Re'eh

Re’eh

Diese Woche in der Tora (Dt. 11,26-16,17):

Segen und Fluch – abhängig von freier Entscheidung; Vorschriften bezügl. des Opferdienstes, falsche Propheten, koschere Tiere, Erlaßjahr, Pessach-, Sukkotopfer.

Am Schabbes-Tisch…

Menschliches Handeln und göttliches Wandeln

Rav Jakov HaLevi Filber (Rabbiner an der „Merkas-Harav“ Jeschiwa, Jerusalem)

An verschiedenen Stellen macht uns die Tora Mitteilung über die menschliche Entscheidungsfreiheit zwischen Gut und Böse, so wie zu Beginn unseres Wochenabschnittes: „Siehe, ich lege euch heute Segen und Fluch vor“ (Dt. 11,26), oder „das Leben und den Tod hab ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; aber du sollst das Leben erwählen, auf daß du lebest, du und deine Nachkommen“ (Dt. 30,19). Die Entscheidungsfreiheit legt dem Menschen die Verantwortung für seine Taten auf, und dabei rät ihm die Tora: „aber du sollst das Leben erwählen“. Die Möglichkeit der freien Bestimmung seines Lebensweges beschrieben die talmudischen Weisen wie folgt: „Man leitet den Menschen auf den Weg, auf dem er zu wandeln wünscht“ (Makkot 10a). An dieser Formulierung läßt sich allerdings erkennen, daß der Mensch trotz Herrschaft über seine Entscheidungen sein Leben nicht gänzlich frei führen kann, denn über ihm schwebt die Einmischung durch die göttliche Vorsehung, die seine Entscheidungen überprüft, nur daß sie ihm nicht alle seine Schritte genau vorschreibt. Zudem besteht hierbei ein Unterschied, ob der Mensch eine positive oder eine negative Entscheidung traf, wie es im Midrasch heißt: „Kommt er, sich zu verunreinigen, eröffnet man ihm, kommt er, sich zu reinigen, hilft man ihm“. Wenn es sich um eine gute Entscheidung handelt, wird man ihn nicht nur nicht dabei stören, sondern ihm noch vom Himmel Hilfe leisten, und wenn um eine schlechte („unreine“), eröffnet man ihm den Weg dazu, man stört ihn nicht, aber man hilft ihm auch nicht dabei.

Wie dem auch sei, beim wichtigsten Teil seines Lebens liegt die Hauptentscheidung beim Menschen, wie die Weisen sagten: „Alles ist in den Händen des Himmels, ausgenommen die G~ttesfurcht“ (Brachot 33b), und im Traktat Nida heißt es dazu ausführlicher: „Der Engel, der über die Schwangerschaft eingesetzt ist… fragt den Ewigen vor der Geburt: Herr der Welt, was soll aus diesem Tropfen werden, ein Held oder ein Schwächling, ein Weiser oder ein Tor, ein Reicher oder ein Armer? Er sagt aber nicht: ein Frevler oder ein Gerechter. Dies nach Rabbi Chanina, denn Rabbi Chanina sagte: Alles ist in den Händen des Himmels, ausgenommen die G~ttesfurcht“ (16b). Der Toraaufforderung „aber du sollst das Leben erwählen“ bedeutet in diesem Zusammenhang wohl, daß der Mensch vor sich selbst fortlaufen kann, sich seinem inneren „Ebenbild G~ttes“ entfremden und sogar auf eine Stufe der Niederträchtigkeit und Wertlosigkeit absinken kann. So weit reicht die Kraft der Entscheidungsfreiheit.

