durch sie vertretene Volk in die Hände spielen.« Dies war die Sprache, die die zwei Auguren der Politik in jenen Tagen führten, als die jüdischen Delegierten sich in Lobhymnen auf den »herrlichen Wohltäter, Napoleon den Großen« ergingen, den Gott zur Rettung der bedrückten »Nachkommen des alten Jakob« als »Werkzeug seiner Gnade« erkoren habe. Bald traten die geheimen Pläne des Kaisers ans Dicht, und die Juden bekamen seine »wohltätige« Hand am eigenen Leib zu spüren.

Münze, die zum Großen Sanhedrin geprägt worden.

»Das schmachvolle Dekret.«

Napoleon, der mit der Abänderung der Landkarte beschäftigt war, hatte nicht viel Zeit übrig, um an die Juden zu denken.
Das Jahr der »jüdischen Parlamente« (1806—1807) war zugleich das Jahr der schärfsten politischen Krisen: Der Rheinbund wurde ins Leben gerufen, Preußen wurde endgültig geschlagen und gedemütigt, aus Polen wurde das Herzogtum Warschau herausgeschnitten, der Tilsiter Friede wurde geschlossen.

Der Erschütterer der Throne, der Herrscher über das gebändigte Europa hatte unter diesen Umständen nicht die geringste Neigung, sich mit den jüdischen Angelegenheiten abzugeben. Zur Niederhaltung der Juden brauchte er weder Truppen noch kaiserliche Dekrete, und selbst gewöhnliche Verfügungen der Behörden genügten, um auf friedlichem Wege dasselbe Resultat zu erzielen. Die Beamten setzten das Werk ihres Herrn in dem gleichen Geiste fort. Als die Wirkungsfrist des Erlasses von der Einstellung aller Zahlungen an jüdische Gläubiger im Frühling 1807 abgelaufen war, verlängerte der kaiserliche Erzkanzler Cambaceres die Gültigkeit dieses gesetzwidrigen und ruinierenden Dekrets durch ein einfaches Rundschreiben auf unbestimmte Zeit, d. h. bis auf weitere Anordnungen des damals im Felde stehenden Kaisers. Das diesbezügliche Gesuch der Delegiertenversammlung wurde nicht beachtet; und auch in anderen Punkten blieben die Schritte der jüdischen Delegierten fruchtlos. Alle Hoffnungen des »jüdischen Parlamentes« scheiterten, als Napoleon, sich wieder Zeit nahm, an die jüdische Frage zu denken. In der verhältnismäßig kurzen Zeit zwischen der Einberufung und der Auflösung der Delegiertenversammlung schwankte der Kaiser in seinen Beziehungen zu den Juden; schließlich aber nahm seine natürliche Abneigung überhand. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, diesen Umstand durch die ungünstigen »Eindrücke« zu erklären, »die die jüdischen Massen Deutschlands und Polens auf den Kaiser während seines Feldzuges gemacht hatten«1); hier traten eher organische Ursachen Mutmaßung eines der erwähnten Kommissare, des späteren Kanzlers Pasquier, in seinen Memoiren. Er behauptet, dass Napoleon schon vor der Einberufung des Sanhedrins die Juden Deutschlands und Polens, wohin er einen Feldzug plante, an seine Seite habe bringen wollen. Ein anderer Memoirenschreiber (Barantes, bei Guizot zitiert) berichtet, dass die Erwartungen Napoleons sich erfüllt hätten: während seines Marsches durch Polen hätten ihm die dortigen Juden durch Lieferung von Proviant und wichtigen Nachrichten große Dienste geleistet. Der Kaiser habe im Scherz gesagt: »Dazu habe ich das große Sanhedrin gebraucht!« in Wirksamkeit: die ursprüngliche Abneigung des Kaisers gegen j die Juden und das Temperament des Eroberers, der es gewohnt war, den Knäuel komplizierter Fragen mit einem einzigen Hiebe zu durchhauen.

