Die Hauptprozesse der neueren Geschichte der Juden

Emanzipation und Reaktion

Die neuere Geschichte der Juden in dem Zeitabschnitt zwischen 1789 und 1905, vom Beginne der ersten französischen bis zur ersten russischen Revolution, bietet uns zwei einander parallellaufende Reihe von Prozessen.
In der politischen Geschichte des Volkes wird die bürgerliche Emanzipation (oder der Kampf um diese) von der Reaktion (einer allgemeinen oder speziell antijüdischen) abgelöst. Dementsprechend geht in der Kulturgeschichte die Ablösung der Assimilation durch die nationale Bewegung oder wohl ein Wetteifern der einen mit der anderen vor sich. Diese zwei Reihen, die ihrerseits ihren Ursprung in den früheren Stadien des geschichtlichen Bebens der Judenheit haben, werden in der Verkettung der Geschehnisse der neueren Geschichte durch zahlreiche Fäden ineinander verwoben. Der Ausdruck. Emanzipation« zur Bezeichnung einer auf gesetzgeberischem Wege durchgeführten rechtlichen Gleichstellung der Juden mit allen anderen Bürgern des Bandes ist ein Erzeugnis der neuesten Zeit. Unter der Herrschaft der alten Gesellschaftsordnung, in der die Juden die Stellung nicht einer Gruppe von Bürgern, sondern die einer außerhalb der Bürgerschaft stehenden Kaste einnahmen, die vom Staate kraft einer besonderen Vergünstigung ein beschränktes Quantum von Rechten zuerteilt bekam, konnte wohl die Rede von Rechten nicht aber von einem Rechte, von bürgerlicher Gleichberechtigung sein.
Erst mit dem Moment des Entstehens des modernen Rechtsstaates, der den alten Polizei- und Ständestaat ablöste, konnte die »Emanzipation« zu einem politischen Faktum werden. Dieser Moment trat in Europa für Frankreich im Jahr 1789, für die anderen Bänder des Westens im Verlaufe des 19., für Russland tritt er im 20. Jahrhundert ein.
In dem Maße, wie die neue konstitutionelle Ordnung in verschiedenen Bändern Wurzel fasste, machte der Emanzipationsprozess in der Regel eine ganze Reihe von Stadien durch. Schon bei der Festlegung der neuen Ordnung wurde die Emanzipation bloß mitgedacht, als eine Folgerung aus dem in den Grundgesetzen vorgezeichneten allgemeinen Dogma von der bürgerlichen Gleichheit (»Deklaration der Rechte«, die ersten Paragraphen der europäischen Konstitutionen). Die allgemeinen Formeln der bürgerlichen Gleichheit erwiesen sich jedoch als ungenügend für die juridische Fixierung der Gleichberechtigung, der Juden. Es erhoben sich laute Stimmen, dass das Grundgesetz der Gleichheit auf die Juden nicht ausgedehnt werden dürfe. So lagen die Dinge nach der Veröffentlichung der Deklaration der Rechte, als die bürgerliche Gleichheit eben im Entstehen begriffen war. Dann entspann sich eine spezielle Erörterung der jüdischen Frage (in der französischen Nationalversammlung der Jahre 1789—1791 und.in den deutschen und. österreichischen Parlamenten des Jahres 1848), und nach einigem Schwanken wurde die Gleichberechtigung kraft der Notwendigkeit in formeller Weise gesetzlich bestätigt, denn es erwies sich als unmöglich, die Rechtlosigkeit des einen Teils der Bevölkerung mit der erneuerten staatlichen Ordnung, zu vereinbaren. Aber auch diese spezielle Anerkennung der jüdischen Gleichberechtigung stieß auf Hindernisse zweifacher Art: entweder war es die nach der Revolution einsetzende Reaktion, die die Grundgesetze aufhob, nachdem die erstere der Regierung die konstitutionelle Gesetzgebung abgerungen hatte, oder es war die christliche Gesellschaft, die sich mit der faktischen Gleichberechtigung der Juden nicht abfinden konnte.
Im ersteren Falle wurde die Gleichberechtigung auf juridischem Wege abgeschafft, im letzteren wurde deren praktische Verwirklichung faktisch verhindert. Reaktionen, die von Regierungen ausgehen, tragen einen vorübergehenden Charakter, und die abgeschafften Konstitutionen treten nach einiger Unterbrechung in voller oder eingeschränkter Gestalt wieder in Kraft. Einen bei weitem dauernderen Charakter nehmen die gesellschaftlichen. Reaktionen an, die der Widerstand, den die christliche Gesellschaft der Verwirklichung der juridisch bereits anerkannten Emanzipation entgegensetzt.
Eine derartige Reaktion tritt oft in der Form eines organisierten Kampfes auf (der Antisemitismus im Westen). Mancherorten ist sie nicht gegen die bereits‘ gesetzlich anerkannte Emanzipation gerichtet, sondern gegen den von den Juden ‚eingeleiteten Kampf für ihre Freiheit mit einem sich zäh behauptenden alten Regime (Russland). Auf Grund all dieser vorhin erwähnten Prozesse lässt sich eine Einteilung der neuesten politischen Geschichte der Juden in Zeitalter vornehmen, die im allgemeinen mit der der neuesten Geschichte Europas zusammenfällt, und die folgendermaßen dargestellt werden kann:
Das Zeitalter der ersten Emanzipation, der französischen (1789—1815), als. Frankreich seine Juden emanzipierte, und die anderen Staaten unter dem Einfluss der siegreichen Republik und des napoleonischen Kaiserreiches die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz konstituierten oder Schritte zur Besserung der« bürgerlichen Rage der Juden machten (Holland, Teile Italiens und Deutschlands, bis zu einem gewissen Grade Russland zu Beginn der Regierung Alexanders I.);
2. Das Zeitalter der ersten Reaktion, einer allgemeinpolitischen (1815—1840), als die Emanzipation allerorten, Frankreich und Holland ausgenommen, von einer gänzlichen oder teilweisen Rückkehr zur ersten bürgerlichen Entrechtung der Juden abgelöst wurde; .-D.as Zeitalter der zweiten Emanzipation der deutschen (1848—1881), als die Festlegung des konstitutionellen Regimes vornehmlich in den Ländern deutscher Kultur zur juridischen (aber nicht überall faktischen) Gleichberechtigung der Juden im Westen führte, und als die »Epoche der großen Reformen in Russland« die Emanzipationsbewegung und den Kampf um die Emanzipation innerhalb der östlichen Judenheit ins Leben rief. 4. Das Zeitalter der zweiten Reaktion, der antisemitischen (1881—190Z), als der gesellschaftliche Antisemitismus des westlichen Europas zu einer Macht wurde, die in vielen Ländern der faktischen Durchführung der vollen bürgerlichen und politischen Gleichberechtigung der Juden Hindernisse in den Weg legte, und die Judenfeindschaft des reaktionären Russlands für den Kern der Judenheit ein Regime von Pogromen und der schändlichsten Entrechtung schuf.

