Die jüdische Welt am Vorabend des Jahres 1789

Die Grundlagen der alten Ordnung

Am Vorabend des Jahres 1789 hatte die politische und soziale Lage aller Gruppen des jüdischen Volkes in allen Staaten Europas einen im allgemeinen gleichartigen Charakter. Überall unterstanden die Juden einem speziellen Kodex des beschränkten Rechtes, dem eigenartigen »jus judaicum«, das an manchen Orten an völlige Entrechtung grenzte – einem Überbleibsel des Mittelalters, das je nach den lokalen Verhältnissen und der juristischen Findigkeit der Regierenden oder der herrschenden Klassen in verschiedenen Ländern verschiedene Schattierungen aufwies. Diese Grundfesten der alten Ordnung fanden ihren Ausdruck in folgendem:

A. In politischer und staatsbürgerlicher Hinsicht bildeten die Juden eine eigenartige Gruppe von Ausländern, die nirgends einen eigenen Staat besaßen und daher durch völkerrechtliche Traktate nicht geschützt waren. Unter mehr oder minder beschwerlichen Bedingungen, die von der Regierung oder auch von den feudalen und munizipalen Behörden der betreffenden Gegend diktiert waren, wurde ihnen gestattet, in bestimmten Bezirken zu wohnen und einige Berufe auszuüben. Es waren dies Abmachungen zwischen dem Wirtsvolk und den Ankömmlingen (wenn auch diese »Ankömmlinge« seit einer Reihe von Generationen in der betreffenden Gegend lebten), die die Vorteile der stärkeren Partei zur Grundlage hatten: dem »Ankömmling« wurde irgendeine dunkle Ecke als Wohnstätte zugewiesen, auch wurden ihm einige Kleingewerbe freigestellt, in denen seine Konkurrenz sich dem »Einheimischen« am wenigsten fühlbar machen sollte; als Ersatz dafür musste er ungeheure Gebühren als Schutzgeld an die Schatzkammer entrichten, abgesehen von einer ganzen Menge anderer spezieller Besteuerungen. In den meisten Ländern wurde allen Versuchen, die der Jude machte, um das ihm zugewiesene engbemessene Gebiet, wie auch den ihm freigestellten Kreis von Berufen zu erweitern, unüberwindliche Hindernisse in den Weg gelegt; selbst die natürliche Vermehrung der Juden wurde mancherorten von den Behörden in offizieller Weise verboten, indem die letzteren die Zahl der Eheschließungen regelten und dem Zuwachs der Bevölkerung einen Damm entgegensetzten. Die harte Reglementierung des jüdischen Bebens wurde in den beiden Hauptzentren der westeuropäischen Judenheit, Deutschland und Österreich, auf die Spitze getrieben. In den dichten Massen der osteuropäischen Judenheit (Polens und seines Erben Russland) hat die Reglementierung der elementaren Rechte des Juden das Gesetz der Vermehrung in direkter Weise nicht angetastet, aber im absterbenden Polen wurde das Beben des Juden durch spezielle, von den Königen, dem Adel oder den Munizipalbehörden ausgehende Konzessionen geregelt, die ihn als Angehörigen einer abgesonderten, außerhalb aller Staatsbürgerlichkeit stehenden Kaste behandelten; in den an Russland abgetretenen polnischen Provinzen hingegen machten sich schon Tendenzen zur Schaffung einer die Juden betreffenden ausschließlichen Gesetzgebung geltend.

B. Mit dieser staatsbürgerlichen Ausschließlichkeit ging auch die wirtschaftliche Hand in Hand. Die Regierenden, die herrschenden Stände, die Magistrate, Zünfte und Gilden drängten die jüdische Masse in einen sehr engen Kreis von Berufen und Gewerben hinein. Von allen wirtschaftlichen Betätigungsarten wurden den Juden im westlichen Europa nur der Kleinhandel und der Wucher zur Verfügung gestellt (selbst zum Handwerk wurde ihnen in den meisten Fällen der Zutritt verwehrt); in Südfrankreich, Holland und England konnte man hin und wieder Großkaufleuten, Fabrikanten und Bankiers begegnen; aber in Preußen und Österreich traten solche erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts hervor, als die »aufgeklärten«. Monarchen Friedrich II. und Joseph II. die Fabrikindustrie der Juden zu fördern suchten; darin lag aber schon der Ansatz zu einer, außerhalb der Volksmasse stehenden Geldherrschaft. Im östlichen Europa waren es vornehmlich das Kleinhandwerk und der Handel, die Pacht verschiedener Zweige der Bandwirtschaft auf den Bandgütern, insbesondere die Pacht der sogenannten »Propination« oder der Branntweinverkauf in den Städten und Dörfern, die die wirtschaftlichen Betätigungsarten der Juden bildeten. Die in die Schlupfwinkel der Volkswirtschaft gewaltsam hineingedrängte, notleidende jüdische Masse, deren wirtschaftliche Position durch ihre geringfügigen und vom Zufall abhängigen Verdienste keineswegs gesichert war, diente für die Umwelt als Sinnbild der wirtschaftlichen Ausgestossenheit. Solche aufgezwungenen Gewerbe, wie der Wucher im Westen und die Schankwirtschaft im Osten, verschärften das Erniedrigende in ihrer Stellung und weckten feindselige Gefühle gegen diese Stiefkinder des Vaterlandes.

C. In nationaler Hinsicht bildete die jüdische Masse der Diaspora bis in das Jahr 1789 hinein eine in sich geschlossene, charakteristische Einheit von eigenartiger Gestaltung des Gemeinde- und Geisteslebens. Ein Ergebnis dieser Lebensgestaltung ist die staatlich anerkannte Gemeindeautonomie der Juden. Ein gewisser geschichtlicher Prozess brachte es mit sich, dass tiefgreifende Faktoren nationaler Natur im Leben der jüdischen Masse mit solchen religiöser Natur so eng verwoben waren, dass es einem außenstehenden Beobachter scheinen konnte, als sei hier die Einheit lediglich auf rein religiöser Grundlage, auf der Gemeinschaft des Glaubens und der Riten aufgebaut. Daher die Meinungsverschiedenheit in der Definition des Judentums seitens der umgebenden Gesellschaft: Für die einen ist das Judentum eine scharf ausgeprägte stammeseinheitliche und nationale Individualität, die in der Hoffnung auf den Wiederaufbau ihrer Staatlichkeit in der Gestalt des messianischen Reiches lebt; für die anderen wiederum ist es bloß eine religiöse Gruppe oder Sekte, die unter günstigen Umständen einen Bestandteil der umgebenden Nationen ausmacht oder ausmachen kann. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, seit der Epoche der »Aufklärung« bringt diese Meinungsverschiedenheit eine Entzweiung in die jüdische Gesellschaft hinein. Die Grundfesten der Gemeinde- Autonomie, die einen jahrhundertelangen Bestand aufzuweisen hatte, beginnen zu wanken. Im Westen – unter den Schlägen des »aufgeklärten Absolutismus« der die Abgesondertheit des Judentums Ms ein Verbrechen betrachtete. Im Osten – infolge der Zersetzung des polnischen Zentrums der zwischen Preußen, Österreich und Russland verteilten Judenheit.

D. Auf dem Gebiete der geistigen Kultur tritt zu dieser Zeit zuerst die Spaltung zwischen den zwei maßgebenden Zentren des alten Judentums – Deutschland und Polen – zutage. Während die alte Kultur in Polen, die aus dem Rabbinismus keine genügende Nahrung gezogen, einen neuen Lebensborn in dem Chassidismus entdeckt und für eine gewisse Zeit diese Position festigt – entsteht ihr in Deutschland eine Gegnerin in Gestalt der in der Mendelssohnschen Epoche aufgetauchten »Aufklärung«. Die Bestrebungen dieser Bewegung gehen in ihren gemäßigten Elementen darauf aus, der jüdischen Kultur eine neue Gestalt zu geben, in ihren extremen Elementen hingegen diese Kultur zu zerstören. Die Ergebnisse dieser beiden einander widerstreitenden Tendenzen werden erst nach dem Jahre 1789 in die Erscheinung treten. Die alte Ordnung behauptete sich auf diese Weise am Vorabend des Jahres 1789 in ihrer ganzen Macht im wirtschaftlichen und staatsbürgerlichen Leben, und nur auf dem national-kulturellen Gebiete traten hie und da die ersten Anzeichen einer Umbildung auf. Wollen wir nun untersuchen, wie sich das alte Regime in den einzelnen Ländern äußert.

Deutschland

In seinem bekannten Buche unter dem Titel »Über, die bürgerliche Verbesserung der Juden« (Berlin 1781) gibt uns Christian Wilhelm Dohm ein« Bild der’Rechtlosigkeit der Juden in dem zersplitterten Deutschland und dem ihm verwandten französischen Elsass. Dieses Bild, das ein preußischer Publizist und Beamter, der im Namen der Staatsräson gemäßigte Reformen forderte, entwirft, zeichnet sich durch eine beinahe offizielle, auf Tatsachen fußende Genauigkeit und Exaktheit aus. »In einigen Staaten,« sagt Dohm, »hat man ihnen den Aufenthalt ganz versagt, und erlaubt nur für einen gewissen Preis den Reisenden, des landesherrlichen Schutzes für eine kurze Zeit (oder für eine Nacht) zu genießen. In den meisten anderen Staaten aber hat man die Juden nur unter den lästigsten Bedingungen nicht sowohl zu Bürgern als zu Einwohnern und Unterthanen aufgenommen. Nur einer gewissen Anzahl jüdischer Famüien ist es meistens erlaubt, sich in einem Lande niederzulassen, und diese Erlaubnis ist gewöhnlich nur auf gewisse Orte eingeschränkt und muss allemal mit einer ansehnlichen Summe Geldes erkauft werden… Hat ein jüdischer Vater mehrere Söhne, so kann er gewöhnlich die Begünstigung des Daseins in dem Bande seiner Geburt nur auf einen derselben fortpflanzen, die übrigen muss er mit einem abgerissenen Theüe seines Vermögens in fremde Gegenden ausschicken, wo sie mit gleichen Hindernissen zu kämpfen haben. Bey seinen Töchtern kömmt es darauf an, ob er glücklich genug ist, sie in einer der wenigen Familien seines Ortes einzuführen. Selten kann also ein jüdischer Vater das Glück genießen, unter seinen Kindern und Fnkeln zu leben, den Wohlstand seiner Familie auf eine dauerhafte Art zu gründen. Denn auch der wohlhabende wird durch die notwendige Trennung seiner Kinder und die Kosten ihres Etablissements an verschiedenen Orten, zu einer beständigen Zerreißung seines Vermögens gezwungen. Hat man dem Juden die Erlaubnis, sich in dem Staate aufzuhalten, bewilligt, so muss er dieselbe jährlich durch eine starke Abgabe wieder erkaufen, er darf sich nicht ohne besondere Erlaubnis, die von gewissen Umständen abhängt, und nicht ohne neue Kosten verheyrathen; jedes Kind vermehrt die Größe seiner Abgaben, und fast alle seine Handlungen sind damit belegt… Und bey diesen so mannigfaltigen Abgaben ist der Erwerb des Juden auf das äußerste beschränkt. Von der Ehre, dem Staat sowohl im Frieden als im Kriege zu dienen, ist er allenthalben ganz ausgeschlossen; die erste der Beschäftigungen, der Ackerbau, ist ihm allenthalben untersagt, und fast nirgends kann er liegende Gründe in seinem Namen eigentümlich besitzen. Jede Zunft würde sich entehrt glauben, wenn sie einen Beschnittenen zu ihrem Genossen aufnähme, und daher ist der Hebräer fast in allen Landen von den Handwerken und mechanischen Künsten ganz ausgeschlossen. Nur seltenen Genies (die, wenn vom Ganzen der Nation die Rede ist, nicht gerechnet werden können) bleibt bey so vielen niederdrückenden Umständen noch Muth und Heiterkeit, sich zu den schönen Künsten oder den Wissenschaften zu erheben, von denen, zugleich als Weg des Erwerbs betrachtet, nur allein Meßkunst, Naturkunde und Arzneygelahrtheit dem Hebräer übrigbleiben. Und auch diese seltenen Menschen, die in den Wissenschaften und Künsten eine hohe Stufe erreichen, sowie die, welche durch die untadelhafteste Rechtschaffenheit der Menschheit Ehre machen, können nur die Achtung weniger Edlen erwerben; bey dem großen Haufen machen auch die ausgezeichnetsten Verdienste des Geistes und Herzens den Fehler nie verzeihlich – ein Jude zu seyn. Diesem Unglücklichen also, der kein Vaterland hat, dessen Tätigkeit allenthalben beschränkt ist, der nirgend seine Talente frey äußern kann, an dessen Tugend nicht geglaubt wird, für den es fast keine Ehre gibt – ihm bleibt kein andrer Weg, des vergünstigten Daseins zu genießen, Jsich zu nähren, als der Handel. Aber auch dieser ist durch viele Einschränkungen und Abgaben erschwert, und nur wenige dieser Nation haben so viel Vermögen, dass sie einen Handel im Großen unternehmen können. Sie sind also meistens auf einen sehr kleinen Detailhandel eingeschränkt, bey dem nur die öftere Wiederholung kleiner Gewinne hinreichen kann, ein dürftiges Üben zu erhalten; oder sie werden gezwungen, ihr Geld, das sie selbst nicht benutzen können, an andere zu verleihen.« In den zahlreichen großen und kleinen Staaten, in die das damalige Deutsche Reich zerfiel, variierte die gegen die Juden gerichtete Politik der Unterdrückung nur innerhalb der Grenzen der obenerwähnten Grundnormen. Den drückendsten Beschränkungen unterlag das Recht der Freizügigkeit. An allen Grenzstationen der dreihundert Zwergstaaten des damaligen Deutschlands waren dem gehetzten Tiere – dem Juden – Fallen gestellt. Wenn ein Jude von dem einen Staat in den anderen, oft auch von der einen Stadt in die andere innerhalb der Grenzen desselben Randes hinüberkam, so musste er bei seiner Ankunft am Bestimmungsort dieselbe Steuer entrichten, die für die Einfuhr von Vieh festgesetzt war. Es war dies der schändliche Leib- oder Geleitzoll (Judengeleit), der den reisenden Juden zur Zielscheibe des Spottes an den Toren und Grenzstationen vieler deutscher Städte machte. Und nur die privilegierten sogenannten Schutz- oder Geleitjuden konnten sich unter Beobachtung erniedrigender Formalitäten bei Reisen auf dem Gebiet des sie beherbergenden Staates von diesen Abgaben befreien, aber an der Grenze der Besitztümer irgendeines anderen Herzogs, Fürsten oder Kurfürsten angelangt, waren auch diese Juden verpflichtet, den Leibzoll zu zahlen. Als der bereits berühmt gewordene Denker Moses Mendelssohn im Jahr 1776 in die Hauptstadt Sachsens, Dresden, einzog, wurde er an der Grenze angehalten und gezwungen, den Leibzoll nach der für einen »polnischen Stier« festgesetzten Taxe zu zahlen, wie sich der beleidigte Berliner Weise nachher mit bitterer Ironie ausdrückte. Nach der »Judenordnung« von 1746 war es den Juden erlaubt, in Sachsen (Dresden und Leipzig), diesem protestantischen Spanien, unter sehr lästigen Bedingungen und in begrenzter Zahl zu wohnen. Es war ihnen verboten, ein Bethaus behufs öffentlichen Gottesdienstes zu besitzen, und sie waren genötigt, ihre Gebete unauffällig und leise in einem privaten Hause zu verrichten; ferner war es ihnen verboten, Häuser zu erwerben, Gewerbe und Handel zu treiben; und nur der Handel mit alten Kleidern und das Wechselgeschäft waren ihnen gestattet.
Alle diese Härten wurden in der Folge (1767, 1772—73) noch verschärft. Die Polizei paßte scharf auf, dass in den Häusern der »geduldeten« Juden sich nicht ihre kein Wohnrecht habenden Stammesgenossen heimlich aufhielten. Das Schutzgeld wurde bis zu der ungeheuren Summe von 70 Talern für jeden Familienvater, von 30 Talern für dessen Frau und 5 Talern für jedes von seinen Kindern erhöht. Für eine Heiratserlaubnis wurden 40 Taler erhoben. Viele Familien, die die Last dieser Steuern nicht zu ertragen vermochten, sahen sich der Ausweisung aus Dresden ausgeliefert, und nur dem Eingreifen Mendelssohns ist es zu verdanken, dass die Vertreibung vieler Hunderte von Unglücklichen nicht zur Ausführung kam. Das katholische Bayern wetteiferte mit der Geburtsstätte des Protestantismus in der Unterdrückung der Juden. Hier hatten die Juden ihre in sich abgeschlossenen Gemeinden oder Ghetti nur in einigen Städten; an vielen Orten war ihnen das Wohnen untersagt; nur in Handelsangelegenheiten, und für kurze Dauer unter polizeilicher Bewachung, nach Art der Sträflinge (»lebendiges Geleit« in Nürnberg) wurde ihnen der Zutritt zu diesen Orten gewährt, und nur in Fürth gelang es den Juden, eine rege kommerzielle Tätigkeit zu entfalten. Zur besonderen Blüte gelangte das mittelalterliche Ghettoregime in der freien Reichsstadt Frankfurt a. M., wo sich eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands befand. Die die Stadt verwaltende bürgerliche Oligarchie, von lutherischer Unduldsamkeit und Krämergeist durchdrungen (auch Katholiken und Reformierte waren in ihren Rechten beschnitten), zwängten den Juden in das dunkelste Kellerloch des gesellschaftlichen Gebäudes. Nicht umsonst wurde das Frankfurter Ghetto oder die »Judengasse« »das neue Ägypten« genannt. Ungefähr 500 jüdische Familien, unter denen sich viele wohlhabende und gebildete Menschen befanden, waren in einem entsetzlich engen Raume zusammengepfercht. Keinem einzigen Juden war es erlaubt, außerhalb der Grenzlinie des Judenviertels zu wohnen. Die Ghettobewohner durften sich nur am Tage in die Stadt begeben, an Sonntagen jedoch mussten sie auch am Tage im Ghetto bleiben. Mit dem Anbruch der Nacht wurde das Ghettotor verriegelt, und eine Polizeipatrouille wachte darüber, dass niemand ohne zwingenden Grund herauskam. In einem dieser Sklavenhäuser wurde im Jahr 1786 Ludwig Börne geboren, der sich in der Folge einen ruhmreichen Namen als Kämpfer für politische Freiheit erwarb und der seine ersten Kindheitseindrücke vom Frankfurter Ghetto in folgenden Zeilen voll beißenden Spottes schilderte: »Ehemals wohnten sie in einer eigenen Gasse, und dieser Fleck war bestimmt der bevölkertste auf der ganzen Erde… Sie erfreuten sich der zärtlichsten Sorgfalt ihrer Regierung. Sonntags durften sie ihre Gasse nicht verlassen, damit sie von Betrunkenen keine Schläge bekämen. Vor dem 25. Jahre durften sie nicht heiraten, damit ihre Kinder stark und gesund würden. An Feiertagen durften sie erst um sechs Uhr abends zum Tore hinausgehen, dass die allzu große Sonnenhitze ihnen nicht schade. Die öffentlichen Spaziergänge außerhalb der Stadt waren ihnen untersagt, man nötigte sie, ins Feld zu wandern, um ihren Sinn für Landwirtschaft zu erwecken. Ging ein Jude über die Straße, und ein Christ rief ihm zu: Mach Mores, Jud’! – so musste er seinen Hut abziehen; durch diese höfliche Aufmerksamkeit sollte die Liebe zwischen beiden Religionsparteien befestigt werden. Mehrere Straßen der Stadt, die ein schlechtes unbequemes Pflaster hatten, durften sie niemals betreten.« Den Ghettobewohnern war es verboten, sich während öffentlicher Prozessionen und Feierlichkeiten auf den Straßen zu zeigen. Am Krönungstage des Kaisers Leopold II. wurden von der Stadtkanzlei Passierscheine folgenden Inhalts gnädigst ausgestellt: Der Inhaber dieses darf sich am bevorstehenden Krönungstage in die Stadt begeben, um der Feier aus den Fenstern irgendeines Hauses oder von einem Gerüst aus, aber keineswegs auf der Straße zuzuschauen. Bei einer Bevölkerungszahl von 500 Familien durfte die Norm der jüdischen Eheschließungen in Frankfurt die Zahl 12 nicht überschreiten. Die Fürsten und Regierungen der deutschen Staaten machten kein Hehl aus den Beweggründen ihrer gegen die Vermehrung der Juden gerichteten Pharaonenpolitik. Der mecklenburgische Herzog Friedrich Franz I., der im Rufe eines »liberal Denkenden« stand, verordnete gleich nach, seiner Thronbesteigung, dass den Juden keine »Schutzbriefe« – Aufenthaltsbewilligungen – über die einmal festgesetzten Normen hinaus ausgestellt werden dürfen, »bis ein Teil der früheren Schutzjuden aussterben und dadurch ihren Glaubensgenossen die Möglichkeit eines Unterhalts eröffnen wird«; erwachsene Söhne durften nicht auf Grund des Wohnrechtes ihrer Eltern sich im Lande aufhalten, sondern mussten den Nachweis liefern, dass sie über ein eigenes Kapital oder gesicherte Einnahmen verfügen. Die Regulierung der jüdischen Bevölkerung wurde hier mit der Sorge um ihre Nahrungsquellen bemäntelt; zu gleicher Zeit aber trafen Regenten, Magistrate und Zünfte allerhand Maßnahmen, um den Juden die meisten dieser Quellen zu verschließen, und dadurch der Ausweisung ihres »Überflusses« eine gesetzliche Begründung zu geben. Die Nichtzulassung der Juden zu den Zunftgewerben motiviert die badische Regierung damit, dass »die Juden bei ihren Fähigkeiten in manchen Zweigen Geschicklichkeit erreichen und die Verdienste an sich reißen würden«. Rücksichten der Handelskonkurrenz lagen ebenfalls all jenen drückenden Erschwerungen der wirtschaftlichen Tätigkeit zugrunde, unter denen die große jüdische Kolonie der Industriestadt Hamburg lebte. Viele Zweige des Handels und des Handwerks waren den Juden unzugänglich. Der Erwerb von unbeweglichen Gütern war ihnen untersagt; in die städtischen Schulen wurden Kinder jüdischer Eltern, selbst wenn sie wohlhabenden und gebildeten Familien angehörten, nicht aufgenommen. Bei der Ankunft in eine Stadt musste ein Jude aus einer anderen Stadt den »Geleitsgulden« und dann noch den Schutztaler zahlen. Das Ansiedelungsgebiet der Juden in Hamburg war begrenzt, wenn auch nicht so abgeschlossen wie das Frankfurter Ghetto.