Nach der Auflösung der jüdischen Versammlungen wurden die Sanhedrinsbeschlüsse im Zusammenhänge mit den Gesetzentwürfen der drei Kommissare und der Minister mit großem Eifer im Reichsrate behandelt. Die Gesetzentwürfe empfahlen verschiedene Maßnahmen zur Beseitigung all jener wirtschaftlichen Reibungen in den Rheinprovinzen, die vor einem Jahre den Kaiser veranlaßt hatten, zu Repressalien und zur Befragung der jüdischen Delegierten zu greifen; es wurden auch Mittel zur Regelung der Judenfrage in staatsbürgerlicher Hinsicht und zur strikten Erfüllung der Militärpflicht durch die Juden angeregt; letzteres war in den Augen des kaiserlichen Soldaten eines der heiligsten Gebote. Die Mehrheit des Reichsrates, die auf die liberale Gesinnung noch nicht verzichtet hatte, verwarf an diesen Entwürfen alles, was das Hauptgebot der Verfassung – die bürgerliche Gleichberechtigung anzutasten drohte. Aber der Kaiser machte niemals viel Federlesens mit der Verfassung, wo sie seinem Willen zuwiderlief. Und am 17. März 1808 erließ der Kaiser ein Dekret, das nach dem Urteil des Kommissars Pasquier »durch seine Härte alle Grenzen der Gerechtigkeit« überschritt, oder mit anderen Worten – das durch die große Revolution aufgestellte Prinzip der Gleichberechtigung in brutaler Weise über den Haufen warf.

Zwei Dekrete waren es, die der Kaiser am 17. März unterschrieb.

Durch das eine wurde das von der Delegiertenversammlung ausgearbeitete Reglement der konsistorialen Einrichtung der jüdischen Gemeinden bestätigt. Nach diesem Reglement sollte in jedem Departement oder in jeder Gruppe von Departements, die 2000 jüdische Einwohner zählen, ein lokales Konsistorium und in Paris ein Zentralkonsistorium errichtet werden. Als Mitglieder eines jeden Konsistoriums sollten zwei oder drei Rabbiner und ebenso viele von einer kleinen Gruppe angesehener Bürger gewählte Laien figurieren. Sowohl die Wähler wie die Gewählten mussten von der lokalen oder zentralen Behörde bestätigt werden. Die Aufgaben des Konsistoriums bestanden im Folgenden: aufzupassen, dass die Rabbiner die jüdischen Gesetze nicht anders als im Geiste des »neuen Talmuds« – der Beschlüsse des Pariser Sanhedrins interpretieren; die Ordnung in den Bethäusern aufrechtzuerhalten; die Juden zu nützlichen Beschäftigungen, insbesondere zur Erfüllung der Militärpflicht, anzuhalten und den Behörden alljährlich eine Eiste mit Angabe aller einzuberufenden jungen Juden im betreffenden Bezirk zu unterbreiten…

So sah die Organisation der jüdischen Beamten aus, die ausersehen waren, den politischen, ja polizeilichen Absichten der Regierung zu dienen, nicht aber die Aufgaben einer freien Selbstverwaltung zu verwirklichen. Das kaiserliche Dekret, das diese Gemeindeverfassung bestätigte, wurde als ein »gnädiges« betrachtet. Es war dies die einzige organisatorische, durch die gemeinsamen Bemühungen der jüdischen Notablen und der napoleonischen Regierung ins Leben gerufene Aktion.
Die andere Reform bestand darin, dass in den offiziellen Schriftstücken nunmehr das Wort »israelite« statt des früher gebräuchlichen, einen verletzenden Beigeschmack enthaltenden Wortes »juif« immer häufiger aufzutauchen begann.