Assimilation und nationale Bewegung

In engem Zusammenhänge mit dem zwiespältigen äußeren Prozess der Emanzipation und Reaktion befindet sich der zwiespältige innere Prozess der Assimilation und der Nationalisierung. Unter Assimilation versteht man entweder das naturnotwendige Verschlungen werden des Juden von der Kultur der herrschenden Umgebung, das zu der Einbuße des jüdischen national-kulturellen Typus führt, oder auch das formelle Verzichtleisten des Juden auf seine von der Religiosität als solcher unabhängige nationale Eigenart und das Angegliedert werden an die herrschende Nation in jedem einzelnen Lande.
Dieser Entnationalisierung liegen zwei verschiedenartige Triebfedern zugrunde – die humanitäre und die utilitäre. Die erstere ist in der jüdischen Geschichte nicht neu. Unter dem Einfluss großer weltumspannender Kulturbewegungen entfaltete zu verschiedenen Zeiten die zentrifugale Tendenz in gewissen Schichten der Judenheit eine intensivere Energie als die zentripetale, die Hinneigung zu der »allgemein-menschlichen« Kultur der Peripherie überwog die zur urwüchsigen nationalen Kultur. So war es in Palästina in. der Zeit der Vorherrschaft der phönizischen und dann der assyrisch-babylonischen Kultur, so war es in ganz Vorderasien und Ägypten unter der Herrschaft der griechisch-römischen Kultur, so war es auch in der Zeit der arabischen Renaissance im Orient und in Spanien. Die westliche Judenheit, die jahrhundertelang ein vollständig in sich abgeschlossenes Dasein führte, konnte der europäischen aufklärerischen Bewegung des 18. Jahrhunderts und dessen kosmopolitischer Ideologie nicht widerstehen.