Preußen.

Die Reglementierung der staatsbürgerlichen Knechtung der Juden artete nirgends in solche Ungeheuerlichkeiten aus, wie in Preußen zur Aufklärungszeit Friedrichs II. des Großen. Hier war das ganze Leben der Juden durch die harten Paragraphen des Friederizianischen Reglements für die Juden« wie mit ehernen Fesseln umklammert. Seiner inneren Tendenz nach unterschied sich dieses Reglement, die Frucht der schöpferischen Phantasie eines an die kirchlichen Satzungen nicht glaubenden, freidenkerischen Königs nur sehr wenig von den mittelalterlichen kanonischen Statuten und der judenfeindlichen Gesetzgebung des westgotischen Spaniens. -Durch das Reglement von 1750 und die nachträglichen Erläuterungen zu diesem wurden die Juden des Königreichs Preußen unter die zwei Hauptkategorien der Schutz- und der geduldeten Juden gebracht.

Die Schutzjuden zerfielen ihrerseits nach Maßgabe der ihnen gewährten Rechte in drei Gruppen:
1. Die Generalprivilegierten genossen das Wohn- und Gewerberecht auf Grund eines königlichen Privilegs, das sich auf alle ihre Familienangehörigen und auf alle den Juden als Wohnstätte angewiesenen Orte erstreckte.
2. Die ordentlichen Schutzjuden wohnten auf Grund eines Schutzbriefes, in welchem genau angegeben wurde, in welchen Orten sie sich aufhalten, welche Gewerbe sie treiben durften, und auf welche Familienangehörigen sich diese Genehmigung erstreckte; die ordentlichen j Schutzjuden durften ihre Rechte nur auf eines ihrer Kinder übertragen, aber im Falle einer besonderen Befürwortung und unter der Bedingung eines soliden Kapitalbesitzes durften sie es auch auf zwei Kinder übertragen; den anderen Kindern war das Handelsrecht entzogen.
3. Die außerordentlichen Schutzjuden genossen das persönliche, lebenslängliche Recht, sich in einem bestimmten Orte aufzuhalten und ein bestimmtes Gewerbe zu betreiben, aber dieses Recht konnte auf ihre Kinder nicht übertragen werden; zu dieser Gruppe gehörten Ärzte, Maler und andere freie Gewerbe ausübende Personen.

Der Kategorie der »geduldeten Juden« gehörten Personen an, die ein Amt in der Gemeinde ausübten (Rabbiner, Vorbeter, Schächter), die Kinder der »ordentlichen«, außer den beiden älteren, sämtliche Kinder der »außerordentlichen« Juden, das Hausgesinde u. a.; ihnen war in verschiedenem Grade verboten, Gewerbe und Handel zu treiben und Ehen untereinander zu schließen (nur durch Verschwägerung war ihnen die Möglichkeit geboten, in die Familien der »privilegierten« Juden einzutreten). Über die Beobachtung all dieser drakonischen Gesetze wachte ein von der Regierung eingesetztes Generaldirektorium, bestehend aus Mitgliedern des Ministeriums des Innern und des der Finanzen, das alle jüdischen Angelegenheiten in Preußen unter seiner Aufsicht und Leitung hatte. In der von den Abgeordneten der jüdischen Gemeinden der preußischen Regierung im Jahr 1787 überreichten Denkschrift werden alle Belastungen und Einschränkungen aufgezählt, die das Leben der Juden in Preußen vergällten. Die speziellen Besteuerungen nahmen ungeheure Dimensionen an. Im Vordergründe stand das sogenannte Schutzgeld, das der Staatskasse eine jährliche Einnahme von 25 000 Talern brachte und von der gesamten jüdischen Kolonie Preußens unter gegenseitiger Bürgschaft gezahlt wurde. Dann folgten: die Rekrutensteuer, die Silberakzise (kein Mensch weiß, wofür diese Steuer erhoben wird – erklären die Deputierten), eine Steuer für die Bestätigung der jede drei Jahre erfolgenden Wahlen der Vertreter der Gemeinde, -die Feuerwehrgebühr, verschiedene Arten der Stempelsteuer und viele andere. Als sehr charakteristisch erscheint die bei Ausfertigung von Ehebewilligungen für jede unter den Juden geschlossene Ehe erhobene »Ehesteuer«; die Steuerzahler zerfielen in einige Kategorien, die von 20 bis 80 Taler für jede Ehebewilligung und außerdem noch eine besondere Gebühr von 14 Talern für jeden Trauschein zahlten; bei der zweiten Ehe wurde eine Zuschlaggebühr erhoben. Solche beträchtlichen Steuern machten unvermögenden Leuten das Eingehen einer Ehe unmöglich. Die natürlichen Folgen der Ehe flößten den Ehepaaren noch größere Angst ein. Für die Registrierung jedes der Kinder musste man an die Staatskasse bis zu 160 Talern zahlen. Das berühmte Geleit wurde nicht nur von ausländischen, sondern auch von einheimischen Juden bei ihrer Übersiedelung von der einen preußischen Provinz nach der anderen erhoben. Die Behandlung der Steuerzahler, erklären die obenerwähnten Deputierten, ist äußerst demütigend und degradiert den Juden zum Vieh. Im Jahre 1788 befreite das Gesetz die preußischen Juden von dem Geleit, indem es letzteres nur für ausländische Juden als obligatorisch erklärte; aber dadurch wurde die demütigende Prozedur des »Durchlasses« nicht beseitigt, denn um einen steuerfreien Passierschein zu erhalten, musste der Jude bei den städtischen Torwachen seine preußische Staatsangehörigkeit dokumentarisch beweisen. Übrigens sicherte ein derartiger Passierschein in einigen Provinzen (Vorpommern und anderen) dem Juden einen Aufenthalt von nur 24 Stunden. Als Gipfel der Findigkeit der Regierung Friedrichs II. muss die bekannte, für alle preußischen Juden im Jahr 1769 festgesetzte Porzellain-Exportation-Steuer bezeichnet werden. Jeder Jude wurde beim Eingehen einer Ehe, dem Ankauf eines Hauses und dem Abschließen anderer zivilrechtlicher Verträge verpflichtet, aus der königlichen Fabrik Porzellanfabrikate im Betrage einer, bestimmten Summe (bis 300 Taler) zu kaufen, und diese Fabrikate, wenn auch mit Schaden, im Auslande abzusetzen. Diese aufgezwungene Förderung der vaterländischen Industrie brachte den Juden Preußens im Zeiträume von nur 8 Jahren (1779—87) Verluste aus gekauftem Porzellan im Betrage von 100 000 Talern; bei denjenigen, die nicht kapitalkräftig genug waren, um die ihnen aufgedrängte Ware zu bezahlen, wurden die Häuser gepfändet und verkauft. Und auch nach allen diesen Eintreibungen blieben die Juden der Staatskasse eine beträchtliche Summe schuldig (im Jahr 1786: 52000 Taler). Erst im Jahr 1788 befreiten sich die jüdischen Gemeinden durch Zahlung einer einmaligen Abfindungssumme von dieser Porzellansteuer. Das Berliner Porzellan der königlichen Manufaktur war im In- und Auslande unter der ironischen Benennung »Juden-Porzellan« bekannt. Welches waren denn die Rechte, die den Juden als Entgelt für alle diese schweren Opfer zugunsten der Staatskasse geboten wurden? Trotz des Überflusses an freiem Ackerland in dem damaligen Preußen war den Juden der Ackerbau verwehrt; Uändereien und landwirtschaftliche Betriebe zu erwerben oder auch bloß in Pacht zu nehmen, war ihnen verboten, ebenfalls war ihnen untersagt, Branntweinbrennereien und Bierbrauereien zu besitzen. Die in allen Städten sich breitmachenden Gewerbezünfte schnitten den Juden den Zutritt zu jeglichem Gewerbe ab und nahmen keine jüdischen Kinder als Eehrlinge auf. Selbst auf dem den Juden zur Verfügung gestellten Gebiete des Handels blieben ihnen ganze Zweige verschlossen (der Handel mit hebensmittein, der Hausiererhandel). In einigen Handelsstädten (Stettin, Magdeburg, Kolberg, Elbing) war ihnen überhaupt der Aufenthalt verboten. In dem den Juden zugewiesenen Ansiedelungsrayon wachte die Administration darüber, dass sie an Zahl nicht Zunahmen. Selbst die »ordentlichen Schutzjuden« durften nicht mehr als zwei erwachsene Kinder in das Register ihrer Familienangehörigen aufnehmen; was darüber hinausging, musste auswandem. Dies brachte den Zerfall und den materiellen Ruin der Familie mit sich. Ein Jude, der sich irgendwelches Vermögen erworben, musste einen beträchtlichen Teil davon für die ausgewanderten Kinder, die in fremden Randen ihren- Unterhalt suchten, hergeben. Der jüdische Familienvater durfte sich nicht des Glückes erfreuen, im Kreise der Seinigen, der Kinder und Enkel zu weilen. Er war genötigt, sich von seinen Angehörigen zu trennen und sein Vermögen zu zersplittern. In Königsberg bestand die christliche Kaufmannschaft darauf, dass den Juden keine neuen Begünstigungen hinsichtlich ihres Wohnrechts zuteilwerden, damit ihre Zahl nicht zunehme.
Auf das Gesuch zweier jüdischer Kaufleute aus Berlin, Itzig und Ephraim, die um Schutz ihrer Handelsrechte baten, schrieb Friedrich II. folgende barsche Resolution: »Was wegen ihres Handels ist, behalten sie. Aber dass sie ganze Führerschaften von Juden zu Breslau anbringen und ein gantzes Jerusalem draus machen wollen, das kann nicht seynd.« Der König wachte sogar eifrig über alle Kuriositäten der alten »Gesetzgebung« betreffs der Juden. Auf Grund eines unsinnigen Ediktes vom Jahre 1737, das alle verheirateten Juden zum Tragen eines Bartes verpflichtete, beantwortete er abschlägig das Gesuch eines reichen Juden, der um die Erlaubnis, sich den Bart abnehmen zu lassen, nachsuchte. Kein Wunder, dass der berühmte Mirabeau, der im Todesjahre Friedrichs Berlin besuchte, einige von seinen Gesetzen betreffs der Juden »würdig eines Kannibalen« nannte (loi digne d’un canibale).