In den offiziellen Schriftstücken aus dem ersten Kaiserreiche kamen noch die beiden Ausdrücke nebeneinander vor; schließlich wurden aber die »Juden« von den »Israeliten« gänzlich verdrängt. Ein anderes Dekret Napoleons aus derselben unglückseligen Zeit, ein Dekret, das sich mit der Regelung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Juden befasste, sah einer Reform am wenigsten ähnlich. In den drei Teilen dieses ohne die Zustimmung des Reichsrates veröffentlichten Dekrets verfuhr Napoleon mit den Juden auf eine rein militärische Weise. Der erste Teil behandelt die Regelung der Kreditoperationen. An Stelle des Dekrets über die provisorische Einstellung der Zahlungen an jüdische Gläubiger treten folgende, wahrhaft drakonische Maßregeln in Kraft: Ungültig sind alle Forderungen »jüdischer Gläubiger an Militärpersonen, Frauen und Unmündige, wenn die Schulden ohne die Einwilligung der Militärbehörden, Gatten und Eltern gemacht worden sind. Der einem jüdischen Gläubiger von einem Angehörigen einer nichthandeltreibenden Klasse ausgestellte Wechsel wird von den Gerichten nur dann anerkannt, wenn der Jude den Beweis erbringen kann, dass der Betrag des Wechsels dem Schuldner voll und ohne Abzüge ausbezahlt worden ist. Geldgeschäfte, deren Zinsen 10% überschreiten, gelten als Wucher und werden vom Gericht nicht anerkannt. Auf diese Weise waren durch einen einzigen Federstrich die Vermögensrechte vieler Tausende von Bürgern verletzt, deren Schuld höchstens darin bestehen konnte, dass sie sich aus dem unter einem j ahrhundertlangen Druck entstandenen Kreise wirtschaftlicher Verhältnisse nicht mit einem Male loszumachen vermochten. Aber der Kaiser ließ es bei dieser Enteignung von Bargeld nicht bewenden: er schaffte die Gewerbe- und Handelsfreiheit überhaupt ab. Der zweite Teil des Dekrets enthält eine Reihe von Paragraphen, die es den Juden untersagen, irgendwelchen Handel ohne ein vom Präfekten des betreffenden Departements ausgestelltes »Patent« zu betreiben. Zur Erlangung dieses Patents ist die Vorweisung eines vom Munizipalrate und dem Kreiskonsistorium ausgestellten Zeugnisses erforderlich, das für die moralische und kommerzielle Zuverlässigkeit der betreffenden Person bürgt und alljährlich erneuert werden muss. Geschäftliche Abmachungen unpatentierter Juden werden für ungültig erklärt. In dieser Richtung weiterschreitend, verstieg sich Napoleon bis zur Abschaffung der Bewegungsfreiheit – des elementarsten Rechtes eines jeden Bürgers.

Der dritte Teil des Dekrets verbietet den Juden, sich in den Departements des Oberen und Unteren Rheins (Elsass) niederzulassen.
Was die anderen Departements des Kaiserreichs betrifft, so wird die Niederlassung nur solchen Juden gestattet, die daselbst Grundstücke behufs eigenhändiger Bebauung, aber keineswegs zu geschäftlichen Zwecken, ankaufen. In Bezug auf die Militärpflicht wird eine neue Rechtseinschränkung eingeführt: der Jude ist verpflichtet, persönlich im Heere zu dienen und hat nicht das jedem christlichen Rekruten zukommende Recht, sich durch einen Freiwilligen ersetzen zu lassen. Der Erlass vom 17. März schließt mit zwei »Verfügungen allgemeiner Natur«:

a) Das Dekret bleibt nur zehn Jahre in Kraft, denn die Regierung hofft, dass die Juden nach dieser Frist sich infolge der ergriffenen Maßnahmen »von den anderen Bürgern nicht unterscheiden werden«; widrigenfalls werden die Repressalien fortgesetzt werden,
b) Alle durch das Dekret festgesetzten Rechtseinschränkungen erstrecken sich nicht auf die Juden von Bordeaux und den Departements Gironde und Randes, die »keinen Anlass zu Beschwerden boten und keine unerlaubten Geschäfte betreiben«. Auf diese Weise vollzog sich der napoleonische Staatsstreich in der jüdischen Frage. Statt die im Verlaufe von Jahrhunderten entstandene und großgezogene wirtschaftliche Ordnung auf dem Wege von Reformen nach und nach umzugestalten, wollte er ihr durch den Machtspruch eines Befehls eine jähe Wendung geben und richtete dabei Tausende von Familien wirtschaftlich zugrunde. Anstatt die Krankheit zu heilen, befahl er, den Kranken durchzuprügeln. Die verwerflichen Kreditoperationen eines Teiles der jüdischen Bevölkerung beantwortete er durch eine grausame militärchirurgische Operation, die fast sämtliche Teile dieser Bevölkerung traf. Es wurde eine jener Enteignungen vollzogen, an die der kühne Heerführer in seinen Feldzügen von jeher gewohnt war; aber das Dekret vom 17. März wurde doch nicht in einem Kriegslager, sondern in den Tuilerien zu Paris erlassen, wo der bürgerliche Kodex, der mustergültige Code civil desselben Napoleons noch in Kraft war…