Das Prinzip menschlicher Entscheidungsfreiheit gilt nicht in jedem Fall, sondern nur im Bereich des Individuums. Was aber die jüdische Allgemeinheit angeht, dort herrscht die göttliche Vorsehung, die uns keine Flucht vor unserer jüdischen Identität und Bestimmung ermöglicht. So einen Fluchtversuch gab es einmal in den Tagen des Propheten Jecheskel, als die Ältesten Israels sprachen: „Wir wollen sein wie die Völker, wie die Geschlechter der Länder“ (20,32); dazu sagte der Prophet: „Und was ihr euch in den Sinn kommen lasset, das soll nicht geschehen… daß ich mit starker Hand und mit ausgestrecktem Arme und mit überströmendem Grimme über euch regieren will“ (20,32-33). Einen ähnlichen Gedanken von der Unmöglichkeit eines Ausbruchs der israelitischen Gemeinschaft aus ihrer Identität erläuterte Rabbiner Naftali Z.J. Berlin („Neziw“) aus Woloschin zum Vers: „Siehe da ein Volk, abgesondert wohnt es und unter die Völker läßt es sich nicht rechnen“ (Num. 23,9) – das Volk Israel gleicht keiner anderen Nation und Sprache, welche sich in der Diaspora assimilieren und damit die Wertschätzung und Liebe der Gastvölker in höherem Maße erzielen, als wenn sie sich separat von ihnen hielten. Nicht so das Volk Israel; gerade, wenn es sich separat hält und sich nicht mit den Völkern vermischt, wohnt es in Ruhe und Würde. Wenn es sich aber mit den Völkern mischen will, dann gilt es nichts, denn die Völker werden es abweisen. Und der Grund dafür: das Volk Israel soll ja überleben, und das ist nur möglich, wenn es seine Einzigartigkeit hütet, was auf eine von zwei verschiedenen Weisen erfolgen kann. Entweder wacht das Volk Israel selber über seine nationale Einheit, „abgesondert – wohnt“, oder, wenn es g~ttbehüte versucht, „unter die Völker“ zu gehen, seine Identität zu verwischen und abzuleugnen, denn dann „läßt es sich nicht rechnen“ – wird es die göttliche Vorsehung durch den Hass der Völker (Antisemitismus) zwingen, zu sich selbst zurückzukehren.

Die Unmöglichkeit der Selbstverleugnung des jüdischen Volkes besteht auch bezüglich des Landes Israel. Zur Erklärung setzte Rabbi Bunem aus Pschißche den Vers „Ziehe mich dir nach, laß uns eilen“ (Hohelied 1,4) in Beziehung zum Eigentumsübergang an Tieren durch das „Ansichziehen“, wie es im Talmudtraktat Kiduschin (22b) beschrieben wird: „Wenn er es ruft und es herankommt, oder wenn er es mit einem Stocke antreibt und es vor ihm läuft, so erwirbt er es [das Tier]“. Er verglich dies mit dem Rufen G~ttes an uns, nach dem Lande Israel zu kommen; auch das kann auf zwei Weisen erfolgen: 1. Er ruft uns zur Einwanderung auf, und wir kommen – dann wird es uns leichtfallen. 2. Wenn wir uns aber darauf versteifen, in der Diaspora zu verbleiben, wird das die göttliche Vorsehung nötigen, uns „mit einem Stocke anzutreiben“, und dann werden wir auf dem harten Wege nach Israel kommen. Darum bitten wir G~tt: „Ziehe mich dir nach“, daß wir nach dem Lande nur auf deinen Ruf hin schon kommen.

Diese doppelte Möglichkeit menschlichen Handelns unter Mitwirkung der obersten Vorsehung begleitet uns auch während der Zeitperiode nach unserer Ankunft im Lande, wenn wir das eine um das andere Mal unserer Bestimmung zu entfliehen versuchen, sei es aus spiritueller Schwäche, sei es durch Sinkenlassen der Hände, und die Realität uns zur Rückbesinnung auf uns selbst zwingt. Ein Beispiel dafür gibt der Sechstagekrieg, den wir nicht wollten und der uns aufgezwungen wurde, wobei wir König Hussein von Jordanien geradezu anflehten, sich nicht einzumischen. Dennoch kehrten wir dadurch zu weiten Teilen unseres historischen Erbbesitzes zurück. Und wiederum, fast seit dem ersten Tag, bis heute, versuchen Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft, aber auch Teile der israelischen Gesellschaft, uns aus diesen Gebieten zu verdrängen, und jedesmal, wenn dieses Vorhaben fast zu gelingen scheint, stellt ein plötzliches, unvorhergesehenes Ereignis die Dinge auf den Kopf, und wir verbleiben mit dem gleichen Status, vor dem wir weglaufen wollten. Selbst in Gebieten, die wir nach einseitiger Entscheidung verließen, finden wir uns zwangsweise plötzlich wieder, in genau dengleichen Orten, die wir auf Nimmerwiedersehen verlassen zu können glaubten. Diese Entwicklung löst allerdings einen Denkprozeß in einigen Teilen der Bevölkerung aus, und in diesem Sinne lehrte uns die göttliche Vorsehung einige Intensivkurse, nur daß wir so die Wahrheit über unsere Lebenswirklichkeit auf dem harten Wege lernen müssen.

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