Rechtlosigkeit und Aufklärung

Die Schmach der jüdischen Rechtlosigkeit in Preußen fiel besonders im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts auf, als sie sich in einen schroffen Widerspruch zu dem kulturellen Erwachen der jüdischen Gemeinschaft unter dem Einfluss der Aufklärungsbewegung der Mendelssohnschen Epoche setzte. Mendelssohn selber, der die Gedankenwelt eines beträchtlichen Teiles der deutschen Gesellschaft beherrschte, der Prototypus Nathans des Weisen, war in politischer Hinsicht ein rechtloser, geduldeter Jude, der das Wohnrecht in Berlin als Buchhalter einer Fabrik genoss. Marquis d’Argens, der zu Friedrich II. in freundschaftlichen Beziehungen stand und Mendelssohn zugetan war, erkundigte sich einmal über die rechtliche Lage des letzteren und erhielt folgende Auskunft: Er genießt das Wohnrecht als Angestellter bei dem Fabrikanten Bernhard. Wenn dieser ihn heute entlässt, und er keinen anderen Schutzjuden findet, der ihn anstellen sollte, so wird ihn die Polizei des Bandes verweisen. Dem Philosophen »verzieh« man seine Stammesangehörigkeit.
Ein interessantes Lebensbild entwirft uns ein Zeitgenosse, der das erste Zusammentreffen des in Königsberg als Gast wehenden Mendelssohn mit Kant schildert: »Ein kleiner verwachsener Jude mit Spitzbart und starkem Höcker trat, ohne viel sich um die Anwesenden zu bekümmern, doch mit ängstlich leisen Schritten in den Hörsaal und blieb unfern der Eingangstüre stehen. Wie gewöhnlich begannen Hohn und Spott, die zuletzt in Schnalzen, Pfeifen und Stampfen übergingen; aber zum allgemeinen Erstaunen blieb der Fremde auf seinem Platze wie festgebannt, mit einer eisigen Ruhe und hatte sich sogar, um seinen Willen, den Professor zu erwarten, deutlich an den Tag zu legen, eines leerstehenden Stuhles bedient und darauf Platz genommen. Man näherte sich ihm, man fragte, er antwortete kurz und artig; er wolle dableiben, um Kants Bekanntschaft‘ zu machen. Nur sein Erscheinen konnte endlich den Eärm beschwichtigen. Sein Vortrag lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf andere Dinge, und man ward so hingerissen, so versenkt in das Meer von neuen Ideen, dass man der Erscheinung des Juden längst nicht mehr gedachte, als dieser nach beendigtem Kollegium sich mit einer Heftigkeit, die mit seinem früheren Gleichmute seltsam kontrastierte, durch die Menge drängte, um zum Katheder zu gelangen. Die Studierenden bemerkten ihn kaum, als wieder das höhnische Gelächter erschallte, das aber sogleich einer stummen Bewunderung wich, da Kant, nachdem er einen Augenblick den Fremden bedeutend betrachtet und dieser einige Worte gesagt hatte, ihm mit Herzlichkeit die Hand drückte und dann in seine Arme schloß. Wie ein Lauffeuer ging es durch die Menge: Moses Mendelssohn! Es ist der jüdische Philosoph aus Berlin!« und ehrerbietig bildeten die Schüler eine Gasse, als die beiden Weltweisen Hand in Hand den Hörsaal verließen.« Die deutsche Gesellschaft, die den Juden im allgemeinen verachtete, machte für einzelne Personen eine Ausnahme. Ein gewisser Teil der Gesellschaft stand unter dem mächtigen humanisierenden Einfluss des im Jahr 1779 erschienenen »Nathan des Weisen«.
In diesen Kreisen wurde der Jude nicht mehr mit dem Kleinhändler identifiziert: in ihm erblickte man zuweilen die Anlagen einer tiefen intellektuellen und ethischen Kultur. Das obenerwähnte Werk von Dohm: »Uber die bürgerliche Verbesserung der Juden« brachte ebenfalls vielen die Überzeugung bei, dass der Niedergang der jüdischen Masse und ihre soziale Entfremdung vornehmlich auf ihrer Rechtlosigkeit und bürgerlichen Erniedrigung beruhen. In den höheren Kreisen der Berliner Gesellschaft machte sich schon dann eine Annäherung zwischen Juden und Christen bemerkbar. Es war dies nicht mehr jener intime Umgang, den vereinzelte Denker und literarische Persönlichkeiten miteinander in dem beschiedenen Häuschen Mendelssohns, im Kreis von Lessing, Nikolai und Gleim pflogen. In den 1780 er Jahren war der »Berliner Salon« im Entstehen begriffen, wo sich die Vertreter der christlichen und jüdischen Aristokratie zusammenfanden. Die jüdische Geldaristokratie war eine neue Frucht der damaligen wirtschaftlichen Ordnung. Friedrich II., der die jüdische Masse im Kleingewerbe wirtschaftlich verkümmern ließ, förderte die jüdischen Großkapitalisten in ihren Fabrik-, Bank- und Pachtunternehmungen. Viele Juden in Berlin, Königsberg und Breslau bereicherten sich an Heereslieferungen zur Zeit des Siebenjährigen Krieges; die Regelung der königlichen Finanzen kam in einem beträchtlichen Grade durch ihre Vermittelung zustande. Für solche Personen machte allerdings der König eine Ausnahme von dem harten »Judenreglement«, indem er ihnen »Generalprivilegien nafch den Rechten christlicher Kaufleute« erteilte. Auf diese Weise kamen die reichen Häuser der Ephraim, Itzig, Gumpertz und anderer auf. Während die Familienhäupter ganz in ihren umfassenden geschäftlichen Unternehmungen aufgingen, eröffneten ihre Frauen und Kinder in reich eingerichteten Wohnungen »Salons« nach dem Muster der besten aristokratischen und höfischen Salons von Berlin und suchten sogar diese durch Eleganz und Üppigkeit in den Schatten zu stellen. Die Türen dieser Salons standen den Vertretern der höheren christlichen Gesellschaft weit offen. Als Hauptköder dieser Salons dienten die hübschen, gebildeten Jüdinnen, die vom Drange nach einer Berührung mit der deutschen Aristokratie ganz ergriffen waren. Die Häuser der Bankiers Ephraim, Itzig, Cohen und Meier in Berlin wurden von preußischen Offizieren, Würdenträgern und Diplomaten gerne besucht; hier wurden Liebesverhältnisse mit den freundlichen Töchtern Israels angeknüpft, die bereit waren, ihr Judentum für den Titel einer deutschen Baronin oder einer preußischen Offiziersdame einzutauschen. Um das Jahr 1786 tat sich in Berlin besonders der intelligente, in literarischer Hinsicht bedeutende Salon der Henriette Herz hervor – einer üppigen schönen Jüdin, der Frau des Arztes Markus Herz, der ein Freund Mendelssohns war. In diesem Jahre kam zufällig in den Herzschen Salon Graf Mirabeau, der in einem diplomatischen Auftrag in Berlin weilte, und auf den der Salon durch seinen Prunk einen gewaltigen Eindruck machte. Aber die Glanzperiode des Salons fällt in die ersten Jahre der französischen Revolution. Die folgende, von einem Zeitgenossen erzählte Episode illustriert das Verhalten der damaligen Berliner Gesellschaft den Juden gegenüber. Im August des Jahres 1788 wurde im Nationaltheater zu Berlin das Drama von Shakespeare »Der Kaufmann von Venedig« aufgeführt. Der Schauspieler Fleck, der den Shylok meisterhaft wiedergab, hatte nicht den Mut, in dieser Rolle vor einem Publikum, in deren Mitte sich nicht wenige Juden befanden, ohne einleitende Entschuldigungen aufzutreten. Vor Beginn des Stückes deklamierte Fleck in Form eines Prologs ein eigens zu diesem Zwecke verfasstes Gedicht, in welchem er darauf aufmerksam machte, dass es in der Absicht der Darsteller gar nicht liege, »die Glaubensgenossen Mendelssohns« auf der Bühne zu verspotten; sie stellen auf der Bühne in gleicher Weise die Tugenden und Laster der Christen wie der Juden dar: Nun das kluge Berlin die Glaubensgenossen des weisen Mendelssohn höher zu schätzen anfängt; nun wir bei diesem Volke (dessen Propheten und erste Gesetze wir ehren), Männer sehen, gleich groß in Wissenschaften und Künsten,— Wollen wir nun dies Volk durch Spott betrüben? … Nein, dies wollen wir nicht. Wir schildern auch bübische Christen … Wir tadeln der Klöster Zwang und Grausamkeit… Im Nathan dem Weisen spielen die Christen die schlechtere Kölle; Im Kaufmann Venedigs tun es die Juden., der zeitgenössische Chronist bemerkt jedoch dazu, dass dieses zuvorkommende Verhalten den Juden gegenüber keinen Anklang im Publikum fand, und dass bei den darauf folgenden Aufführungen der Prolog nicht mehr vorgetragen wurde. »Mit Recht« – sagt er – »äußerte man seine Unzufriedenheit darüber, dass die Juden sich eine Sonderstellung im Theater schaffen wollten, wo alle Stände dargestellt werden, jeder in seinen komischen und ernsten Zügen.« Es gab einen Moment, wo den Juden in Preußen die Hoffnung auf eine etwaige Verbesserung ihrer rechtlichen Tage winkte. Es war dies um das Jahr 1786, als nach dem Tode des Schöpfers des harten »Judenreglements«, Friedrich II., Friedrich Wilhelm II. den Thron bestieg – ein Herrscher mit minder despotischen Neigungen, der im Honigmonate seiner Regierung dem Generaldirektorium seinen Willen kundtat, »dass die Lage dieser verfolgten Nation nach Möglichkeit erleichtert werde«. Durch die gütigen Worte des Königs ermuntert, wandten sich die Vorsteher der Berliner jüdischen Gemeinde an ihn mit einer Bitte »voll Ehrfurcht und kindlichen Vertrauens« (6. Februar 1.787);.»Schon lange seufzen wir unter der Last unaufbringlicher Abgaben und unter dem nicht weniger harten Druck der Verachtung.Beide haben unsere Nation herabgewürdigt und uns gehindert, auf dem Wege der Geistesbildung, der größeren Industrie und jeder Art von Glückseligkeit Fortschritte zu machen… Ausgeschlossen von allem Nahrungserwerb, vom Handwerk, vom Ackerbau, von allen Bedienungen des Staates, bleibt allein die Handlung und auch diese noch mit vielen Einschränkungen das einzige Erwerbungsmittel unserer Kolonie.« Des Weiteren weisen die Bittsteller darauf hin, dass »auch der Staat gewinnen muss, wenn eine ansehnliche Kolonie, die bis jetzt in Mutlosigkeit versunken ist, durch eine mildere Behandlung zu nützlicheren Untertanen umgebildet wird.« Die demütige Bitte der jüdischen Vertreter ging dahin, dass der König eine Kommission einsetzen möchte, die in Gemeinschaft mit den Bevollmächtigten der jüdischen Gemeinden die bestehende Gesetzgebung betreffs der Juden einer Prüfung unterziehe und einen Entwurf über die Verbesserung ihrer staatsbürgerlichen Rage ausarbeite. Der König erfüllte die Bitte und erteilte dem Generaldirektorium in diesem Sinne einen Befehl. Das letztere verfügte, dass die jüdischen Gemeinden aus ihrer Mitte unverzüglich Bevollmächtigte zu wählen haben, die der Kommission »die Wünsche der gesamten Judenheit« vorlegen sollten. Am 17. Mai 1787 ging ein umfangreiches »untertänigstes Promemoria« im Namen »der Abgeordneten aller jüdischen Kolonien des preußischen Staates« der bei dem Generaldirektorium zu jener Zeit gegründeten »Königlichen Kommission zur Reform des jüdischen Bebens« zu. In diesem Promemoria, in dem alle für die Juden festgesetzten Rechtsbegrenzungen auf gezählt werden, baten die Abgeordneten die Kommission, bei der Ausarbeitung des Reformprojektes nicht von dem schändlichen Reglement des Jahres 1750 auszugehen, sondern in Gemeinschaft mit den jüdischen Abgeordneten einen auf den Prinzipien der Duldsamkeit und der Achtung vor dem Menschen beruhenden Entwurf zu verfassen. Alle diese Bemühungen erzielten als nächstes Ergebnis zwei partielle Steuererleichterungen: im Jahr 1787 wurde das schändliche »Geleit« für Juden preußischer Staatsangehörigkeit abgeschafft, und im Jahr 1788 kam die Befreiung von der obenerwähnten tragikomischen Porzellansteuer zustande. Im System der jüdischen Rechtlosigkeit selber hingegen vollzog sich keine Wandlung. Die vom Könige eingesetzte Beamtenkommission erhielt vom Generaldirektorium eine vom alten Geiste der Judenfeindschaft und Kasernendisziplin erfüllte Instruktion. In dieser Instruktion wurden der Kommission folgende Fingerzeige gegeben: »die Verbesserung ihres Zustandes muss mit ihrer Nutzbarkeit für den Staat in genauem Verhältnis stehen.« Die Gewerbebeschränkungen müssen gemildert werden, denn die Not drängt die Juden auf die Bahn unerlaubter Bereicherungsmittel; andererseits aber könnte die Rechtserweiterung der Juden ohne die gleichzeitige Beseitigung ihrer »Absonderung« dem Staate noch größeren Schaden zufügen. Daher die Notwendigkeit, jede auf die Reform des jüdischen Lebens hinzielende Absicht sorgfältig abzuwägen; die Rechtserleichterungen dürfen nur in strengster Abstufung eingeführt werden, »bis ihre Kinder und Nachkommen für sich selbst und für den Staat sich gänzlich oder zum größten Teil verbessert haben werden.« Nach einer derartigen Instruktion konnte man freilich von der Kommission nur sehr wenig erwarten. Und in der Tat, nach einer zweijährigen Beratung arbeitete sie ein derartiges Reformprojekt aus, dass selbst die demütigen jüdischen Abgeordneten sich auf bäumten und erklärten, dass sie es vorzögen, beim alten Reglement zu bleiben…
Dieser erbärmliche Kanzleiversuch fiel in das Jahr der großen französchen Revolution!

Österreich

Die Ohnmacht des aufgeklärten Absolutismus in Hinsicht der Lösung der jüdischen Frage trat mit besonderer Prägnanz im bedeutendsten Zentrum der westlichen Judenheit – im Österreich der 1780 er Jahre zutage. Der streng katholische Kaiser Joseph II. war zweifelsohne den Juden gegenüber duldsamer gesinnt als der preußische »schlechte Protestant« Friedrich II. Daher war auch die praktische Politik in der jüdischen Frage in ihren Einzelheiten bei beiden Regenten verschieden; aber über die Rolle der Juden im Staate teilten sie dieselbe Ansicht. Wenn der König die Zügel der jüdischen Rechtlosigkeit unter keinen Umständen loslassen wollte, der Kaiser hingegen den Juden Duldsamkeit unter der Bedingung ihrer nationalen Entpersönlichung verhieß, so hatte es seinen Grund darin, dass der eine die Juden für »unverbesserlich« hielt, der andere hingegen an die Möglichkeit glaubte, »sie nutzbringend für den Staat zu machen«. Aber das Korrektionssystem Österreichs war den Juden nicht leichter, als die starre Judenfeindschaft der preußischen Regierung. Indem Joseph II. Reformen einführte, nahm er mit der einen Hand mehr, als er mit der anderen gab. Die Schattenseiten seines Regimes waren um so empfindlicher, als deren Folgen sich auch für die dichten Judenmassen in solchen Provinzen wie Böhmen, Mähren und dem soeben von Polen losgetrennten Galizien fühlbar machten. »Man würde jedoch irren,« sagte ein Historiker, »wenn man annehmen wollte, dass Joseph II. in dem Juden den Menschen würdigte, den er eben als Menschen mit den anderen Untertanen gleichgestellt wissen wollte. Dies war nicht der Fall.. Er betrachtete die Juden sozusagen als ein Übel, das unschädlich gemacht werden muss, das Judentum als einen Ausbund von Torheiten und Alfanzereien, und das Gemeindewesen als eine Art geheime Gesellschaft, um den Staat auszubeuten.« An der Spitze des Toleranzpatentes für Wien befinden sich z. B. solche Paragraphen: i. Die Juden in Wien bilden keine Gemeinde, und ist ihnen der öffentliche Gottesdienst nicht gestattet. 2. Die Zahl der Juden soll nicht vermehrt werden, und da, wo sie bisher nicht ansässig waren, sollen sie auch jetzt nicht wohnen. Die übrigen 23 Paragraphen des Patentes zerfallen in beschränkende und begünstigende. Zu den ersteren gehören die nach preußischem Muster aufgestellten Normen für den Aufenthalt der Juden in Wien. Ein Jude aus einer österreichischen Provinz darf sich in Wien nur auf Grund einer besonderen Genehmigung der Regierung aufhalten, ein ausländischer Jude – auf Grund einer Genehmigung seitens des Kaisers. Für das Wohnrecht wird von jeder Familie das »Toleranzgeld« erhoben, aber dieses Recht erstreckt sich nicht auf die verheirateten Familienangehörigen; in den Dörfern Niederösterreichs dürfen Juden nicht-wohnen; eine Ausnahme wird für solche Personen gemacht, die daselbst Fabriken erbauen. Zu der Kategorie der begünstigenden Paragraphen gehören: das Recht der Juden, ihre Kinder in allgemeinen »normalen« und Realschulen unterzubringen, wie das Recht, höhere Lehranstalten zu beziehen; Juden dürfen bei christlichen Meistern in die Lehre gehen, um sich von ihnen in allerhand Handwerken unterweisen zu lassen, ohne jedoch das Recht auf den Titel eines Bürgers oder Meisters erreichen zu können. Es wird den Juden gestattet, Großhandel zu treiben, Inhaber von Fabriken zu werden, unbewegliche Güter als Pfand zu nehmen, ohne diese jedoch für Schulden sich aneignen zu dürfen; die alten Bestimmungen betreffs einer besonderen Tracht, des Verbotes, sich auf der Straße bis zur Mittagsstunde an Sonn- und Feiertagen zu zeigen, öffentliche Belustigungen und Promenaden zu besuchen u. dgl. m. werden abgeschafft; abgeschafft wird ebenfalls die entehrende »Leibmauth«. Als Kompensation für alle diese Begünstigungen wurde eine Reihe von Dekreten erlassen, die sämtlich darauf ausgingen, die Autonomie der jüdischen Gemeinden zu vernichten, die Sprache und nationale Kultur der Juden zu verdrängen.
Das »Toleranzedikt« verbot ihnen, die Geschäftsbücher und Korrespondenz in jüdischer Sprache (hebräischer und jüdisch-deutscher Umgangssprache) zu führen, die der offiziellen deutschen Sprache Platz machen musste. Durch ein Dekret vom 25. August 1783 schaffte der Kaiser das Rabbinergericht in Zivil- und geistlichen Angelegenheiten unter., den Juden ab und unterstellte sie der Rechtsprechung der allgemeinen Gerichte. Es war dies ein harter Schlag für die jüdische Gemeindeselbstverwaltung. Die Regierungsgewalt begann auch in das jüdische Eherecht einzudringen: die Rabbiner waren in Angelegenheiten der Eheschließung und Ehescheidung der Kontrolle der Zivilgewalten unterstellt, denen es freistand, die Trauung oder Scheidung zu verhindern (1785—1788). In solchen »Reformen« konnte die jüdische Masse freilich nur einen gefährlichen Eingriff in jene Freiheit ihrer inneren Uebensgestaltung erblicken, die sie selbst in den Zeiten ihrer gänzlichen bürgerlichen Rechtlosigkeit genoss. Nicht minder beunruhigend war für die jüdische Masse eine andere Neuerung: die Heranziehung der Jugend zur Militärpflicht. Es war dies das erste Beispiel der Aufnahme von Juden in das Heer eines christlichen Staates Europas – ein Beispiel, das die konservativen Kreise sowohl der christlichen wie der jüdischen Gesellschaft entsetzte. Die österreichische militärische Aristokratie erblickte darin eine Herabsetzung des Militärstandes; die jüdische Masse wiederum, die jahrhundertelang den allgemeinen Staatsinteressen entfremdet und vieler elementarer bürgerlicher Rechte beraubt war, konnte nicht umhin, bei dem Gedanken zu erschrecken, dass ihre Jugend in eine fremde, meistens feindliche Umgebung hineingezogen wird, wo ihr die Gefahr des Abfalls von ihrem Glauben und ihrer Nationalität droht. Die Rekrutenaushebungen in den österreichischen, von Juden bewohnten Provinzen boten ein herzzerreißendes Schauspiel. Eine von solchen Szenen – die Rekrutenaushebung im böhmischen Prag im Mai des Jahres 1789 – wird in einer zeitgenössischen Zeitschrift geschildert.
In Prag wurden 25 jüdische Rekruten ausgehoben. Der Tag ihrer Beförderung in die Armee war ein Tag des Wehklagens: auf den den Kasernen anliegenden Straßen weinten laut die Mütter, Schwestern und jungen Gattinnen der Rekruten. Der berühmte Prager Rabbiner R. Jecheskel Landau erschien in der Kaserne und hielt vor den Rekruten eine Rede, in der er sie ermahnte, sich dem kaiserlichen Willen zu fügen und den militärischen Dienst ohne Murren auf sich zu nehmen und sich zu bemühen, die Gesetze des jüdischen Glaubens und insbesondere das tägliche Gebet zu beobachten (dabei überreichte der Rabbiner jedem von ihnen eine Rolle mit dem zur Verrichtung der Gebete nötigen Zubehör). Der Rabbiner hob die politische Bedeutung des Momentes hervor, indem er darauf hinwies, dass die Erfüllung der schwersten bürgerlichen Pflicht durch die Juden die Regierung bewegen könne, »das jüdische Volk auch von den übrigen Fesseln zu befreien, die es noch immer drücken«. Als der erregte Rabbiner seine Rede mit dem Ausrufe schloß: »Gott segne und beschütze euch« – füllten sich die Kaserne und der anliegende Hof mit Schluchzen, die Rekruten warfen sich in die Knie vor dem greisen Seelenhirten, als ob sie um Rettung flehten; den schluchzenden Rabbiner, der nahe daran war, in Ohnmacht zu fallen, vermochte man kaum fortzubringen. Man fühlte, dass hier irgendein schwerer Riß vollzogen wurde, der früher eingetreten war, als der Volksorganismus Zeit hatte, sich auf ihn vorzubereiten. Konnten auch die alten Metropolen der Judenheit: Böhmen, Mähren und insbesondere Galizien, das noch in den alten Traditionen des polnischen Regimes lebte und von der mehr und mehr um sich greifenden chassidischen Bewegung erfaßt war – in der Kaserne den Übergang zu besseren Zeiten erblicken? In Böhmen bestand noch, auch in der »Reformepoche« Josephs II., die alte Normierung der jüdischen Bevölkerung: die letztere war begrenzt durch die Zahl von 8600 Familien; in Mähren war die Norm bis auf 5400 gebracht worden; eine neue Ehe wurde nur in den Grenzen dieser Norm zugelassen; die Einwanderung der Juden aus anderen Provinzen unterlag vielen Schwierigkeiten. Doch wurde die Sphäre der industriellen Tätigkeit für die »geduldeten« Juden bedeutend erweitert.
Die Fabrikindustrie wurde zu jener Zeit von der Regierung gefördert und entwickelt: von den 58 Manufakturfabriken Böhmens befanden sich mehr als 15 in jüdischen Händen. In Prag waren Tausende christlicher Arbeiter in jüdischen Fabriken beschäftigt. Gemäß den Vorschriften Josephs II. schmälerte die Regierung auf jede Weise die Funktionen der jüdischen Selbstverwaltung, aber die Grundlagen der Autonomie blieben gewahrt. Eine große autonome Gemeinde befand sieb in Prag, aufs äußerste zusammengedrängt in den 300 Häusern ihres Viertels. Im mährischen Nikolsburg hatte sich noch das Institut des »Bezirksrabbinats« erhalten. Die »reformierenden« Experimente Josephs II. hatten, insbesondere für Galizien schwere Rückwirkungen im Gefolge: Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Bau, der sich in der langen Reihe der Geschlechter unter polnischer Herrschaft gefestigt hatte, wurde im Verlaufe von 18 Jahren (1772—1790) unnachsichtig zerklüftet. Das ganze Gefüge des Volkslebens in dem angegliederten Rande wollte man mit einem Male durch Verordnungen aus Wien von Grund aus umgestalten; unter dem Vorwand der »Verbesserung« verstümmelte man das Leben von Zehntausenden von Menschen.