Die Epoche Mendelssohns und die der französischen Revolution entwickelten in «den oberen Schichten der jüdischen Gesellschaft eine ungeheure zentrifugale Kraft. Ihr Losungswort lautete: Vom Nationalen zum Allgemein-Menschlichen. Es begann der Prozess des Anschlusses der Juden an die westliche Kultur.
Da es aber im Westen in der Wirklichkeit gar keine einheitliche Kultur gab, sondern immer nur eine deutsche oder französische und überhaupt eine solche, die dieses oder jenes nationale Gepräge je nach dem Typus der Sprache, der Schule und der Literatur der herrschenden Nation trug, so machten sich auch die verschiedenen Gruppen des jüdischen Volkes in jedem Lande die entsprechende nationale Kultur zu eigen, d. i. sie verschmolzen mit den Franzosen, den Deutschen usw.
Die humanistische Bewegung artete in den Verzicht auf die jüdische Nationalität zugunsten der fremden Kultur des gegebenen Landes oder der gegebenen Provinz aus. Wäre nun diese natürliche zentrifugale Bewegung (bei der unnatürlichen Lage des jüdischen Volkes in der Diaspora) sich selber überlassen geblieben, so wäre sie mit der Zeit durch die normale Gegenwirkung ihrer Nebenbuhlerin in Schach gehalten worden; der verderbliche Prozess der Assimilation wäre in den dichten Massen des Volkes auf die alte elementare Tendenz nach dem Nationalen hingestoßen. Aber hier kamen zu den humanitären Beweggründen solche utilitäre Natur hinzu. In das Ringen um die Emanzipation wurde auch die Assimilation mit hineingezogen und diente als eine Kampfeslosung.
Die christlichen Gegner der Emanzipation suchten nachzuweisen, dass die Gleichberechtigung unmöglich einer abgesonderten Menschengruppe mit allen Merkmalen einer selbständigen Nationalität verliehen werden könne. Das Argument des Abbe Maurice in der berühmten Sitzung der Nationalversammlung im Dezember 1789: »das Wort Jude ist nicht der Name einer Sekte, sondern der einer« Nation« wurde von den Gegnern der Emanzipation im Verlaufe des ganzen 19. Jahrhunderts in allen Ländern ausgenutzt.
Darauf erwiderten die Verfechter der Emanzipation mit den charakteristischen Worten des Clermont-Tonnerre in derselben Sitzung: »Den Juden als Nation ist alles zu verweigern, den Juden als Menschen ist alles zu gewähren.« Nach langwierigem Kampfe trugen die Verfechter der Emanzipation den Sieg davon: die bürgerliche Gleichberechtigung wurde den Juden in der Annahme gewährt, dass sie in dem gegebenen Lande keine nationale; sondern eine religiöse Gruppe innerhalb der herrschenden Nation bilden würden.