Und nicht nur der bürgerliche Kodex allein war verletzt: die grundlegenden Paragraphen der Verfassung wurden durch diesen Bruch mit der durch den Emanzipationsakt vom Jahre 1791 proklamierten staatsbürgerlichen Gleichberechtigung der Juden in rücksichtsloser Weise über den Haufen geworfen. Die meisten jüdisch-französischen Bürger gingen ihrer Gewerbe- und Bewegungsfreiheit für die Dauer von zehn Jahren verlustig, und viele wurden sogar ihrer Vermögensrechte beraubt… Furchtbar waren die Folgen dieser offiziellen Enteignung: im Elsass weigerten sich die christlichen Schuldner, selbst die unstrittigen und einwandfreien Schulden den jüdischen Gläubigern zu bezahlen. Die Bürgermeister vieler Städte verkündeten das kaiserliche Dekret mit absichtlicher Feierlichkeit, unter Trommelwirbeln, und die christliche Bevölkerung zog aus dieser pomphaften Zeremonie die entsprechenden Konsequenzen: der Jude steht außerhalb des staatsbürgerlichen Gesetzes. Die geschäftliche Betätigung der Juden war von einem System von Patenten umstrickt, und die Entziehung der Bewegungsfreiheit war für die bewegliche jüdische Bevölkerung die Quelle endlosen Elends. Noch schwerer als der materielle Ruin lastete der moralische Schlag auf einem durch die Revolution befreiten Volke, das im Kampfe um di? Freiheit seine Kraft vergeudet und in den militärischen Hekatomben des Kaisers sein Blut vergossen hatte. Das Dekret vom ij. März ist in der Geschichte unter dem Namen des »Schmachvollen Dekrets« (decret infame) bekannt. Sein verwerflicher Charakter überraschte jene »Notablen«, die noch an die Diebe Napoleons zu den Juden glaubten und in ihm den Helden der jüdischen »Wiedergeburt« sahen. Als der frühere Vorsitzende der Delegiertenversammlung, Furtado, und einige angesehene Mitglieder vom bevorstehenden Erlasse erfuhren, begaben sie sich in aller Eile nach der Residenz des Kaisers, Fontainebleau, um gegen diese Gesetzwidrigkeit zu protestieren; sie wurden aber nicht empfangen. Napoleon brauchte jetzt nicht die Dienste der jüdischen Notablen; unter dem Deckmantel des Friedens und der Freundschaft nahm er ihnen alles, was sich nehmen ließ, um sie dann zu überrumpeln. Nicht Napoleon war es, der die Juden getäuscht hatte, wie es viele Geschichtschreiber glauben, sondern die Juden hatten sich in ihm getäuscht, indem sie seine Bühnendekorationen für Wirklichkeit nahmen. Der Kaiser blieb sich treu: vor zwei Jahren ließ er im Reichgrate die Worte fallen, dass man auf die Juden nicht den bürgerlichen, sondern den politischen Kodex anwenden müsse, und nun hatte er auf sie seinen internationalen Kodex des Krieges und der Brandschatzung angewandt. Die Anwendung des »Schmachvollen Dekrets« wurde durch seinen gesetzwidrigen und gewalttätigen Charakter äußerst erschwert. Es regnete Klagen und Beschwerden seitens der Juden der verschiedenen Departements, besonders der südfranzösischen und italienischen, die Napoleon in seiner noblen Geste den »schuldbeladenen« Juden der rheinischen Provinzen in punkto Rechtlosigkeit gleichgestellt hatte. Die Regierung musste eine Reihe von Ausnahmen (exceptions) vom Gesetze des Jahres 1808 machen.