Da es im jüdischen Galizien eine Sache der Unmöglichkeit war, die in Österreich beliebte pharaonische Ehenormierung durchzuführen, erfand man einen Ersatz dafür: Es wurde festgesetzt, dass die Juden bei jeder Eheschließung eine Genehmigung vom Statthalter unter Einzahlung einer beträchtlichen Steuer für diese einzuholen haben. In der Folge wurde die Geldsteuer für die sich »bewerbenden« Bräutigame durch die Verpflichtung ersetzt, ein Zeugnis über die vor einer besonderen Kommission bestandene Prüfung in Deutsch vorzuweisen. Gänzlich zerrüttet wurde der wirtschaftliche Wohlstand der Juden in Galizien durch eine Reihe von Verordnungen, die das Schankgewerbe und die Pachtung von landwirtschaftlichen Betrieben – Beschäftigungen, die nicht weniger als ein Drittel der galizischen Judenheit (1776, 1784—85) ernährten – zunächst beschränkten und dann untersagten. Zehntausende von Menschen wurden brotlos und kamen an den Bettelstab, die mittellosen und gänzlich Verarmten aber, die drei Jahre hintereinander keine Kopfsteuer zahlten, wurden von der Regierung des Landes verwiesen und nach Polen geschafft. Die Versuche Josephs II., die Juden an die Landarbeit heranzuziehen, fanden Anklang unter dem enterbten Landvolk, aber die Regierung war außerstande, alle sich darum bewerbenden mit Grund und Boden zu versehen, da sie zur selben Zeit damit beschäftigt war, auf ihren polnischen Grenzgebieten Deutsche anzusiedeln. Gleichen Schritt damit hielt die Zerstörung der komplizierten Gemeindeorganisation der Juden in Galizien. Nach einer Reihe von Versuchen, in Lemberg ein dem Staate unterstelltes Bezirksrabbinat zu schaffen und, die Funktionen der Gemeinde zu schmälern, wurde den Rabbinern und den Gemeinden jede außerhalb der Sphäre der rein religiösen Angelegenheiten stehende Gewalt genommen. Unter solchen Umständen nahm das Mißtrauen der jüdischen Massen gegenüber der österreichischen Regierung immer zu – und in solchen »Reformen«, wie der Heranziehung der Juden zur persönlichen Wehrpflicht und dem an. sie ergehenden Lockruf, in die allgemeinen Schulen einzutreten, konnte man in Galizien nur Manifestationen der alten böswilligen, zerstörenden Politik erblicken. Übrigens machte die Regierung kein Hehl aus ihrem Endzweck – der Vernichtung der nationalen Eigenart der Judenheit. In einer Reihe von Dekreten betonte Joseph II. diese Tendenz sehr bestimmt. In der der Denkschrift der Hofkanzlei über das neue Reglement für die galizischen Juden beigelegten Resolution formulierte der Kaiser seine Ansicht über die Judenfrage folgendermaßen: »Aus diesem so mühsam als schon langeher immer complicirten Juden-Patententwurfe kann unmöglich was Zweckmäßiges, was Gedeihliches entstehen, wenn man sich in alle, theüs von Moses hergeleiteten, theils seither ganz verkehrten jüdischen Gesetze und Gebräuche einlassen, selbe ergründen und mit den allgemein bestehenden Anordnungen nur verbinden will… Ihre Religionsübungen und Gebräuche, die nicht wider die allgemeinen Gesetze streiten, können sie ungestört fortsetzen, die aber dagegen streiten, das wäre alsdann jedem frei zu lassen, entweder von seinen Religionsgebräuchen nach Zeit und Umständen als eine Ausnahme sich zu entfernen, oder aber den Vorrechten, die er als Bürger des Staates genießt, zu entsagen und mit Zahlung des Abfahrtsgeldes außer Land zu gehen…« Eine derartige Instruktion, – die für die »Duldsamkeit« der Epoche des aufgeklärten Absolutismus bezeichnend ist – gab der Verwaltung ein gefährliches Werkzeug des Eingriffes in das geistige Leben der Bürger in die Hand; folgerichtig auf die patriarchalische Lebensordnung der galizischen Judenheit angewandt, konnte sie zu den größten Gewissensvergewaltigungen führen. Zu Lebzeiten Josephs II. kam dieses System der Reglementierung der inneren Lebensgestaltung nicht dazu, sich in der Praxis voll und ganz zu äußern (der Kaiser starb im Jahr 1790); aber in dem darauffolgenden Zeitabschnitt wird es die Maske der wohlwollenden Reform abstreifen und unter Zuhilfenahme der Machtmittel des Polizeistaates sein Werk der Kulturvergewaltigung verrichten. »Zuerst die nationale Entpersönlichung, dann die bürgerliche Gleichberechtigung« – so lautete die Losung dieser Politik. Von den bürgerlichen Reformen Josephs II. wird nichts Zurückbleiben, aber sein Bevormundungssystem wird zu einem Bestandteil der administrativen Praxis Österreichs werden. Nur dem nicht genügend scharfblickenden Häuflein der »Aufgeklärten« aus der Mendelssohnschen Schule, das an die Möglichkeit glaubte, ein Geschlecht von gebildeten und folglich gleichberechtigten jüdischen Bürgern mit Hilfe der offiziellen »Normalschulen« zu schaffen, konnte die zehnjährige Regierungszeit Josephs II. als der Anfang der Emanzipation erscheinen. Übrigens erfreute sich eine kleine, ihrem Volke fernstehende Gruppe von Juden in Wirklichkeit beinahe der Gleichberechtigung: es war dies die Gruppe der aristokratischen Familien in Wien, die durch finanzielle Operationen mit dem Hofe und den höheren Würdenträgern verknüpft waren. jDer »Berliner Salon« hatte seine Filiale in Wien: hier waltete die junge Baronin Fanny von Amstein, die Tochter des Berliner Kaufmanns und des Oberhauptes der jüdischen Gemeinde, Daniel Itzig; Joseph II. kannte und schätzte die Baronin, die in der Folge eine ansehnliche Rolle in den diplomatischen Kreisen Wiens spielte. Die Regierungspolitik Ungarns glich kurz vor dem Jahre 1789 ungefähr derjenigen Österreichs. Das »Toleranzedikt« «Josephs II. paßte sich hier unter dem Namen »Systematica gentis judaicae regulatio« den lokalen Verhältnissen an. Die 80 000 ungarischen Juden, die früher das enge Gebiet einiger städtischer Bezirke bewohnten, erhielten das beständige oder provisorische Wohnrecht in den königlichen freien Städten, mit Ausnahme der Bergbauzentren. Doch blieb noch für sie die Zahl der ihnen zugänglichen Gewerbe knapp bemessen und der Druck der Staatssteuem ungemein hart. Die Rechtserweiterung war von der Erfüllung des »Aufklärungsprogramms« Josephs II. abhängig gemacht: Es wurde bekannt gegeben, dass nach Ablauf von io Jahren von jedem Unternehmer, der im Begriffe ist, irgendein Geschäft zu eröffnen, die Vorweisung eines die Absolvierung eines Kurses der Normalschule bestätigenden Zeugnisses gefordert werden wird. Die Kulturbevormundung nahm mitunter gar seltsame Formen an. Unter den durch die kaiserliche Verfügung vorgeschriebenen Reformen befand sich die den Juden auferlegte Verpflichtung, sich den Bart zu rasieren. Da dieser Umstand die Verletzung eines Brauches im Gefolge hatte, so erging kurz darauf an den Kaiser eine Bittschrift der ungarischen Juden, sich den Bart wachsen lassen zu dürfen, indem sie sich dabei auf das verkündete Prinzip der Glaubensfreiheit beriefen. Die Bitte wurde beachtet… Der altersschwache Kaiser zeigte sich auf diese Weise nachgiebiger als der preußische König Friedrich II., der den freidenkerischen Berlinern das Bartrasieren nicht gestattete, da er von einer entgegengesetzten Ansicht über die Bedeutung des jüdischen Bartes ausging (oben, § 3).

Frankreich.

In Frankreich bestand vor der Revolution für die Juden ein »Ansiedelungsrayon«: »die Provinz Elsass (außer der Stadt Straßburg) und ein Teil von Lothringen (die Städte Metz und Nancy). Das ganze übrige Territorium des Reiches war den Juden entweder völlig verschlissen oder nur in beschränktem Maße zugänglich. Die Nachkommen der spanischen Juden, die Sephardim, bewohnten den Süden Frankreichs – die industriellen Zentren Bordeaux und »Marseille, die Bretagne und Bayonne. Nachdem sie in diese Gebiete anfangs unter dem Deckmantel der »Marranen« oder »neuen Christen« eingedrungen waren, streiften sie in der Folge die äußere Hülle von sich ab und zwangen die Regierung, das bereits Geschehene anzuerkennen. Hatte sich aber die zentrale Regierung mit der Tatsache des Aufenthaltes der Juden in den verbotenen Gebieten abgefunden, so taten die Lokalbehörden, die Munizipalitäten und die kaufmännischen Zünfte ihr Möglichstes, um »die sich auf ungesetzlichem Wege Aufhaltenden« aus allen den Zentren zu verdrängen, in denen sich ihre Handelskonkurrenz der christlichen Kaufmannschaft fühlbar machte. Im Jahre 1773 erwirkten die christlichen Kaufleute von Nantes beim König einen Erlass, der die Ausweisung der jüdischen Kaufleute aus dieser Stadt verordnete. Infolge eines Rechtsstreites, den der Metzer Jude Creange mit zwei Beamten aus Brest führte, verfügte das Parlament von Rennes, »den Juden Creange und alle sich gegenwärtig in der Bretagne aufhaltenden Juden nach ihren ständigen Wohnsitzen auszuweisen«, und zwar innerhalb zweier Wochen. Feste Wurzeln hatte nur die große jüdische Kolonie in Bordeaux gefasst, die vorwiegend aus Großkaufleuten und Bankiers bestand, welche Finanzoperationen mit dem königlichen Hofe unterhielten Unter Ludwig XVI. errangen die Juden von, Bordeaux das Recht, auf dem ganzen Territorium Frankreichs zu wohnen und Handel zu treiben. Die königliche Schatzkammer hatte davon keinen Schaden: hunderttausende von Livres wurden für die Vorrechte eingezahlt, und im Jahr 1782 brachten die dankbaren Juden von Bordeaux mehr als 60 000 Divres zusammen und kauften dafür ein Kriegsschiff, das sie dem König zum Geschenk machten. Ein anderes jüdisches Zentrum hatte sich in Avignon erhalten, das noch kurz vor der großen Revolution unter der Botmäßigkeit der römischen Päpste stand. Hier herrschten mittelalterliche Verhältnisse: die Juden bewohnten ein besonderes Viertel (carriere des juifs) und standen unter der Aufsicht der päpstlichen Inquisition; Jesuiten und Dominikanermönche erschienen im Ghetto und hielten an Sabbaten in der Synagoge Predigten über die Heilsamkeit des Christentums und die Verderblichkeit des Judentums. Nicht selten geschah es, dass kleine Judenkinder entführt, in Klöster gebracht und zum Christentum bekehrt wurden, ungeachtet aller Proteste der unglücklichen Eltern. Die Hauptmasse der französischen Judenheit konzentrierte sich in den nordöstlichen Provinzen des Königreichs – im Elsass und einem Teil von Lothringen.
In den zwei Städten Lothringens, in Metz und Nancy nebst Umgebung, war die Zahl der Juden streng normiert: in der ersteren auf 480 Familien, in der zweiten auf 180. Von Zeit zu Zeit pflegte eine Säuberung vorgenommen zu werden: die auf dem Wege des natürlichen Zuwachses oder der geheimen Einwanderung hinzugekommenen überzähligen Familien wurden vertrieben. Am Ende des 18. Jahrhunderts bildete das Ghetto von Metz dasselbe düstere Nest von Ausgestoßenen, wie zu Beginn des Jahrhunderts: dieselbe Enge und derselbe Schmutz eines abgeschlossenen Viertels, dieselben ruinierenden Steuern für das Wohnrecht (droit d’habitation; eine jährliche Abgabensumme im Betrage von 20 000 Livres wurde noch in den ersten Jahren der Revolution zugunsten der Nachkommen des Herzogs Brauca und der Gräfin Fontaigne erhoben), die demütigende Abgabe zugunsten der lokalen Pfarrkirchen, und dann – das Verbot, sich in der Stadt an Sonn- und Feiertagen zu zeigen u. dgl. m. – alles wie im Frankfurter Ghetto, abgesehen von einigen Variationen. Die jüdische Bevölkerung des Elsass war über zweihundert Städte und Dörfer zerstreut, aber in der Hauptstadt, Straßburg, war den Juden der ständige Aufenthalt verboten. Ein altes Privilegium, das die Stadt zur Zeit des schwarzen Todes erhalten hatte, gab dem Magistrat das Recht, keinem einzigen Juden den Zutritt zu gewähren – und gegen dieses Vorrecht erwiesen sich selbst die den Juden freundlichen Bemühungen der Könige ohnmächtig. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde den Juden der Aufenthalt in Straßburg gestattet, aber nur auf der Durchreise, um zu übernachten, geschäftshalber, für einige Tage und mit jedesmaliger besonderer Genehmigung der Polizei. Dabei musste jeder Ankömmling eine ganze Reihe demütigender Prozeduren durchmachen; am Stadttor entrichtete er einen für Vieh festgesetzten Passierzoll (peage corporel, dem deutschen Leibzoll entsprechend); in den Besitz des Passierscheines gelangt, durfte er nur in einige, eigens für diesen Zweck bestimmte Herbergen einkehren, und die Polizei passte auf, dass er nach Ablauf der ihm gewährten Frist die Stadt verließ. Charakteristisch ist die polizeiliche Verordnung, die in Straßburg im November 1780 erlassen wurde:
»Die Richter der Polizeikammer haben bemerkt, dass einige Bürger sich unterstehen, vom Gelderwerb verlockt und ohne die schlimmen Folgen zu bedenken, an Juden Zimmer und Wohnungen in ihren Häusern zu vermieten, was eine sehr gefährliche Annähe rang und Vertraulichkeit zwischen den Christen und der jüdischen Nation bewirkt und den alten Reglements, die jedem Juden ausdrücklich verbieten, unter dem gleichen Dache mit Christen zu wohnen, strikt zuwiderläuft. Um diesen durch seine Folgen so gefährlichen Missbrauch abzustellen, verbieten wir allen Bürgern unter Androhung einer Strafe von 150 Livres, den Juden Häuser, Geschäfte oder irgendwelche Räume zu vermieten. Wir befehlen (den Bürgern), die Juden, die bei ihnen zu mieten begehren oder um Nachtquartier bitten, an die Orte zu schicken, die ihnen gestattet und hierfür bestimmt sind… Damit niemand sich auf die Nichtkenntnis dieser Verordnung berufen kann, verordnen wir, sie in zwei Sprachen zu drucken und anzuschlagen.« Straßburg, der Mittelpunkt des »Ansiedlungsrayons« vom Elsass, blieb auf diese Weise den Juden verschlossen ebenso wie es später im rassischen Ghetto die Stadt Kijew war. Spezielle Herbergen für zugereiste Juden, die »Treibjagd« der Polizei gegen die sich ungesetzlich Aufhaltenden – dies alles machte die Stadt am Rhein der Stadt am Dniepr zur Zeit der »alten Ordnung« ähnlich. Wie eifrig dafür gesorgt wurde, die Stadt Straßburg vor einer »Judeninvasion« zu bewahren, ist aus der folgenden Episode zu ersehen. Ein reicher Jude, der königliche Heereslieferant, Herz Cerf-Berr aus Bisheim bemühte sich bei den Stadtbehörden um die Erlaubnis, während des Winters in Straßburg zu verbleiben, da die Wege durch umherstreifende Räuber unsicher gemacht seien und es gefährlich wäre, in Geschäften nach der Stadt zu fahren und von dorther zurückzukehren. Die Behörde verweigerte die Erlaubnis. Da intervenierte der bekannte Staatsmann, der Herzog Choiseul, der in einem an den Stadtrat gerichteten Schreiben nachwies, dass der Aufenthalt eines unter wachsamer polizeilicher Aufsicht stehenden jüdischen Kaufmannes während des einen Winters keinen Schaden anrichten könne. Und nur dem Druck des allmächtigen Ministers nachgebend, ließen die lokalen Behörden den Berr in Ruhe. Einige Jahre nach diesem Ereignis mussten sie sich eine schärfere Abweichung von dem mittelalterlichen Reglement gefallen lassen. Als Entgelt für die dem Heer und der Regierung erwiesenen Dienste erteilte der König dem Cerf-Berr und seiner Familie ein Naturalisationspatent und das unbeschränkte Wohnrecht im ganzen Lande. Der Stadtrat von Straßburg, das Berr zu seinem Wohnsitz wählte, suchte ihm anfangs den Erwerb von unbeweglichen Gütern möglichst zu erschweren, fügte sich aber schließlich doch, wenn auch mit verhaltenem Groll dem Willen des Königs. Und so kam es, dass die Volkszählung im Jahr 1787 – zum nicht geringen Entsetzen der Väter der Stadt – vier jüdische Familien, aus 68 Personen bestehend, aufwies. Es waren dies die Familien des Cerf-Berr und seiner Verwandten, seine Handelsgehilfen und Dienstboten. Aber die große Masse der Elsässer Juden blieb unnaturalisiert: sie bildeten eine Gruppe recht- und schutzloser Ausländer, die nur geduldet waren. In den Dörfern und herrschaftlichen Städtchen verdankten sie das Wohnrecht der Gunst der feudalen Gutsherrn oder der Seigneurs, die für dieses »droit d’habitation« drückende Steuern erhoben. Durch eine. Reihe von Gewerbebeschränkungen wurde die jüdische Masse in das Gebiet des Kleinhandels und des Wuchers hineingetrieben. Die in den Dörfern wohnenden Juden gaben den Bauern Darlehen auf Getreide und Trauben; in den Städten und Dörfern traten sie als die Gläubiger der Kleinbürger und der Handwerker auf. Der christliche Schuldner, dem die unsichere rechtliche Tage des Juden, den man zu jeder Zeit aus jedem Orte hinausekeln konnte, bekannt war, nahm das Darlehen, ohne je an die Rückerstattung zu denken. Dadurch stieg das Risiko des Gläubigers, der sich genötigt sah, Wucherzinsen zu nehmen. Daraus resultierte eine Reihe von Zusammenstößen und Rechtsstreitigkeiten, die unglückliche Lage des Juden als eines »ausgebeuteten Ausbeuters«, die allgemeine Verachtung, die man ihm entgegenbrachte, und die Gleichsetzung der Worte »Jude« und »Wucherer« (usurier). Auf diesem Boden entstand die berühmte Affaire des Judenfeindes Hell, eines elsässischen Landrichters, der eine Massenfälschung von Zahlungsquittungen organisierte, die zur Tilgung der von Christen an Juden ausgestellten Schuldscheine dienten. Hell büßte für seinen Betrug, indem er durch einen königlichen Erlass aus dem Elsass ausgewiesen wurde, aber Hunderte jüdischer Familien waren ruiniert. Die alte Ordnung erreichte ihr Ziel: sie machte den Juden zuerst zu einem rechtlosen, dann zu einem verachteten Wesen. Man zwang den Juden, alles zu kaufen: das Wohnrecht, das Recht, ein Gewerbe auszuüben und das Recht der Freizügigkeit; man zwang ihn, für jeden Atemzug, den er tat, für jede Spanne Erde, auf der ihm zu stehen gestattet war, zu zahlen. Was blieb ihm anderes übrig, als gierig nach Geld zu streben, für das er sich Rechte kaufen konnte, welche andere ohne Geld besaßen? Die adligen Gutsbesitzer oder Seigneurs pressten aus den auf ihren Besitztümern lebenden Juden die letzten Säfte aus. Während so ein Seigneur einem Juden gegen eine große alljährliche Abgabe das »Wohnrecht« gewährte, garantierte er dessen Kindern, wenn diese aufwuchsen, dieses Recht nicht; ein erwachsener Sohn musste oft das väterliche Haus verlassen, wenn der Seigneur ihm das Wohnrecht versagte. Und wenn die Juden sich über solche Willkür beim Obersten Rat vom Elsass (Gonseil souverain d’Alsace) beschwerten, bekamen sie von dieser höchsten Verwaltungsbehörde des Landes Antworten wie diese: »Der Jude hat keinen ständigen Wohnsitz; er ist zur ewigen Wanderschaft verurteilt. Dieses Schicksal verfolgt ihn überall und sagt ihm, dass er sich nirgends dauernde Ansässigkeit gestatten darf. Darum ist es empörend (revoltant), wenn ein Angehöriger dieser verurteilten Nation (nation proscrite) einen Seigneur zwingen will, ihn anzuerkennen und ihm das Schutzrecht nur aus dem Grunde zu gewähren, weil der Seigneur die Gnade hatte, den Vater dieses Juden auf seinen Besitzungen zu dulden, und weil dieser Jude da geboren ist… Der Jude ist weder Bürger noch Städter (ni citoyen, ni bourgeois); das Wohnrecht in jedem Einzelfalle kann ihm nur der Seigneur verleihen, der auch befugt ist, ihn, wenn nötig, auszuweisen.« Im Jahre 1784 machte die Regierung einige Schritte zur Erleichterung der Lage der Juden. Im Januar dieses Jahres wurde durch ein Dekret des Königs Ludwigs XVI. der Leibzoll (peage corporel), d. h. der Zoll, der von den durch die Provinz Elsass durchreisenden Juden erhoben wurde und sie »Tieren gleichstellte« (qui les assimile aux animaux) abgeschafft. Aber im Juli des gleichen Jahres wurde ein neues königliches Reglement für die Elsässer Juden veröffentlicht, durch das der Monarch alle auf den Juden lastenden, von feudalen und bürgerlichen Judenfeinden erfundenen Beschränkungen und Repressionen zu einem Gesetz erhob. Abgesehen von einigen Artikeln, die den Juden eine gewisse Erweiterung der Gewerbefreiheit (in der Pacht von Gütern, im Ackerbau und in der Fabrikindustrie) gewährten, stellen alle Grundartikel des Reglement nur eine Kodifikation der Rechtlosigkeit dar. Am auffälligsten ist die Tendenz, den natürlichen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung zu hemmen.
Der erste Artikel lautet: »Diejenigen von den in der Provinz Elsass zerstreuten Juden, die im Augenblick der Veröffentlichung des vorliegenden Reglements keinen ständigen Wohnsitz besitzen und die Steuer für den Schutz (droit de protection) an den König, die Steuer für die Zulassung und den Aufenthalt (reception et habitation) an die Seigneurs und die Städte und die Abgabe (contribution) an die Gemeinden nicht eingezahlt haben, müssen diese Prpvinz innerhalb dreier Monate verlassen, selbst wenn sie sich verpflichten, von nun an diese Steuern und Abgaben zu zahlen; wenn sie aber im Lande bleiben, so ist mit ihnen wie mit Landstreichern und gewissenlosen Menschen (vagabonds et gens sans aveu) nach der ganzen Strenge der Ordonnances zu verfahren.« Die folgenden Artikel verbieten den Seigneurs, Städten und Gemeinden, ausländischen Juden ständigen Wohnsitz zu gewähren; die letzteren dürfen sich im Elsass nur in geschäftlichen Angelegenheiten höchstens drei Monate lang aufhalten, falls sie eine Bestätigung über ihre Persönlichkeit und den Zweck der Reise von der Behörde des Ortes, aus dem sie kommen, vorweisen.
Das neue Gesetz schützt das Land vor dem Zuzug fremder Juden und normiert zugleich ihren natürlichen Zuwachs. Allen Elsässer Juden und Jüdinnen wird verboten, ohne eine ausdrückliche Genehmigung des Königs, selbst auf feudalen Besitztümern Ehen einzugehen; Zuwiderhandelnde werden des Landes verwiesen; den Rabbinern wird bei Androhung einer Strafe von 3000 Livres – im Wiederholungsfälle der Ausweisung aus der Provinz – verboten, Eheschließungen ohne eine solche Genehmigung vorzunehmen. Durch diesen in den »liberalen« Regierungsjahren Ludwigs XVI, veröffentlichten Erlass wurde also das schmachvolle System, das die Juden zu Leibeigenen machte, legitimiert. Die jüdische Bevölkerung von Elsass stöhnte auch weiter unter der väterlichen Vormundschaft der Seigneurs und der Stadtbehörden. Kühnere Juden suchten dieses Reich der feudalen Sklavenhalter zu fliehen und nach den größeren Zentren, besonders nach der Hauptstadt des Landes, Paris, zu kommen. Hier standen ihnen aber neue Erniedrigungen bevor. Die Hauptstadt befand sich außerhalb des »Ansiedlungsrayons«, und mit den ankommenden Juden wurde in Paris ebenso verfahren, wie in unseren Tagen in Petersburg oder Moskau. Sie standen hier unter der Aufsicht einer eigenen »Inspektion für Juden und Vagabunden« (inspection des escrocs et des juifs). Zur Erlangung einer Genehmigung für zeitweiligen Aufenthalt in Paris mussten die Juden schriftliche Beweise über den Zweck ihrer Reise vorzeigen. Die Polizeikommissare kamen jede Woche oder alle vierzehn Tage in die von Juden bewohnten Gasthäuser und Herbergen, machten Haussuchungen, nahmen die »Verdächtigen« mit und schleppten solche, die keine Ausweise über das Wohnrecht hatten, ins Gefängnis. Solche »Treibjagden« wurden gewöhnlich abends oder sogar nachts abgehalten.
Auf den Polizeirevieren spielten sich Szenen wie die folgende ab:
»Womit beschäftigt sich dieser?« fragt der Polizeibeamte.
»Er ist Trödler«, antwortet der Schutzmann. – »Gut, der kommt ins Gefängnis. Und dieser?« – »Leon Caguin, wohnt in der Rue St. Martin, ist nach Paris gekommen, um ein Lieferungsgeschäft mit dem Grenadierregiment abzuschließen; wird nach einigen Tagen verreisen.« – »Gut. Wenn er aber über die festgesetzte Frist hinaus bleibt, kommt er ins Gefängnis! Der Dritte?« – »Ein Kaffeemahler.« – »Der folgende?« – »Steht in schlechtem Ruf.« —- »Ausweisen! Und der letzte?« – »Alexandre Jacob aus der Rue Moduet, Faktor, hat keinen Paß …« – »Ausweisen! Jagen Sie auch die andern fort! Alle ausweisen!«