Als Napoleon I. bereits nach dem Erlasse des Emanzipationsaktes.im Jahr 1791 über das Verhalten der Juden selber zu dieser Frage in Zweifel geriet, ließ er in Paris eine Versammlung jüdischer Vertreter aus dem ganzen französischen Reiche einberufen und rang ihnen unter Androhung der bürgerlichen Entrechtung die Formel der nationalen Selbstverleugnung ab (»Aujourd’hui que les juifs ne forment plus une nation1 et qu’ils ont l’avantage d’etre incorpores dans la grande Nation«…). Das Pariser Sanhedrin stand vor dem Dilemma: entweder das Judentum zu einer Nationalität und nicht Konfession zu erklären und der Wohltaten der bürgerlichen Freiheit, die sich auf das gesamte Napoleonische Reich erstreckte, mit einem Male verlustig zu gehen, oder aber sich durch das Eingeständnis, nichts weiter als Bestandteile der umgebenden Nationen des jeweiligen Staates zu sein, von seiner Nationalität loszusagen, und auf diese Weise die Gleichberechtigung zu erringen. Die utilitären Erwägungen gewannen die Oberhand, und der Abdikationsakt wurde unterzeichnet.
Übrigens konnten viele einen derartigen Akt für sich und für ihre Gesinnungsgenossen bona fide unterschreiben, denn die Zahl der kulturell assimilierten Juden im Westen war schon damals sehr bedeutend und nahm mit jedem Jahre zusehends zu. Eine der wichtigsten Ursachen dieses Wachstums der Assimilation bestand darin, dass die gebildeten Klassen der deutschen und der französisch-elsässischen Judenheit ihren Volksdialekt aufgegeben hatten, was durch die Propaganda der Mendelssohnschen Schule seit der deutschen Bibelübersetzung vorbereitet worden war. Die allgemeine Landessprache ebnete der Verdeutschung und Französierung den Weg in die jüdische Familie und die jüdische Schule. Die neuen Generationen wurden schon durch die Erziehung dem Judentum entfremdet. Die Generationen des »Berliner Salons«; Börne und Heine; Lassalle und Marx – das sind drei Etappen einer mehr und mehr zunehmenden Entfremdung. Wahr ist es allerdings, dass sich eine parallel laufende Strömung in der Generation der Erbauer des erneuerten Judentums, der eines Friedländer und Jakobsohn, eines Rießer und Geiger herausbildete, aber was war es denn, was diese den umgebenden Nationen im Namen des eigenen Volkes sagten? Sie wiederholten das Losungswort des Pariser Synhedrions: »Wir gehören der Nationalität nach den umgebenden Nationen an; es gibt keine jüdische Nation, sondern nur Deutsche, Franzosen, Engländer, die sich zur jüdischen Religion bekennen.« In diesen Erklärungen, die für gewöhnlich im Eifer des Kampfes abgegeben wurden, verwachsen humanitäre und rein utilitäre Erwägungen derart miteinander, dass es schwer wird, zu ermitteln, wo die einen enden und die anderen beginnen. Überall, wo die Emanzipationskämpfer des völligen Verschwindens des Judentums als Nation nicht ganz sicher waren, befahl ihnen ein gebieterischer Instinkt: so soll geredet werden – sonst werden wir nicht imstande sein, für die Gleichberechtigung zu kämpfen und den Kampf glücklich durchzuführen. Der Gedanke, dass eine Nation ohne Staat und selbst ohne Territorium berechtigt sei, staatsbürgerliche Rechte in vollem Maße samt solcher nationalen Art zu fordern, ist in den Köpfen noch nicht aufgedämmert. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die nationale Frage in der politischen Geschichte Europas noch nicht an die Reihe gekommen; sie tritt erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nach den vielen, im Jahr 1848 einsetzenden nationalen Freiheitskämpfen in den Vordergrund. Für einen Moment konnte es den Anschein gewinnen, dass das 19. Jahrhundert in der jüdischen Geschichte eine tiefe Furche, gezogen habe. Es schien, dass die älteste Nation, die ihren Bestand im Verlaufe von Jahrhunderten durch alle Stürme der Weltgeschichte hindurch rettete, gegen den Ansturm des 19. Jahrhunderts nicht mehr aufzukommen vermochte, dass sie nachgab, sich selber verleugnete und zu einer religiösen Sekte degradierte, deren Bruchteile in die umgebenden Nationen versprengt sind?‘ Es schien, dass die bona fides der einen und die pia frans der anderen in den Erklärungen der nationalen Selbstverleugnung, oder richtiger gesagt, die aus diesen beiden Elementen bestehende Mischung von den Völkern in gutem Glauben hingenommen wurde, dass die im Westen bereits zustande gekommene Krisis auch im Osten ihrer Verwirklichung unvermeidlich entgegenschreitet. Hier aber vollzog sich eine Krise der Krise. Der angehende Prozess des nationalen Zerfalls wurde, durch zwei Faktoren, von denen der eine negativer, der andere positiver Natur war, gebieterisch zum Stillstand gebracht – durch den westlichen Antisemitismus einerseits und durch das Schicksal des Kerns der Judenheit in Russland andererseits. Die Antisemiten aller Ränder sagten den Juden, die die Emanzipation auf dem Wege der nationalen Selbstverleugnung erworben hatten: »an eure Selbstverleugnung glauben wir nicht; bei all euren Bemühungen, mit uns zu verschmelzen, bleibt ihr uns fremd; ihr seid nicht nur Andersgläubige, sondern auch Fremdstämmige.«