Vor allen Dingen wurde eine Ausnahme zugunsten der jüdischen Einwohner der Stadt Paris gemacht (26. April 1808), denen der Minister des Inneren, Grete, einen guten Leumund ausgestellt hatte (auf 2593 Juden kamen nur 4 Wucherer; im Heere dienten aber zu jener Zeit 150 Juden); dann wurden die Juden von Livorno und der zwanzig Departements des südlichen Frankreichs und Italien der Repressalien enthoben. Im Jahre 1810 beauftragte der Kaiser den Minister des Inneren, alle die Städte unter die Kategorie der ausgenommenen zu bringen, deren jüdische Bevölkerung sich eines derartigen Gnadenaktes würdig erweisen würde. Im Juli 1812, als der Todesengel schon die große napoleonisehe Armee in Russland umschwebte, schaffte der Kaiser das Verbot für die jüdischen Rekruten, sich durch einen Freiwilligen ersetzen zu lassen, ab.
Er hatte gesehen, wie die jüdischen Soldaten in den Reihen der todgeweihten Armee auf den Schlachtfeldern verbluteten, und hier begriff vielleicht der Eroberer die ganze Verwerflichkeit seines Angriffes auf ein Volk, das ihm sein Schicksal anvertraut hatte. Die gedemütigte und der staatsbürgerlichen Rechte beraubte Judenheit konnte gegen den Verletzer des Grunddogmas der Gleichberechtigung keinen Protest erheben; aber eine indirekte Verurteilung des gewalttätigen Aktes hörte man aus den untertänigsten Berichten der Minister heraus, die mitzuteilen wussten, dass die Juden nach Angaben der Präfekten und Konsistorien sich rasch »verbessern«.

»Die Wiedergeburt der Juden macht sich bereits bemerkbar,« berichtete der Minister des Inneren dem Kaiser im Jahr 18×1, »überall sind sie bestrebt, sich der Güte Eurer Majestät würdig zu erweisen, indem sie hoffen, die Ausnehmung vom Dekret zu erreichen«. Viele Präfekten berichteten, dass die Juden sich in immer größerem Maße den nützlichen Gewerben widmen und die Militärpflicht gewissenhaft erfüllen. In den italienischen Provinzen wies man mit Freude auf den Beginn »einer vollen Auflösung der Juden in die Massen der Franzosen« hin. Rühmend wird auch die patriotische Tätigkeit der Konsistorien hervorgehoben, die den Juden die Pflicht des Gehorsams gegen die Anordnungen der Regierungsorgane einschärfen. Im Juni 1810 unterbreitete das Pariser Zentralkonsistorium dem Minister des Inneren einen umfangreichen, auf Grund von Angaben der Landeskonsistorien zusammengestellten Bericht über die Tage der Juden in Frankreich.

Die jüdischen Beamten führen hier dieselbe servile Sprache, die im Munde der Mitglieder der jüdischen Parlamente noch zu entschuldigen, die aber nach dem »Schmachvollen Dekret« einfach beschämend war. Die Vertreter der Konsistorien berichten über die »Wiedergeburt der Israeliten«, indem sie den Kaiser als den »Helden unter den Gesetzgebern« und »Wohltäter« feiern. Die Zahl der Grundbesitzer, Fabrikanten, Vertreter freier Berufe, Militärpersonen, Studierenden an den allgemeinen Lehranstalten nehme immer zu.
Nach Angaben der Konsistorien entfielen auf die gesamte jüdische Bevölkerung des französischen Kaiserreichs (80 000 Seelen, abgesehen von der Bevölkerung der autonomen Königreiche) im Jahr 1810: 1232 Landwirte, 797 Militärpersonen, 2360 Kinder, die allgemeine Behranstalten besuchten oder sich für »nützliche Gewerbe« vorbereiteten. Es gab 250 Fabriken, deren Inhaber Juden waren. Diese »Wiedergeburt« der Juden wäre besser vonstattengegangen – gestattet sich das Zentralkonsistorium schüchtern zu bemerken – wenn sie von den Fesseln des harten Dekrets von 1808 befreit wären. Aber die Fesseln wurden ihnen nicht genommen.
In 44 von den 68 Departements des französischen Kaiserreichs herrschte noch der durch das »Schmachvolle Dekret« geschaffene Ausnahmezustand.
Erst der Sturz Napoleons und das Zeitalter der Restauration brachten eine Änderung der Lage mit sich. Durch eine Ironie des Schicksals waren es gerade die Männer der alten »Ordnung«, die eine der Errungenschaften der großen Revolution wiederherstellen mussten, die der »Sohn der Revolution«, Napoleon, in den Staub getreten hatte.


Simon Dubnow
Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789 – 1914
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