Trotz, aller Verbote und Verfolgungen bestand in Paris doch eine ständige jüdische Kolonie, die um 1780 herum an die 800 Seelen zählte. Die Zusammensetzung dieser Kolonie war recht bunt. Eine privilegierte Stellung nahmen die Juden aus dem Süden, die Sephardim ein, hauptsächlich Großkaufleute aus Bordeaux; an der Spitze dieser Gruppe stand der bekannte Philantrop, der Begründer der Taubstummenanstalt, Jakob Rodrigues Pereira. Die niedrigste Stufe in der Kolonie nahmen die Aschkenasim, elsässische und deutsch-polnische Juden, ein. Vom Jahre 1777 ab waren alle nach Paris kommenden Juden durch einen Erlass des Polizeidirektors verpflichtet, ihre Papiere (die Empfehlungsschreiben der Notare ihrer Gemeinden) dem Pereira vorzuweisen, der eine genaue Eiste über die Neuankommenden führte und diese periodisch der Polizeibehörde vor wies; diese jüdische Inspektion war den Aschkenasim besonders lästig, da Pereira sie viel strenger behandelte als seine Landsleute, die Sephardim. Die Polizeijagden auf die passlosen Juden dauerten fort, und selbst in den ersten Monaten der Revolution (Mai und Juni 1789) fanden in Paris mehrere Überfälle der Polizei auf jüdische Quartiere statt. Das Edikt von 1787, das den Nichtkatholiken volle Freiheit in Handel und Industrie gewährte, erstreckte sich auf Protestanten, aber nicht auf Juden. In den letzten Jahren vor der Revolution wurde die jüdische Frage in einer Regierungskommission, unter der Leitung des liberalen Ministers Malesherbes behandelt; dieser Kommission gehörten auch Vertreter der Juden an, von den Sephardim: die Juden aus.Bordeaux, Furtado, Gradis und andere; von den Aschkenasim: der erwähnte Cerf-Berr aus Straßburg und Jesaja-Beer Bing aus Nancy. Die jüdischen Vertreter forderten bürgerliche Gleichberechtigung; die Regierung konnte sich aber zu einer so radikalen Reform nicht entschließen, bis das Ungewitter von 1789 losbrach.

Italien.

Im Ghetto der Stadt Rom blieb ein dichter Extrakt des Geistes des Mittelalters erhalten. Die päpstliche Regierung wies einigen Tausend Juden am niedrigen, schlammigen Ufer des Tibers ein kasemattenartiges Viertel zu und stellte an ihnen qualvolle Experiment an. Am Ende des 18. Jahrhunderts, als die durch die Angriffe der Vernunft bedrohte Kirche sich im Kriegszustände befand, erreichte die Härte dieser Experimentatoren ihren Höhepunkt. Es hatte den Anschein, als wolle man sich an den erdrückten, eingeschüchterten Bewohnern des römischen Ghettos für die Verunglimpfung der Kirche im Lande Voltaires und der Enzyklopädisten rächen; unter diesem Häuflein von Ungläubigen fahndete die Kirche nach Proselyten, gleichsam um ihre Verluste in der Herde der Gläubigen zu ersetzen. »Das Edikt über die Juden« (Editto sopra gli Ebrei), das im Jahr 1775 durch den Papst Pius VI. erlassen wurde, gehört zu den unmenschlichsten Akten in der Geschichte der Menschheit. In den 44 Paragraphen dieser »Verfassung des Ghettos« konzentrierte sich das aus verschiedenen Bullen und Kanons zusammengetragene Schlangengift des römischen Katholizismus. Die Juden durften außerhalb des Ghettos nicht wohnen. Am Tage war es ihnen gestattet, sich in ihren Angelegenheiten in die Stadt zu begeben, aber daselbst zu übernachten war ihnen unter Androhung einer Geldbuße und körperlicher Züchtigung untersagt.
Die Pförtner an den Toren des jüdischen Viertels durften von 9 Uhr nachts an niemand hinein- und hinauslassen. Außerhalb des Ghettos durften die Juden keine Geschäfte betreiben; nur in seltenen Fällen wurde es ihnen freigestellt, außerhalb des Ghettos oder in dessen Nähe ein Geschäft zu eröffnen. Unter keinen Umständen durften die Juden sich in der für den Sommeraufenthalt bestimmten Umgebung der Stadt niederlassen, und wäre es nur, um frische Duft zu atmen. Ein Jude durfte in den Straßen Roms keine Wagen benutzen. Die Juden beiderlei Geschlechts waren verpflichtet, immer und überall, außerhalb und innerhalb des Ghettos, »ein gelbes Abzeichen zwecks Unterscheidung von den andern« zu tragen. Die Männer nähten sich diesen gelben Fetzen an ihre Mützen, die Frauen an ihren Kopfputz, wobei es den einen wie den anderen untersagt war, das Abzeichen durch ein Tuch oder.eine Binde zu verdecken; wenn aber ein Jude in einer gewöhnlichen, nicht »vorgeschriebenen« Mütze aus dem Hause trat, so musste er sie in Händen tragen und entblößten Hauptes einhergehen. Für die Übertretung dieser Vorschriften wurden die strengsten Strafen »nach Ermessen« festgesetzt. Den Juden war untersagt: an Christen Fleisch und Milch zu verkaufen, ihnen Passahbrot (Mazzes) zu geben, sie als Diener und Ammen anzustellen, christliche Hebammen beizuziehen, Christen in ihre Synagoge einzuführen, mit ihnen zu essen, zu trinken, zu spielen, selbst sich mit ihnen in Häusern, Gasthäusern und Straßen zu unterhalten – dies alles unter Androhung von körperlicher Züchtigung und Geldbußen für beide Teile. Vor dem »verderblichen« Einfluss der Ghettobewohner wurden besonders jene von ihren unglücklichen Brüdern, Schwestern und Kindern bewahrt, die in die Falle der katholischen Missionare gerieten und im »Katechumenenhause« wie in einem Gefängniss saßen. Unter der Androhung einer Geldbuße von 300 Skudis, der Galeerenstrafe und »anderer körperlicher Züchtigungen nach Ermessen« war es den Juden untersagt, sich diesen Katechumenenhäusem oder der Kirche zur Verkündung Mariä zu nähern. Jedem Juden, der einen flüchtigen Katechumen oder Neubekehrten bei sich beherbergte, drohte die Folterbank. Für die Wiederbekehmng dieser zum Judentum wurden die Schuldigen mit Gefängnis, Einziehung des Vermögens und Galeerenarbeit bestraft. Dem intimsten geistigen heben der Juden wurden Fesseln angelegt. Gegen die »gottlosen, verdammten talmudischen, kabbalistischen und anderen Schriften, die voller Irrtümer und Verunglimpfungen der christlichen Sakramente sind«, waren acht grimmige Paragraphen gerichtet. Solche Schriften – d. h. alle jüdischen Schriften, abgesehen von Gebetbüchern und der Bibel – durften die Juden weder bei sich haben, noch lesen, verkaufen, verschenken u. dgl. Kein Jude hatte das Recht, irgendein Buch in hebräischer Sprache ins Band zu bringen, zu kaufen oder als Geschenk in Empfang zu nehmen, ohne es vorher der Zensur des Pater Maestro am apostolischen Hofe in Rom und der Bischöfe und Inquisitoren an anderen Orten unterbreitet zu haben. Auf die Übertretung dieses Verbots stand eine siebenjährige Gefängnisstrafe. Als ein Hohn auf die heiligsten Gefühle des Menschen erscheint das über die Juden verhängte Verbot, ihre Toten bei angesteckten Kerzen, unter Verlesung von Psalmen und sonstigen religiösen Zeremonien zu beerdigen, auf den Gräbern ihrer Verstorbenen Gedenksteine zu errichten und an diesen Aufschriften anzubringen. Neue Synagogen durften im Ghettogebiet nicht gebaut werden, aber auch alte zu restaurieren war verboten. An christlichen Feiertagen durften die Ghettobewohner in ihren Häusern nur bei geschlossenen Türen arbeiten.
Dem Rabbiner stand es nicht frei, die den geistlichen Stand kennzeichnende Tracht zu tragen: er musste die übliche Kleidung der Baien tragen. Die Rabbiner waren verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Juden zu den Predigten der katholischen Missionare in festgesetzter Zahl erscheinen, denn die »Predigt ist das beste Mittel, die Juden zu bekehren«. Die geistlichen Hirten des Judentums wurden angehalten, ihre eigene Herde in den Rachen der Wölfe zu treiben – zu solcher raffinierten Grausamkeit verstiegen sich die Verkünder der »Religion der Biebe«. Schließlich befiehlt der Papst, das »Judenedikt« an allen Straßen und Palästen Roms und an den Synagogen innerhalb des Ghettos zur genauen Kenntnisnahme anzuschlagen. Dieser Befehl wurde am 20. April des Jahres 1775 vollzogen – und die römischen Einwohner drängten sich um die riesigen Bekanntmachungen, die die Paragraphen der päpstlichen »Judenverfassung« enthielten. So war das Regime beschaffen, unter dem die im römischen Ghetto zusammengedrängte, 7000 Seelen zählende jüdische Gemeinde leben musste, abgesehen von den in den übrigen Gegenden des Kirchenstaates und im päpstlichen Avignon verstreuten Juden. Dupaty, der im Jahr 1783 Rom besuchte, schrieb, dass die Rage der Juden dort schlimmer als irgenwo anders wäre. »Man fragt: wann werden die Juden Christen werden? Ich aber frage: wann werden die Christen tolerant werden? Christen, wann werdet ihr aufhören, die Rolle der Pächter der göttlichen Gerechtigkeit zu spielen?«… Ein schwarzes Heer von Mönchen verbreitete abscheuliche judenfeindliche Schmähschriften, die den Fanatismus der Katholiken schürten. Tätlichkeiten gegen die Juden in Rom auf offener Straße, oft von Plünderungen und Totschlag begleitet, waren an der Tagesordnung. Wenn ein Jude an einer Kirche vorbeiging, wurde nach ihm mit Steinen geworfen, und er wurde oft verwundet. Einmal geschah es, dass ein Stein einen einäugigen Juden traf, der infolgedessen gänzlich erblindete. Wo es sich um Neubekehrte handelte, da erreichten die gegen die Juden gerichteten Gewalttätigkeiten eine ganz besondere Intensität. Im Frühjahr 1787 erklärte sich ein Jude bereit, zum Christentum überzutreten. Als er in das Asyl für die Neubekehrten (casa) gebracht worden war, erklärte er, dass zwei in verwandtschaftlichem Verhältnis zu ihm stehende elternlose Knaben im Ghetto zurückgeblieben seien. In der Tat hielten sich die Knaben bei ihren nähen Verwandten auf. Als die Kunde in die Gemeinde drang, dass die päpstlichen Argusse nach den Knaben fahndeten, um sie auf gewaltsamem Wege zu taufen, beeilte man sich, sie zu verstecken. Nun verhaftete die römische Polizei sechzig jüdische Knaben, sperrte sie ein und befahl, die Ältesten der jüdischen Gemeinde auf die Folterbank zu spannen. Die unglücklichen Waisen mussten schließlich ausgeliefert werden. Ungeachtet des verzweifelten Widerstandes des ältesten Knaben, wurden sie gewaltsam zum Taufbecken geschleppt. Den Versuch, sie zu retten, musste die Gemeinde mit einer großen Kontribution büßen. Die römischen Juden teilten diesen Fall ihren Glaubensgenossen in Berlin und andern Orten mit. Die zu Tode gemarterte römische Gemeinde faßte endlich im Jahr 1786 den Beschluß, sich an den Papst Pius VI. mit der flehentlichen Bitte zu wenden, ihre Tage zu erleichtern. In der vom Gemeinderat des Ghettos dem Papst unterbreiteten Denkschrift werden alle dem Ghetto auferlegten Steuerbelastungen (in dem langen Steuerregister figurieren unter anderem auch die schändliche »Karnevalsteuer« und die Gebühren zugunsten des »Katechumenenhauses«) alle Gewerbe- und Betätigungseinschränkungen und die dem Juden auf Schritt und Tritt zuteilwerdenden öffentlichen Demütigungen aufgezählt. Die Verzweiflung der Bittsteller machte sich in dem folgenden, an den Papst, den Verfasser des Edikts von 1775 gerichteten naiven Appell Duft: »Eure Heiligkeit möchte sich erheben und von der Höhe ihres Thrones einen Blick auf das unten liegende Ghetto, werfen, auf dieses unglückselige Überbleibsel Israels, das doch auch das Volk Eurer Heiligkeit ist und das unter Tränen und Flehen die Hände zu Eurer Heiligkeit ausbreitet!« DerJPapst Pius VI. ließ sich durch diese Bitte erweichen und setzte eine spezielle, aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission ein, um diese Beschwerden zu untersuchen.
Diese Kommission hatte es mit der Erfüllung ihres Auftrages nicht besonders eilig, und noch im Jahr 1789 war sie damit beschäftigt, die von den Juden vorgelegte Denkschrift zu prüfen. Die Beratung der heiligen Väter führte natürlich zu nichts. Eine andere Macht war es, bei der die Seufzer der gemarterten Ghettos einen Widerhall fanden: es war die aus dem revolutionären Frankreich marschierende siegreiche Armee, die in Rom eindrang, den Papst vertrieb und die Fahne der Republik im Zentrum des despotischen Kirchen- und Polizeistaates erhob. Die Lage der jüdischen Gemeinden an anderen Orten Italiens bot ein zwar nicht so düsteres, aber immerhin unerfreuliches Bild. Viele Provinzen befanden sich in der politischen Einflusssphäre Österreichs oder Spaniens, d. h. zweier Staaten mit einer scharf ausgeprägten klerikalen Richtung in der Judenfrage. Der Einfluss der europäischen Reformen des Kaisers Josephs II. konnte nur in solchen au Österreich eng angrenzenden Punkten wie Triest, zum Ausdruck kommen, und auch dies nicht im Sinne einer Verbesserung des staatsbürgerlichen Debens der Juden. In den großen Handelsstädten Italiens gestalteten sich die Beziehungen zu den Juden unter dem Einfluss von Kompromissen mit den entsprechenden Munizipalbehörden. Die wichtige kommerzielle Rolle, die die Juden in der Hafenstadt Livorno spielten, nötigte die betreffende Munizipalbehörde, mit der jüdischen Gemeinde zu rechnen, und die Munizipalverfassung des Jahres 1780 musste den Juden das Recht gewähren, ihre eigenen Abgeordneten in den Stadtrat zu wählen. Hier wie in Florenz hielten sich die Juden ungestört außerhalb des Ghettos auf. Die durch die Wachsamkeit der konservativen Regierung der Republik sorgsam behütete alte Ordnung des Ghettos von Venedig sträubte sich gegen jeden neuen Einfluss, trotzdem die venezianischen Juden als Exporteure und Bankiers auf industriellem Gebiet eine bedeutende Rolle spielten. Was die anderen Gegenden anbetrifft, z. B. die Herzogtümer Piemont und Modena, so wurde hier die Rage der Juden durch das kanonische Recht bestimmt; die klerikal gesinnten Regenten waren bestrebt, die Lebensordnung in den jüdischen Gemeinden möglichst nach dem Vorbilde des römischen Ghettos zu gestalten.