Das Schicksal der russischen Judenheit wiederum verhalf vielen zu einer klaren geschichtlichen Erkenntnis, die sie eingebüßt hatten. Seit der kulturellen Umwälzung der Epoche Mendelssohns und der französischen Revolution gingen die Wege der westlichen und östlichen Judenheit auseinander; die frühere, auf einer strengen bürgerlichen und nationalen Absonderung aufgebaute Vorherrschaft der deutsch-polnischen Juden erfuhr eine Entzweiung ihres Wesens; die deutschen Juden verwarfen ihre alte Grundlage und schlugen den Weg der Aufklärung und der Assimilation ein; die polnischen Juden hingegen, die inzwischen unter vornehmlich russische und österreichische Herrschaft gerieten, bewahrten ihre Eigenart und erwiesen sich den neuen kulturellen Einflüssen schwer zugänglich. Diese vom Westen hinüberkommenden Einflüsse, die auch in den Osten eindrangen, verschafften auch hier der Assimilation, dem Kampf um die bürgerliche Gleichberechtigung und sogar den bewährten Methoden der Selbstverleugnung Eingang. (Die Periode zwischen 1860—1880.) Aber kaum fasste die kulturelle Krise in den tieferen Schichten der Gesellschaft festen Fuß, als die Reaktion der Jahre 1881—1905 mit ihren mittelalterlichen Verfolgungen und Pogromschrecken ausbrach. Die Schläge hagelten auf den östlichen Kern der Judenheit in einem Moment nieder, als einerseits in der dichtesten Masse der Bevölkerung der alte Vorrat an nationaler Energie noch nicht versiegt war, andererseits an den intelligenten Spitzen der Gesellschaft sich ein gewisses Quantum neuer sozialer Energie ansammelte, die zu einem Kampf um die Freiheit drängte. Die Verbindung dieser beiden Elemente rief eine kompliziertere Form des Daseinskampfes ins Leben, als es im Westen der Fall war: die nationale Freiheitsbewegung.

Die neue Bewegung fiel in zwei Richtungen auseinander: die eine ist auf die Ausscheidung der Judenheit oder eines Teiles derselben aus der Welt der Diaspora zum Zwecke einer Reorganisation auf autonomer Grundlage gerichtet. (Zionismus, Territorialismus); die andere, die eine derartige Ausscheidung in einem Maße, das fähig wäre, das ganze Leben der Nation zu beeinflussen, für undurchführbar hält, strebt auf dem Weg eines gleichzeitigen Kampfes lim, bürgerliche und nationale Rechte in jedem Lande eine national-kulturelle Wiederbelebung des jüdischen Volkes in der Diaspora an. Die-Vertreter der beiden Richtungen sind sich darin einig, dass die Juden den Kampf um ihre Freiheit nicht als Partikelchen fremder nationaler Organismen, sondern als Teile einer geschichtlich einheitlichen jüdischen Nation auszufechten haben. Im Momente der russischen Revolution des Jahres 1905, als der Kampf um die Emanzipation von der Mehrheit der jüdischen politischen Parteien unter jüdisch-nationaler Flagge geführt wurde, fanden diese Bestrebungen in bestimmten politischen Losungen ihren vollen Ausdruck. Wenn diese ganze Freiheitsbewegung durch die fatalen Bedingungen der russischen Wirklichkeit nicht diesen schweren Stoß erlitten hätte, so wären wir Zeugen einer dritten »Emanzipation«, der russischen, geworden, einer Emanzipation, die nicht unter einem russisch-nationalen Deckmantel, sondern Millionen russischer Bürger jüdischer Nationalität dargeboten worden wäre. Aber das Schicksal wollte es, dass der Moment dieser dritten Emanzipation hinausgeschoben, und einer neuen grausamen Reaktion der Weg geebnet wurde. Die innere Krise hat sich jedoch vollzogen. Der kulturelle Einfluss des jüdischen Westens auf den Osten machte gegen das Ende des Zeitalters dem entgegengesetzten Einfluss des Ostens auf den Westen Platz; die assimilatorische Strömung überlässt nach und nach der nationalen in ihrer modernen Gestalt die Führung; die erstere war typisch für das 19., die letztere verspricht es für das 20. Jahrhundert zu werden.


Simon Dubnow
Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789 – 1914
Zum Inhaltsverzeichnis