Die Niederlande, England, Schweiz und Skandinavien

In einem schroffen Gegensatz zum düsteren Ghetto im Hauptsitz des Katholizismus standen die jüdischen Gemeinden im reformierten Holland, dem Hort relativer Glaubensfreiheit. Indem Holland seine gastfreundlichen Tore Zehntausenden jüdischer Flüchtlinge aus den Ländern der Inquisition (Spanien und Portugal) und den Opfern der Rechtlosigkeit aus Deutschland öffnete und ihnen Zuflucht gewährte, sicherte es zu gleicher Zeit den Neuankömmlingen, wenn auch nicht staatsbürgerliche Gleichberechtigung, so doch Glaubensfreiheit und Unantastbarkeit der Person. In Amsterdam, Haag, Rotterdam und anderen niederländischen Städten bestanden zahlreiche sowohl sephardische wie aschkenasische Gemeinden, die sich durch gutorganisierte Selbstverwaltungen auszeichneten. Die Juden ragten besonders im Großhandel, speziell in dessen europäisch amerikanischem Zweige, und auf finanziellem Gebiete hervor.
In staatsbürgerlicher Hinsicht führten sie jedoch ein abgesondertes Dasein und kamen an zweiter Stelle nach den Katholiken zu stehen, die ebenso wenig wie sie bei den Anhängern der herrschenden Kirche Gleichberechtigung zu erringen vermochten. Die Juden bildeten auf diese Weise eine Staatsbürgerklasse dritten Ranges. In Amsterdan galt noch ein altes Gesetz, nach dem die Juden zu den kaufmännischen und gewerblichen Zünften nicht zugelassen wurden; infolgedessen waren die mittleren und niederen Klassen der jüdischen Bevölkerung von verschiedenen Erwerbszweigen ausgeschlossen. Die öffentlichen Schulen des Landes blieben den jüdischen Kindern verschlossen, trotzdem die Juden die allgemeine Schulsteuer und sogar die der herrschenden Kirche zugutekommenden Steuern entrichteten. Im Allgemeinen legten die Munizipalbehörden eine offensichtliche Mißgunst gegen die Juden an den Tag und suchten deren Wettbewerb mit den Christen auf den verschiedenen Gebieten der wirtschaftlichen Tätigkeit zu verhindern. Wirklich gute Beziehungen bestanden nur zwischen der jüdischen Aristokratie und den Statthaltern der Niederlande, den Prinzen aus dem Hause Oranien. Zur Zeit des gegen den Statthalter Wilhelm V. gerichteten Aufstandes (1786—87) stellten sich die Juden an die Seite der »manischen Partei«. Der aus Haag entflohene Statthalter fand im Hause des Benjamin Cohen in Amsterdam freundliche Aufnahme. Als Wilhelm mit Hilfe deutscher Truppen die Herrschaft wiedererlangte, beteiligten sich die Juden an den Feiern zu Ehren des zurückgekehrten Regenten. Allem Anscheine nach hatten sie ihre Gründe, die »regierende Partei« denjenigen »Patrioten« vorzuziehen, die in den Magistraten und Zünften ihre Rechte auf alle erdenkliche Weise einzuschränken suchten und sie von ihrer Gesellschaft ausschlossen. Anzeichen einer systematischen passiven Unduldsamkeit traten mit voller Deutlichkeit in England hervor. Hier unterlagen die Juden dem allgemeinen Schicksal der »Dissenters« (der Christen, die der herrschenden anglikanischen Kirche nicht angehörten), denen im 18. Jahrhundert die bürgerliche Gleichberechtigung hartnäckig verweigert wurde; aber als Nichtchristen standen sie auf der gesellschaftlichen Stufenleiter um 1 eine Stufe tiefer als die »Dissenters«. Die Aufhebung des liberalen Gesetzes von 1753 von der Naturalisation der Juden in England, die im Jahr 1754 auf Betreiben der konservativen Partei erfolgte, schob die Entwicklung der englischen Judenheit in staatsbürgerlicher Hinsicht für lange Zeit hinaus. Die Juden nahmen regen Anteil am Handel und an der Industrie und besaßen ihre autonomen Gemeinden in London und anderen Städten; von dem gesellschaftlichen und politischen Leben des Landes waren sie jedoch ausgeschlossen. In vielen elementaren Rechten waren sie eingeschränkt (z. B. dem Erwerb von Immobilien).
Die Bekleidung eines öffentlichen Amtes war mit einer Eidesformel verbunden, die folgende Worte enthielt: »Nach dem echten und wahren Christenglauben.«
Dieser fatale Satz hinderte die Juden, dem Parlament, den Munizipalbehörden und den verschiedenen Standeskorporationen anzugehören. Ein originelles System bürgerte sich ein: Der Jude wurde nicht verfolgt, in sein intimes Privatleben drang man nicht in brutaler Weise ein, wie es in Preußen und Österreich der Fall war, aber von dem staatsbürgerlichen und politischen Ganzen wurde er durch unüberwindliche Schranken getrennt. Zwischen dem Juden und dem alle Rechte genießenden Engländer stand die Kirche – nicht eine aggressive und kampflustige, wie die römischkatholische, sondern eine in ihrer Passivität zähe, den Nichtanglikaner, um so weniger den Nichtchristen als Bürger keineswegs anerkennende Kirche. Die Zugehörigkeit zu der herrschenden Kirche konnte aus allen Verlegenheiten helfen.

Als im Jahr 1780 auf dem Boden religiöser Konflikte in London Straßenkrawalle entstanden, ließen die Juden an den Fenstern ihrer Häuser folgende Inschrift anbringen: »Dies Haus gehört einem echten Protestanten.« Zu jener Zeit begann man von einer Änderung der äußeren Etikette in weiterem Sinne immer öfter Gebrauch zu machen. Unter der jüdischen Aristokratie befanden sich nicht wenige Familien, die sich entschlossen hatten, ihre Kinder in den Schoß der herrschenden Kirche zu bringen, um ihnen eine gute Karriere und eine Stellung in der Gesellschaft zu sichern. Große Versuchung übte das Beispiel eines Finanzmannes, des Ältesten der Londoner Gemeinde – Simson Gedeon – aus, der gleich nach der Aufhebung des Naturalisierungsgesetzes seine Kinder taufen ließ. Eine ganze Reihe jüdischer Familien in London folgte gegen Ende des 18. Jahrhunderts diesem Beispiel. Abtrünnigkeit machte sich besonders in der Gemeinde der Sephardim unter den reichen Kauf- und Finanzleuten bemerkbar. Standhafter erwiesen sich die Aschkenasim, deutsch-polnische Juden, bei denen die nationalen Traditionen überwogen. Auf der wirtschaftlichen Stufenleiter kamen sie eine Stufe tiefer zu stehen, und zu gleicher Zeit waren sie durch einen weiteren Abstand von der englischen Gesellschaft getrennt. Die Aschkenasim wohnten nicht nur in London, sondern auch in anderen Hafen- und Handelszentren; Liverpool, Plymouth, Bristol und beschäftigten sich mit Kleinhandel und Hausieren. Wenden wir uns nun von Ländern mit gemischter sephardisch-aschkenasischer Kultur, wie Holland und England, zu solchen Judenkolonien, die in ihrer inneren Zusammensetzung gleichartiger und einheitlicher waren, und entweder zu Deutschland oder Österreich hielten, so bietet sich unseren Augen dasselbe trostlose Bild.

In der Schweiz, wo Juden überhaupt nicht wohnen durften, bestand eine besondere »Zone« innerhalb deren ihnen ein zeitweiliger Aufenthalt bewilligt wurde.

Es waren dies zwei Städtchen im Badenschen: Endingen und Lengnau, die später dem Kanton Aargau angegliedert wurden. Die »Schutzjuden«, die hier Unterkunft fanden, Einwanderer aus Österreich, Deutschland und Elsass, wohnten hier auf Grund eines mit den örtlichen Behörden geschlossenen Vertrages, der alle 16 Jahre erneuert werden musste. Die Erneuerung dieses Vertrages in den letzten Terminen des 18. Jahrhunderts (1760, 1776, 1792) kam unter folgenden Bedingungen zustande: Die Juden dürfen sich nicht vermehren; Eheschließungen zwischen Unbemittelten werden nicht zugelassen; Bräute, die aus anderen Ländern kommen, müssen nicht weniger als Zoo Gulden als Mitgift mitbringen; Juden dürfen keine Häuser neu erwerben; sie dürfen keinen Boden ankaufen, keinen Wucher treiben; keine Gelder auf Immobilien ausleihen; ein Jude darf nicht mit einem Christen in demselben Hause wohnen. Zu solchen Maßnahmen griff man gegen ein Häuflein Juden (ungefähr 150 Familien) im »Lande der Freiheit« am Vorabend und selbst in den ersten Jahren der großen französischen Revolution.

Die jüdische Kolonie Dänemarks (ungefähr 3000 Seelen) bildete einen Zweig der Hamburger Gemeinde. Die an Hamburg angrenzende holsteinische Stadt Altona gehörte im 18. Jahrhundert zum Dänischen Reiche, und die jüdischen Gemeinden der beiden Städte (auch die dritte Gemeinde des Städtchens Wandsbek gehörte dazu) hielten sich einen gemeinsamen Rabbiner. In die inneren Gebiete des eigentlichen Dänemarks war den Juden der Eintritt erschwert, aber den reichen Kaufleuten und Fabrikbesitzern gelang es doch, dorthin einzudringen und eine Kolonie in der Hauptstadt‘ des Landes, Kopenhagen, zu gründen. Unter dem Könige Christian VII. (1766—1808) verhielt sich die Regierung gegen die sich unter den dänischen Juden verbreitende »Berliner Aufklärung« wohlwollend. Unter dem Einfluss. der neuen Bewegung – zerfiel die Kopenhagens Gemeinde in zwei Gruppen: in Progressisten und Orthodoxe.
Doch waren die dänischen Juden am Vorabend des Jahres 1789 von der bürgerlichen Gleichberechtigung weit entfernt. Was das andere skandinavische Land, Schweden, betrifft, so wurde die christliche Bevölkerung ursprünglich (im 17. Jahrhundert) von »dem möglichen Einfluss der jüdischen Religion auf den reinen evangelischen Glauben« geschützt; von den nach Stockholm kommenden Juden wurde nicht mehr und nicht weniger als die Taufe nach lutherischem Ritus gefordert. Im 18. Jahrhundert brachten es jedoch jüdische Kaufleute fertig, Wohnrecht im Lande zu erlangen, ohne dabei ihre Religion wechseln zu müssen. Die einheimischen Juden durften im ganzen Königreiche wohnen und frei ihren Gottesdienst verrichten, doch ohne alle jene Zeremonien, »die Anstoß bei der christlichen Bevölkerung erregen können«. Jüdische Gemeinden mit einem Rabbinat und Bethäusern wurden nur in den drei Städten Stockholm, Göteborg und Norköpping geduldet. Ausländischen Juden wurde das Wohnrecht nach einer ganzen Reihe von Scherereien und nach Vorlegung von Ausweisen über ihre Person und ihre materielle Lage gewährt, und dies nur in den drei obenerwähnten Städten. Unter günstigeren Bedingungen wurden ins Land reiche Juden zugelassen, die über ausreichende Kapitalien verfügten, um Großbetriebe in solchen Industriezweigen zu eröffnen, die im Lande selber schwach entwickelt waren. Solchen Personen wurden allerlei Konzessionen erteilt. Was den Kleinhandel und das Kleingewerbe betrifft, so unterlagen sie schweren Beschränkungen. Die Spuren des schwedischen Reglements vom Jahre 1782. das in dessen Heimat längst außer Kraft getreten war, hat sich bis auf den heutigen Tag in der gewesenen schwedischen Provinz Finnland erhalten, wo die archaische Gesetzgebung über die Juden von der neuen russischen Metropole, dieses großen Reservoirs der jüdischen Rechtlosigkeit, unterstützt wurde. –

Polen nach der ersten Teilung.

Am Vorabend der durch die Revolution von 1789 hervorgerufenen Krise im Leben der westeuropäischen Juden, befand, sich das große irdische Zentrum in Polen in einem Zustand politischer und gesellschaftlicher Auflösung. Es war dies der Moment zwischen der ersten und der zweiten Teilung Polens. An dem. ungesunden Organismus der Polnischen Republik wurde die erste Vivisektion vorgenommen: Russland nahm sich Weißrussland, Österreich Galizien, Preußen Pommern und einen Teil der Provinz Posen. Damit wurde auch der kompakte Organismus der polnischen Judenheit zerstückelt. Ein Teil dieser eigenartigen, in sich geschlossenen Masse wurde mit einem Male zum Gegenstände der »Reformexperimente« im Laboratorium Joseph II.; der andere sah sich in die Rolle der »Geduldeten« in der Staatskaserne Friedrichs II. versetzt, der die polnischen Provinzen viel lieber ohne die jüdische Bevölkerung genommen hätte; der dritte Teil geriet unter die Botmäßigkeit Russlands, das sich bis dahin auch mit dem Vorhandensein eines Häufleins Juden innerhalb des kleinrussischen Grenzgebietes nicht befreunden konnte. Das nach der chirurgischen Operation des Jahres 1772 übriggebliebene zusammengeschrumpfte Zentrum der polnischen Judenheit machte auf seine Weise die Krämpfe des im Todeskampfe liegenden Staates, dem noch zwei Teilungen bevorstanden, durch. Das sterbende Polen warf sich hin und her und rang nach einem Lebenselixier in den Regimentern des Ständigen Rates, in den Reformen des Vierjährigen Reichstages (1788 bis 1791). Im Zusammenhang mit den allgemeinen Reformen machte sich das Bedürfnis nach der Heilung des alten Gebrechens. – der Lösung der Judenfrage – fühlbar. Die Finanzkommission des Vierjährigen Reichstags zog Erkundigungen über die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Polen nach-der ersten Teilung und über deren wirtschaftliche und kulturelle Lage ein; hier sind die Ergebnisse der offiziellen Untersuchungen, wie sie uns in den Ermittlungen eines der Kommissionsmitglieder, des Geschichtsschreibers Tadeusz Czacki, der die jüdische Frage studierte, vorliegen: Nach den offiziellen Angaben zählte die jüdische Bevölkerung von Polen und Litauen gegen das Jahr 1788 ungefähr 617 000 Seelen; auf Grund einer ganzen Reihe von Berichtigungen weist Czacki mit Recht darauf hin, dass die wirkliche Zahl der Juden, die sich aus Erwägungen fiskalischer Natur der offiziellen Registrierung entzogen hatten, wenigstens die Ziffer 900 000 erreichte. Dies entspricht beinahe dem glaubwürdigen Hinweis Butrimowiczs’, des Mitgliedes der »jüdischen Kommission« am »Vierjährigen Reichstag«, dass die Juden in Polen ein Achtel der gesamten Bevölkerung (8 790 000) ausmachen. Infolge der zu jener Zeit stark eingebürgerten Sitte, frühzeitige Ehen zu schließen, vermehrte sich die beinahe eine Million zählende jüdische Bevölkerung sehr rasch. Aber eben diese Sitte war es, die die erhöhte Sterblichkeit der jüdischen Kinder und die zunehmende Kränklichkeit der jungen Generation zur Folge hatte. Die Schulbildung der Kinder beschränkte sich auf das Studium des religiösen Schrifttums, insbesondere des Talmuds. Der in jüdischen Händen befindliche Handel verteilte sich auf drei Viertel der Gesamtausfuhr und ein Zehntel der Einfuhr. Für seinen Lebensunterhalt verwendete der jüdische Kaufmann nur die Hälfte dessen, was der christliche Kaufmann verbrauchte, und daher war auch der jüdische Handelsmann in der Lage, seine Waren zu mäßigeren Preisen abzusetzen. Sieht man von GroßPolen ab, so bildeten die Juden in der Provinz die Hälfte aller Handwerker. Unter den Handwerkern überwogen Schuhmacher, Schneider, Kürschner, Goldarbeiter, Zimmerleute, Steinmetze und Barbiere; im ganzen Lande gab es nur 14 Familien, die Ackerbau trieben. Es kam nur selten vor, dass ein von einem Juden erworbenes Vermögen in seiner Familie einige Generationen hintereinander verblieb. Es lag dies an den häufigen Zahlungseinstellungen und an der Neigung zu gewagten Unternehmungen. Die gesamte jüdische Bevölkerung bestand zu einem Zwölftel aus »Müßiggehern«, d. h. aus Leuten, die keine bestimmte Beschäftigung hatten; zu einem Sechzigstel aus Bettlern. Zu diesen Ergebnissen der offiziellen Zählungen und anderweitigen Beobachtungen muss hinzugefügt werden, dass eines der Hauptgewerbe der Juden zu jener Zeit die »Schankwirtschaft« war. Auf den Gütern der Gutsherren stand die Schankwirtschaft in einem engen Zusammenhänge mit der Pacht- und Herbergswirtschaft. Zugleich mit der Verpachtung verschiedener Zweige der Landwirtschaft (Molkerei, Weideplätze, Wald u. dgl.) ging an den Juden auch das »Recht der Propination«, d. i. des Branntweinbrennens und des Aus schankes in den Dorfschenken und Herbergen über. Diese Beschäftigungen ‚ brachten den Juden zu Konflikten mit den Bauern, mit den an die Scholle gefesselten leibeigenen Bauern, den in die Schenke nicht der Wohlstand, – sondern die bittere Not trieb, in die ihn der schwere Frohndienst brachte. An der Tür der Schenke wurde das letzte Stadium der bäuerlichen Verelendung besiegelt, und daraus entstand natürlich die Anschauung, dass der jüdische Schankwirt den Bandmann ruiniere. Diese Beschuldigung wurde gegen die Juden von jenen Gutsherren, Verfechtern der Leibeigenschaft erhoben, die in der Tat die ganze Verarmung ihrer bäuerlichen Sklaven verschuldeten, und aus ihrem an die Juden verpachteten Rechte der Propination die meisten Vorteile zogen. Das Schankgewerbe übte auf die Juden einen demoralisierenden Einfluss aus. Die Lage.des Pächters zwischen dem verschwenderischen, selbstherrlichen Gutsherrn und dem zu Boden gedrückten leibeigenen Bauern war nicht beneidenswert. Für den Gutsbesitzer war der Pächter ebenfalls nur ein Knecht, mit dem er nicht besser, als mit dem leibeigenen Bauer umging. Nicht selten traf es sich, dass der Pächter für den schlechten Zustand der Wege und Brücken vom Gutsherrn Prügel bekam; gar oft kam es vor, dass der Gutsherr im Trünke den Pächter und dessen Familie verhöhnte. Im Tagebuche eines Gutsbesitzers aus Wolhynien vom Jahre 1774 finden wir beispielsweise solche Aufzeichnungen: »Der Pächter Herschko bezahlte mir nicht die aus früheren Terminen bereits fälligen 91 Taler. Ich sah mich daher genötigt, das Geld zwangsweise einzutreiben. Nach dem Vertrage steht mir im Falle der Nichtbezahlung das Recht zu, ihn samt Frau und Kindern für beliebig lange einzusperren, bis er mir die Schuld bezahlt. Ich ließ ihm Fesseln anlegen und ihn in einen Schweinestall sperren, aber seine Frau und seine Bachurim (erwachsene Kinder, Burschen) ließ ich in der Herberge zurück; nur den jüngsten Sohn Lejser nahm ich zu mir auf die Meierei und befahl, ihn im Katechismus und in den Gebeten zu unterrichten.«
Man zwang den Knaben, das Zeichen des Kreuzes zu machen und Schweinefleisch zu essen; und nur die Ankunft von Juden aus Berditschew, die die Schuld des ruinierten Pächters bezahlten, errettete den Vater vom Gefängnis und den Knaben von der gewaltsamen Taufe. Was drängte die jüdische Masse zu diesem niedrigen Gewerbe der Pacht- und der ländlichen Schankwirtschaft? Die Juden, die ein Achtel der gesamten polnischen Bevölkerung ausmachten, gaben die Hälfte aller Handwerker ab und drei Viertel der Vermittler im Ausfuhrhandel (in der Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte: Holz, Flachs, Fellen und Rohstoffen). Aber alle diese Beschäftigungen reichten augenscheinlich nicht aus, den Bebensunterhalt zu sichern. Die Zünfte und Gilden, in denen sich nicht wenige Deutsche befanden, nahmen ebensowenig in Polen, wie im Westen jüdische Handwerker und Handelsleute in ihre Organisationen auf, wodurch ihr Tätigkeitsbereich äußerst eingeengt wurde. Von diesen Kleinbürgern und Kaufleuten, die in der Zusammensetzung der Munizipalitäten überwogen, hing es in den meisten Städten ab, ihren jüdischen Konkurrenten das Recht auf Handel und Gewerbe zu verleihen und zu versagen. Es hat den Anschein, als sei die Reichstagsverfassung vom Jahre 1768, die die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden in den Städten unter die Kontrolle der Munizipalitäten stellte, von diesen letzteren diktiert worden: »Sintemal die Juden den Städten und den städtischen Bürgern unerträgliches Unrecht antun und die Nahrungsmittel entziehen… beschließen wir: dass die Juden in allen Städten und Städtchen, wo sie keine besonderen, von der Verfassung bestätigten Vorrechte besitzen, sich gemäß den mit den Städten geschlossenen Verträgen aufzuführen haben, ohne sich dabei, unter Gefahr harter Strafen, große Rechte anzueignen.« Selbstverständlich gingen alle solche »Verträge« seitens der christlichen Geschäftsleute auf die gesetzliche Unterbindung oder Einschränkung der jüdischen Konkurrenz hinaus. Auf diese Weise drängten die Urheber der Reichstagsverfassung, die Gutsbesitzer und Städter, selber die Juden aus den Städten hinaus und trieben sie auf das Gebiet der ländlichen Pacht- und Schankwirtschaft. Die nach der ersten Teilung Polens erlassene Reichstagsverfassung vom Jahre 1775, die das oberste Regierungsorgan, »den ständigen Rat« (Rada nieustajapa) instituierte, erhöhte den Betrag der von den Juden zu erhebenden Kopfsteuer (von zwei auf drei Gulden von jeder Seele beiderlei Geschlechts, mit den Neugeborenen beginnend), zugleich machte sie den Versuch, die jüdischen Eheschließungen gesetzlich zu normieren, wenn sie auch dabei nicht nach dem harten westeuropäischen Muster verfuhr. Den Rabbinern wurde untersagt, Ehen unter solchen Personen zu schließen, die keine vom Gesetze erlaubte Beschäftigung, sei es Gewerbe, Handel, Ackerbau oder eine Anstellung, hatten, und die nicht imstande waren, die Quelle ihres Lebensunterhaltes anzugeben. Übrigens wurde dieses Gesetz in der Praxis des Lebens niemals angewandt. Das alte Polen hatte keine besondere »Ansiedelungszone« für die Juden; ihnen war bloß der Aufenthalt in einigen »privilegierten« Städten verboten. Zu diesen Städten gehörte auch die Hauptstadt Warschau. Von jeher war es den Juden verboten, in Warschau einen ständigen Wohnsitz zu haben; es war ihnen nur gestattet, in der Zeit der Reichstagstagungen zu kommen, in der die Jahrmärkte abgehalten wurden. Die Verfassung vom Jahre 1768 bestätigte diese »alte Sitte« der zeitweiligen Zulassung der Juden nach Warschau, was sie als »allgemein nützlich und als Mittel gegen die Teuerung« begründete, welche letztere sich immer als Folge des Ausbleibens jüdischer Konkurrenz zeigte. In der Hauptstadt bürgerte sich folgende Ordnung ein: Zwei Wochen vor der Eröffnung des Reichstags ließ der Kronmarschall der Stadt durch Posaunenstöße verkünden, dass es den ankommenden Juden gestattet sei, Handel und Gewerbe zu treiben, und zwei Wochen nach Abschluß der Landtagstagung wurde, ebenfalls durch Posaunenstöße kundgegeben, dass nun der Zeitpunkt gekommen sei, wo die Juden die Stadt zu verlassen haben; die Zögernden wurden durch polizeiliche Gewalt aus der Stadt gejagt. Am nächsten Tag kehrten jedoch die Fortgejagten als Neuangekommene unter verschiedenen Vorwänden zurück und hielten sich dort einige Wochen auf, indem sie die Aufseher durch Bestechungen für sich gewannen. Nun führte der Kronmarschall Lubomirski eigene Erlaubniskarten zum Preise von je einem Silbergroschen ein, die jeder neu ankommende Jude zu lösen hatte und die ihn zu einem fünftätigen Aufenthalt in der Hauptstadt berechtigten; ohne eine sc1 che Karte wagte kein Jude sich auf der Straße zu zeigen. Und bald zeigte es sich, dass diese Aufenthaltsgebühren dem Marschall eine jährliche Einnahme von ungefähr 200 000 Gülden (polnische) sicherten. Als einige hohe Beamte, die im Besitze vieler Viertel der Stadt Warschau waren, die Möglichkeit sahen, sich auf Kosten der jüdischen Rechtlosigkeit zu bereichern, gestatteten sie den Juden, für eine bestimmte Vergütung auf ihren Besitztümeri hinter dem Wall zu wohnen. Und so kam es, dass sich eine ganze Ansiedelung bildete, die unter dem Namen das »Neue Jerusalem« bekannt war. Die christlichen Kleinbürger der Stadt Warschau erhoben ein Jammergeschrei: sie forderten die strikte Anwendung des Gesetzes, das den ständigen Aufenthalt der Juden in Warschau verbot. Lubomirski ergriff harte Maßnahmen gegen die Juden, ohne dem Einspruch der hochgestellten Hausbesitzer und selbst der Fürsprache des Königs irgendwelche Beachtung zu schenken: am 22. Januar 1775 wurden die Juden aus Warschau vertrieben, ihre Wohnungen im Neuen Jerusalem wurden zerstört, und alle ihre Waren nach dem Zeughaus und den Kadettenkasernen geschafft und ausverkauft. Das war ein harter Schlag für die handeltreibende jüdische Bevölkerung, die sich auf diese Weise vom politischen und kommerziellen Zentrum des Landes abgeschnitten sah. Man war wieder gezwungen, sich mit den vorübergehenden Aufenthalten für die kurze Dauer der Landtagstagungen zu begnügen; mit der Zeit aber stellte sich das frühere Umgehen des Gesetzes wieder ein. Auf eine vom Magistrat erhobene Klage hin ging die Administration im Jahr 1784 von neuem daran, Warschau von den Juden zu säubern. Vom Ende des Jahres 1788, als die Tagung des Vierjährigen Reichstags begann, erfuhr die Lage eine Veränderung. Die Juden gelangten schließlich zur Einsicht, dass, da die Tagung des Reichstags ununterbrochen dauerte, auch ihr Wohnrecht in der Hauptstadt keiner Beschränkung durch irgendwelche Frist unterliegen konnte. Und so sammelte sich in Warschau eine jüdische Bevölkerung von ein paar Tausend Seelen an, die sich im Zentrum der Stadt niederließen. Dieser Umstand hatte gegen die Neuangekommenen die Entrüstung der Kleinbürger und des Magistrates heraufbeschworen, was in der Folge zu einem blutigen Zusammenstoß führte (im Jahr 1790).

So kämpften Gesetz und Leben gegeneinander; das Leben wandelte das Gesetz, welches den Bedürfnissen und Anforderungen des ersteren stracks zuwiderlief, in eine Fiktion um; aber das Gesetz rächte sich zuweilen am Leben durch plötzliche Schläge. In die acht Millionen Seelen zählende Masse der polnischen Bevölkerung drang die Million Juden wie ein Keil ein, der sich unmöglich wieder hinausdrängen ließ, nachdem er ursprünglich die Bücke der fehlenden handelsindustriellen Klasse ausgefüllt und im Laufe der Jahrhunderte dem Volke der Adligen und der leibeigenen Bauern als befestigende Klammer gedient hatte. Jetzt suchte ihn ein anderer Keil hinauszudrängen – das christliche bürgerliche Element; aber dieses vermochte ihm nicht beizukommen. Die Judenheit war schon allzu eng mit dem wirtschaftlichen Organismus Polens verwachsen, dem sie in nationaler und geistiger Hinsicht fremd blieb. Darin lag die ganze Tragik der jüdischen Frage in Polen zur Zeit der Teilungen. Das durch die Katastrophe des Jahres 1772 aufgerüttelte Polen drängte nach Reformen. Es entstanden zwei Lösungsmethoden der jüdischen Frage: die eine repressiver Natur, vom alten Geiste der Szlachta durchdrungen, die andere verhältnismäßig liberal, im Geiste »der gewaltsamen Aufklärung« des Kaisers Joseph II. Die erste fand in dem Reichstagsentwurf von Zamoiski (1787—17 0), die andere in den dem informatorischen Vierjährigen Reichstag vorgelegten Entwürfen des Butrimowicz und Czacki ihren Ausdruck. »Der rühmgekrönte Exkanzler (Andrej Zamoiski)« – sagt ein polnischer Historiker, »arbeitete das Reglement eher in der Absicht aus, die Juden loszuwerden, als in der Absicht, sie mit dem Volksorganismus (Polen) gewaltsam zu verschmelzen.«
Das Reglement Zamoiskis trägt einen polizeilich-kanonischen Charakter. Den Juden wird das Wohnrecht nur in jenen Städten gewährt, wo sie auf Grund ehemaliger Vereinbarungen mit den Munizipalbehörden zugelassen werden; was die anderen Städte anbetrifft, so dürfen sie sich dorthin begeben, nur um die daselbst stattfindenden Messen und Märkte zu besuchen. In den Städten müssen sie in besonderen Straßen wohnen, in völliger Absonderung von den Christen. Jeder erwachsene Jude ist verpflichtet, sich bei der lokalen Behörde zu melden und den Beweis zu erbringen, dass er entweder Händler ist, der über ein Vermögen von nicht weniger als tausend (polnischen) Gulden verfügt, oder Handwerker, Pächter und Landarbeiter-. Wer nicht imstande ist, seine Zugehörigkeit zu einem dieser vier Berufe nachzuweisen, ist verpflichtet, binnen eines Jahres das Land zu verlassen; und wer es nicht freiwillig tut, unterliegt der Verhaftung und Einsperrung. Des Ferneren schließt der Urheber des Entwurfes, dem Beispiel alter kanonischer Vorschriften folgend, die Juden von all jenen finanziellen und wirtschaftlichen Funktionen aus, durch die sie sich eine Macht über die christliche Bevölkerung erringen können, wie z. B. von Staatspachten und Steuereintreibungen, und verbietet ihnen, christliche Dienstboten zu halten.
Die Juden dürfen nicht zwangsweise getauft werden, aber die schon getauften Juden müssen von ihrer früheren Umgebung abgesondert und isoliert werden; nur in Gegenwart von Christen dürfen sie mit ihren früheren Glaubensgenossen Zusammenkommen. Dieser Entwurf Zamoiskis gefiel der katholischen Geistlichkeit so gut, dass der Plotzker Bischof Schembek sich bereit erklärte, unter ihn seinen Namen zu setzen. Nachdem sich Zamoiski auf diese Weise mit kirchlich-polizeilichen Bürgschaften versehen hatte, konnte er dem Geiste der Zeit einen mageren Tribut entrichten, indem er nämlich in sein Projekt das Prinzip der Unantastbarkeit der Person und des Vermögens der Juden aufnahm. Den durch drakonische Maßregelungen an Händen und Füßen gebundenen Juden brauchte aber niemand mehr anzutasten. Einen anderen Standpunkt vertrat der Verfasser der in Warschau im Jahr 1782 unter dem Titel: »Uber die Notwendigkeit einer Judenreform in den Banden des polnischen Reiches« erschienenen Schrift. Der Verfasser, der sich hinter dem Pseudonym »Namenloser Bürger« versteckt, verficht kein reaktionäres System, sondern eine utilitär-aufklärerische Reglementierung. Auf religiösem Gebiet lässt er den Juden die Unantastbarkeit ihrer Dogmen, hält es aber für nötig, gegen ihre »schädlichen Gebräuche«, die zahlreichen Feiertage, die Speisegesetze usw. zu kämpfen. Es sei erforderlich, die Kahalautonomie einzuengen und sie auf die rein religiöse Sphäre zu beschränken, damit die Juden keine Republik in der Republik bilden. Um die Juden mit dem polnischen Volke zu verschmelzen, müsse man sie dazu anhalten, die polnische Sprache in ihrem Handelsverkehr zu gebrauchen und den »Jargon« aufzugeben, und den Druck von Büchern in hebräischer Sprache, wie deren Einfuhr aus dem Auslande zu verbieten. Was die wirtschaftlichen Verhältnisse anbetrifft, so könne man den Juden das Handwerk, den ehrlichen Handel und die Bandwirtschaft erlauben, müsse ihnen aber verbieten, Herbergen und Schankwirtschaften zu halten. Man sieht, dass der Entwurf des »Namenlosen Bürgers« die »Unschädlichmachung« der Juden auf dem Wege einer gewaltsamen Verschmelzung anstrebt, wie das vorangehende Projekt des Zamoiski auf dem der gewaltsamen Isolierung. Der auf diese Weise »unschädlich« gemachte Jude konnte dem Christen in den Rechten gleichgestellt werden. Ein Einfluss des österreichischen Systems Josephs II., der die »Besserung« der Juden auf dem Wege der gewaltsamen »Aufklärung« und Verschmelzung mit der einheimischen Bevölkerung als einer notwendigen Bedingung für ihre Gleichstellung mit der übrigen Bevölkerung zu erreichen suchte, ist in diesem Entwurf unverkennbar. Das Projekt scheint in den von den Ideen des XVIII. Jahrhunderts beherrschten Kreisen der polnischen Gesellschaft Anklang gefunden zu haben. Die kleine Schrift des »Namenlosen« erschien im Jahr 1785 in zweiter Auflage, und im Jahr 1789 wurde sie zum dritten Male vom Abgeordneten des Vierjährigen Reichstags Butrimowicz herausgegeben, der sie mit eigenen Nachträgen versah. Dieser Ausgabe entnahm Butrimowicz in der Folge das Material zu seinem Projekt der »jüdischen Reform«, dass er der Kommission des Landtags vorlegte, der unter dem Lärm der großen französischen Revolution tagte.

Wie war die innere Lebensgestaltung der eine Million zählenden jüdischen Masse in Polen zu jener Zeit beschaffen?
Auch hier bietet sich unseren Augen ein trauriges Bild des Zerfalls. Die soziale Verwesung, die giftigen Zerfallsprodukte des verwesenden Leichnams Polens drangen auch in das jüdische Leben ein und brachten dessen einst.so festen Grundpfeiler ins Wanken. Die nationale Hochburg der Judenheit, die autonome Gemeinde ging zusehends aus den Fugen. In den südwestlichen Gebieten (Podolien, Wolhynien und in dem an Österreich abgetretenen Galizien) erlitt sie einen schweren Stoß durch das große religiöse »Schisma« des Chassidismus; die Spaltung der Gemeinde in zwei einander feindliche Parteien, und die Starrheit der chassidischen Mehrheit, die sich zu einer gesellschaftlichen Organisierung unfähig erwies und den Befehlen der Zaddikim blind gehorchte, führten zu einem Zusammenbruche der Kahalorganisation. Was die nordwestlichen Gebiete betrifft (Litauen und das an Russland abgetretene Weißrussland), wo die sich an die Rabbiner anlehnende Kahalpartei die Oberhand über die chassidische gewann, unterlag die Kahalorganisation dem allgemeinen Entartungsprozess, der Polen zur Zeit der Teilungen ergriff. In der Ausbeutung der armen, arbeitenden Volksmasse stand die jüdische Plutokratie den polnischen Gutsherren keineswegs nach; wie die polnische Geistlichkeit, so hielten es auch die Rabbiner mit den Reichen. Die weltliche und geistliche Oligarchie, die in den Kahalorganisationen schaltete und waltete, drangsalierte die Gemeinde durch eine empörend ungleichmäßige Verteilung der Staats- und Gemeindesteuern, indem sie die schwersten Lasten den unvermögenden Gesellschaftsschichten auf bürdete und sie an den Rand eines völligen Ruins brachte; die »Parnessim« (die Vorsteher der Kahalorganisationen) und die Rabbiner wurden nicht selten des Wuchers, der Erpressung und der Unterschlagung der für Gemeindezwecke bestimmten Summen überführt. Der von der Kahaloligarchie ausgeübte Druck erreichte einen derartigen Grad von Härte, dass die bedrängten Massen sich oft an die christlichen Behörden mit Beschwerden gegen die Satrapen ihres eigenen Stammes wandten, ungeachtet des traditionellen Verbots, das,,Gericht der Fremdstämmigen« anzurufen.
Die Bevollmächtigten eines Teiles der jüdischen Gemeinde von Minsk, Vertreter des einfachen Volkes, vornehmlich der Handwerker – beschwerten sich im Jahr 1782 beim Litauischen Schatztribunal gegen die Kahalverwaltung, die »die Minsker Gemeinde« vollständig zugrunde richtete: Die Kahalsleute hätten viele eingezahlte Abgaben unterschlagen und für sich verwendet; sie erpreßten von den Armen mittels des »Cherems« (Bannfluches) Steuern, um dieses durch saure Arbeit erworbene Geld zu unterschlagen; die Kläger fügten hinzu, dass sie für ihren Versuch, die Missetaten des Kahals vor der Behörde aufzudecken, auf Verfügung der Kahalsvorsteher mit Verhaftung, Einsperrung und Stellung an den Pranger in der Synagoge (den Synagogenpranger nannte man »Kuna«) bestraft worden seien. In der Hauptstadt Litauens, Wilna, die durch ihre gelehrten Rabbiner und ihre Geburtsaristokratie weit und breit bekannt war, entstand eine Spaltung im Schoße der Gemeindeoligarchie selbst. Hier zog sich ein Zerwürfnis zwischen dem Rabbiner Samuel Wigdorowicz und dem Kahal, oder richtiger zwischen der Rabbiner- und der Kahalpartei an die zwanzig Jahre hin. Der Rabbiner wurde der Bestechlichkeit, Trunksucht, Rechtsbeugung und des Meineides angeklagt.

Der Streit zwischen dem Rabbiner und dem Kahal wurde zunächst von einem Schiedsgericht und von einem Kongreß litauischer Rabbiner untersucht; da aber die Zwistigkeiten und die Aufregung in der Stadt kein Ende nehmen wollten, wandten sich beide Parteien an den Wojewoden (Herzog) Radziwill, der sich auf die Seite des Kahals stellte und den Rabbiner des Amtes enthob. Das zwischen diesen einander befehdenden Mächten stehende einfache Volk war dem Kahal, dessen Mißbräuche und Gewaltakte in der Tat jedes Maß überschritten, bei weitem feindlicher gesinnt. In den folgenden Jahren (1786—1788) wurde der Bevollmächtigte des einfachen Volkes von Wüna, Simon Wolfowicz zum Kämpfer und Märtyrer für die Sache seiner Wähler. Vom Kahal verfolgt, versah er sich mit einem »eisernen Brief« des Königs Stanislaus August, der ihm und dem einfachen, durch die Tyranei des Kahals »völlig zugrunde gerichteten Volk«, die Unantastbarkeit der Person und des Vermögens sichern sollte. Dies hinderte jedoch die Kahalverwaltung nicht, über Simon den »Oberem« zu verhängen und seinen Namen in das »schwarze Buch« einzutragen. Der Wojewode aber, der es mit den Kahalsatrapen hielt, warf den widerspenstigen Volkstribun ins Gefängnis von Nieswiz. Der Eingekerkerte verfaßte daselbst ein Sendschreiben an den Vierjährigen Reichstag über die Notwendigkeit der Grundreform des jüdischen Gemeindelebens und der Beseitigung der auf dem Volke lastenden Gewalt des Kahals. Dieser zwischen dem Kahal, dem Rabbiner und dem einfachen Volke tobende Kampf erschütterte bis auf den Grund die jüdische gesellschaftliche Organisation in Litauen kurz1’vor dessen Angliederung an das Russische Reich. Einer der wenigen freisinnigen Rabbiner jener Zeit schildert in düstern Farben das Gebaren der Gemeindeoligarchie: »Die Führer (die Rabbiner und die Vorsteher) verzehren die Abgaben des Volkes und trinken Wein für die Geldbußen; über alle Steuern verfügend, setzen sie diese fest und verhängen den Oberem (über die Ungehorsamen); die Entschädigung für ihre Tätigkeit in der Gemeinde nehmen sie sich sowohl in offener wie geheimer Weise, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln; keine vier Ellen durchschreiten sie ohne Bestechung, und die Armen tragen das Joch …Oie Gelehrten schmeicheln den Leichen, und die Labdiner selbst verachten einander: die dem Studium der Thora (des Talmuds) obliegen, verachten alle diejenigen, die sich mit Mystik und Kabbala beschäftigen, und das gemeine Volk verbindet die Urteile beider Parteien und sagt, dass alle Gelehrten sich blamieren… Den Leichen ist die Gunst der (polnischen) Gutsherren wertvoller als das Wohlwollen der Besten und Ehrlichsten (unter den Juden); der Leiche ist nicht darauf stolz, dass der Gelehrte ihm Ehre erweist, sondern darauf, dass der Eürst ihn in seine Gemächer einfuhrt und ihm seine Schätze zeigt.« In den wohlhabenden Klassen ist die »Putzsucht« verbreitet; die Frauen tragen Perlenschnüre und bunte Gewänder. – Die Erziehung der Jugend in den Chedarim und den Jeschiboth entartete immer mehr. Von elementaren Wissenschaften allgemeinbildenden Charakters konnte hier nicht die Rede sein; die Schule trug einen rein rabbinischen Charakter. Die talmudische Scholastik schärfte die Gehirne, aber da sie kein reales Wissen bot, verbreitete sie nur Unsinn.

Der Chassidismus entriss diesem Reich des Rabbinismus ein weites Terrain, aber auf dem Gebiet der Schule erwies er sich ohnmächtig, etwas Neues zu schaffen. In der religiösen und nationalen Stimmung der Gesellschaft bewirkte der Chassidismus tiefgreifende Veränderungen, aber diese Veränderungen zogen den Juden nach rückwärts in die Tiefen mystischer Beschaulichkeit und eines dem Verstände und jedem Versuch einer Gesellschaftsreform feindlichen blinden Glaubens hinein. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts, als sich im jüdischen Deutschland das Panier der kampfeslustigen Aufklärung emporschwang, wurde in Polen und Litauen ein erbitterter Kampf zwischen den Chassidim und Misnagdim geführt, ein Kampf, der das Bewußtsein der von der polnischen Judenheit erlebten politischen Krise erstickte, wie auch den vom Westen ausgehenden Mahnruf zur Aufklärung und Reform übertönte. Das Gespenst der Aufklärung, das von Deutschland herüberschielte, löst hier Furcht und Schrecken in beiden Lagern aus, wie das Gesicht des Teufels. Der »Berliner« wird zum Synonym des Abtrünnigen. Die Salomon Maimons müssen nach Deutschland flüchten, um die Welt der neuen in Polen verbotenen Ideen kennen zu lernen.

Russland (Weißrussland)

Das dem Russischen Reiche angegliederte Weißrussland mit seinen zweihunderttausend Juden1), führte die »jüdische Frage« in die innere russische Politik ein. Einem Staate, der bisher keine scharfen nationalen Konflikte kannte, wurden zwei Gouvernements – Mogilew und Polozk (Witebsk) – mit einer fremdstämmigen Bevölkerung, die sich durch eine eigenartige wirtschaftliche Struktur und innere Lebensgestaltung auszeichnete, einverleibt. Die Regierung Katharinas II. machte alsbald die weißrussische Bevölkerung zum Gegenstand verschiedener Experimente, wenn auch in etwas milderer Form als die weiland von Joseph II. in Galizien vorgenommenen Versuche. Die russische Regierung befasste sich in der ersten Zeit nicht mit kleinlicher Reglementierung des jüdischen Lebens nach deutschem Muster, aber auch ihre Judenpolitik lässt dieselbe Zwiespältigkeit, wie die österreichische erkennen – ein Gemisch von Unterdrückung und Liberalismus. Einerseits durften die Juden in die Kaufmann- und Kleinbürgerschaft eintreten und die entsprechenden Standesrechte erwerben; andererseits wurde ihnen dieses Recht nur innerhalb der zwei weißrussischen Gouvernements eingeräumt; die Juden hatten also kein Wohnrecht in allen den Gebieten, die sich außerhalb der dem Polenreich entrissenen Provinz befanden, – was den Keim zu der fatalen »Ansiedelungszone« bildete. Auch auf wirtschaftlichem Gebiet ging eine tiefgreifende Umwälzung vor sich. Es wurde der Versuch gemacht, das Hauptgewerbe der jüdischen Bevölkerung – die Branntweinbrennerei und den Verschleiß von Getränken lahmzulegen; in den Städten wurden die Juden von diesem Gewerbe durch die Munizipalbehörden ausgeschlossen, und auf dem Lande untersagten die weißrussischen Behörden ganz eigenmächtig den Gutsherren, Schenken an Juden zu verpachten ; eine furchtbare wirtschaftliche Krisis stellte sich als Folge ein: »Tausende von Familien« – sagt ein Zeitgenosse – »wurden ins Elend gestürzt.« Und nur das Jammergeschrei der zugrunde gerichteten jüdischen Bevölkerung, das bis an den Senat drang, nötigte die Regierung der weiteren Verelendung dieser Gebiete Einhalt zu tun. Große Verwirrung brachten auch solche Maßnahmen der Regierung, die einerseits die Aufrechterhaltung der jüdischen Kahalordnung zu fiskalischen Zwecken anstrebten, andererseits die Juden in die Ordnung der allgemeinen städtischen Selbstverwaltung einzuführen suchten: die Funktionen zweier Selbstverwaltungen allgemeiner und spezieller Natur, die einander hemmten und störten, wurden durcheinandergeworfen.
Diese schwankende Politik, ein Gemisch von Freiheiten und Repressalien, war nicht dazu angetan, den Wohlstand der neuen jüdischen Kolonie in Russland zu fördern. Die Krisen der Übergangszeit – des Zeitraumes zwischen der ersten und der zweiten Teilung Polens lasteten schwer auf ihren Schultern. In mechanischer Weise an den Organismus des neuen Staates gefesselt, war das jüdische Weißrussland zur selben Zeit von allen anderen Teilen dieses Reiches durch unüberschreitbare Schranken getrennt. Aus der Petersburger Maske guckte die alte moskowitische Politik hervor… Indessen stand vor der Schwelle des Reiches eine fast eine Million Seelen zählende jüdische Bevölkerung von Litauen, Podolien, Wolhynien und einen großen Teil des zentralen Polens, der Gebiete, die nach der zweiten und dritten Teilung und dann auch nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses (1793, 1795, 1815) an Russland fielen, eine Bevölkerung, die daran war, dem Russischen Reiche einverleibt zu werden.

Die außereuropäischen Länder.

Die jüdische Welt außerhalb Europas konzentrierte sich gegen das Ende des 18. Jahrhunderts an den beiden Polen der Kultur – im fernen Westen, in den soeben gebildeten Vereinigten Staaten von Nordamerika, und im asiatisch-afrikanischen Osten, der in den Fesseln des alten patriarchalischen Despotismus schlummerte. Die junge Tochter Europas, Amerika, die sich von der elterlichen Bevormundung befreit hatte, beeilte sich, die alten Familienvorurteile abzustreifen, und verkündete die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit. Während die Juden in England sich noch außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft befanden, von der sie durch die bürgerliche Eidesformel »nach dem wahren Glauben des Christen« getrennt waren, stellte das Volk der Vereinigten Staaten in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 Mensch darf wegen religiöser Übet_ Zeugungen seiner Bürgerrechte beraubt und Verfolgungen ausgesetzt werden.« Die jüdische Kolonie der transatlantischen Republik, der die Wohltaten der Freiheit zuteilgeworden, war nicht groß, »aber wir sehen hier zum ersten Mal den Akt einer Emanzipation, die ganz ohne Kampf vermöge des allgemeinen Prinzips der bürgerlichen Gleichheit erreicht wurde.
Am anderen Pol, in den alten großen Herden der Judenheit, im muslimischen Orient herrschte düstere Nacht.
Die ergraute Mutter Europas, Asien, schien unter der Bürde der Jahrhunderte eingeschlafen zu sein. Die über die Türkei verstreuten jüdischen Massen waren nach den Fieberphantasien Sabbatai Zewis schon lange in einen lethargischen Schlaf versunken. Trostlos war das Leben im osmanischen Reich, das die Bruchstücke zweier großer Teile der Diaspora, des sephardischen und aschkenasischen, beherbergte. Zwei abgesonderte Gruppen der Judenheit vegetierten hier an allen Ecken und Enden des Reiches: die eine sprach einen spanischen, die andere einen deutschen Jargon. Beide waren vom Despotismus eines Staates geknebelt, der auf gewaltsame Weise ein Konglomerat von Völkerschaften und Religionen in sich vereinigte. Die zitternde Judenheit stand hier zwischen zwei Feuern – zwischen dem Islam und dem Christentum. In den Zentren der europäischen Türkei, in Konstantinopel und in Saloniki waren die großen jüdischen Gemeinden von einer ihnen fremden Masse der Griechen und Armenier umgeben, die auf wirtschaftlichem Boden, auf dem Gebiete des Handels, einen Kampf gegen die Juden führten. In der asiatischen und afrikanischen Türkei waren die Juden von einer ihnen der Rasse nach verwandten, der Religion nach feindlichen, verwilderten arabischen Welt umgeben. Hier lebten sie unter dem doppelten Druck des muslemischen Fanatismus und der orientalischen Tyrannei. Jedes Paschalyk hatte sein System der Gesetzlosigkeit und Willkür. Die Ausbeutung der Juden durch den betreffenden Pascha geschah bald auf »friedlichem« Wege, indem er dem Reichen den Überfluss und dem Armen das Unentbehrliche wegnahm, bald auch gewaltsamerweise, indem er die jüdischen Viertel durch Überfälle verheerte. Die verkümmerten, eingeschüchterten Gemeinden suchten sich in jeder Provinz den lokalen Zuständen außerhalb des Ghettos anzupassen, und ihr trauriges Geheimnis innerhalb desselben zu bewahren. In Palästina, das durch die türkische Herrschaft in ein Land von Ruinen verwandelt worden war, sammelten sich tausende jüdischer Familien, die sich von Almosen europäischer Frömmlinge ernährten, um die vielen Totenstädte und die heiligen Gräber zu bewachen.

Jerusalem, Hebron, Zephath, Tiberias, bildeten die Tetrarchie der frommen Bettelei. In den Schlupfwinkeln des Ghettos hatten hier einst der Rabbinismus und die mystische Kabbala geherrscht; gegen das Ende des 18. Jahrhunderts drang von Russland und Polen die lebensfrischere Mystik der neuen Chassidim aus der Schule Beschts hinüber, die bedeutende Zentren in Hebron und Tiberias bildete. So sah das Element der »Reform« in diesem schlafenden, dunklen Reiche aus… Auch weiter, durch die Riesengebiete Syriens, Ägyptens und des Berberreichs (Marokko, Tunis, Algerien) zieht sich die Kette jüdischer Kolonien – der stummen Denkmäler einer längst erloschenen Zivilisation, großer historischer Umwälzungen. Die Flut der Tyrannei, der Barbarei und des Fanatismus hatte hier den Mittelmeerstreifen, die Wiege der jüdischen Kultur und der Kultur der ganzen Welt verschlungen. Der Orient schlummerte an der Schwelle des stürmischen 19. Jahrhunderts Aber auch hierher wird einst das Brausen der europäischen Umwälzungen dringen, und über den alten Gräbern die frohe Kunde des Lebens erschallen.


Simon Dubnow
Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes 1789 – 1914
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