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Was sind Inkunabeln?
INKUNABELN (Wiegendrucke) nennt man Bücher, die bis zum Jahre 1500 gedruckt worden sind.
Von den bis heute bekannten, nahezu 40.000 Inkunabeln sind ca. 170 hebräisch, zweifelhafte Bruchstücke eingerechnet. Diese verhältnismäßig niedrige Anzahl ist auf die zur Zeit ihrer Entstehung ungünstige Lage der Juden in den in Betracht kommenden Ländern und auf den starken Verbrauch dieser Druckwerke zurückzuführen. In Deutschland, der Wiege der Buchdruckkunst, wurden vor 1500 keine hebräischen Bücher gedruckt, doch wurden die ersten hebräischen Drucke in Italien größtenteils von deutschen Juden hergestellt. Wann und wo die Juden den Buchdruck begonnen haben, lässt sich nicht mehr feststellen; neben dem ältesten bekannten Druckdatum gibt es eine Reihe von undatierten Drucken und Fragmenten, die Anspruch auf mindestens das gleiche Alter, wenn nicht gar ein höheres, haben.
Wo sie gedruckt wurden
Die größte Anzahl der hebräischen Inkunabeln ist in Italien entstanden, u. zw. in den Städten Reggio di Calabria, Pieve di Sacco, Mantua, Ferrara, Rom (?), Bologna, Soncino, Casal Maggiore, Neapel, Brescia, Barco.
Italien
Der erste datierte hebräische Druck ist der Kommentar Raschis zum Pentateuch, vollendet in Reggio di Calabria am 18. Februar 1475 durch Abraham ben Isaak ben Garton, wohl einen eingewanderten Spanier. Um die gleiche Zeit, am 3. Juli 1475, erschienen die »Turim » des Jakob ben Ascher, von Meschullam Cusi begonnen und nach seinem Tode von seinen Angehörigen vollendet. Ihnen folgen mit datierten und undatierten Drucken Abraham Conat in Mantua und Abraham ben Chajim in Ferrara, dessen Beziehungen zu Conat noch nicht geklärt sind. Ein ebenfalls ungeklärtes Kapitel sind eine Reihe von undatierten Inkunabeln, die seit de Rossi von den Bibliographen als in Rom hergestellt bezeichnet werden. Es sind mehrere Serien, in einander ähnlichen Typen gedruckt, von denen die anscheinend jüngste in einem Drucke die Unterschrift »Obadja, Manasse und Benjamin aus Rom« trägt. Die erste Gewissheit, wenigstens über eine der Serien, brachte D. Simonsen (in der Festschrift für M. Steinschneider), der nachwies, dass die Ausgabe der Responsen des Ibn Adret in einem Buche des Jahres 1566 als »Ausgabe Rom« zitiert wurde. Diese Drucke, im Allgemeinen »vor 1480« angenommen, dürften wohl spätestens gleichzeitig mit den vorhergehenden, wenn nicht früher anzusetzen sein. Den größten Anteil am hebräischen Buchdruck in Italien nahmen die Mitglieder der aus Deutschland eingewanderten Familie Soncino, Josua Salomo und sein Neffe Gerson, doch scheinen auch andere Familienmitglieder mitgearbeitet zu haben, da sie zuweilen ihre Drucke als, »SöhneSoncinos« unterzeichneten. Josua Salomo Soncino ist der erste Talmuddrucker Italiens; er ließ im Dezember 1483 den ersten Traktat, Berachot, erscheinen, dem eine große Reihe anderer folgte, und gab 1492 in Neapel die erste Mischna mit dem Kommentar des Maimonides heraus; er war es auch, der, nachdem alle Teile der Bibel einzeln, mit Kommentaren versehen, erschienen waren, die erste Gesamtausgabe des Bibeltextes druckte (April 1488 in Soncino). Sein Neffe Gerson wandelte in den gleichen Bahnen; er druckte noch nach 1500 an verschiedenen Plätzen Oberitaliens, in Saloniki und Konstantinopel, bis er ca. 1534 starb. Von Bedeutung sind ferner Vater und Sohn Gunzenhäuser-Aschkenasi, die in Neapel druckten, teilweise in starkem Konkurrenzkampf mit dem älteren Soncino.
Spanien, Portugal
In Spanien sind uns nur drei Orte bekannt, in denen der hebräische Buchdruck eine Stätte fand: Guadalajara, durch Salomo ibn Alkabez, von dem nur ein Druck vom Jahre 1481 erhalten ist; Hijar (Ixar), wo Elieser Alantansi 1485—90 bereits eine hohe Stufe in der künstlerischen Entwicklung des Buchdrucks erreichte, und Zamora, wo Samuel ben Musa und Imanuel druckten. 4. Im Jahre 1487 druckte Don Samuel Gacon in Faro (Portugal) einen hebräischen Pentateuch, das erste überhaupt in Portugal gedruckte Buch, und im Juli 1489 vollendete Elieser Toledano das erste in Lissabon gedruckte Buch, den Kommentar des Moses Nachmanides zum Pentateuch. Toledanos Drucke sind wohl die schönsten der im 15. Jhdt. hergestellten hebräischen Bücher, insbesondere sein Pentateuch mit Raschi und Targum, dessen auf Pergament gedruckte Exemplare sich mit den schönsten nicht vergleichen lassen.
Er benutzte Holzschnitt Ornamente, die bereits von Alantansi in Hijar angewandt waren, und die später in Konstantinopeler Drucken wieder anzutreffen sind. Sein Faktor Jehuda Leon ibn Gedalja, der wohl großen Anteil an der schönen Ausstattung der Bücher hatte, war später ein angesehener Buchdrucker in Saloniki. Aus der Druckerei des Samuel d’Ortas und seiner Söhne in Leiria sind nur zwei hebräische Drucke erhalten. Auch an den Druck von Talmudtraktaten haben sich die spanisch-portugiesischen Juden, trotz der schweren Zeit vor ihrer Vertreibung und der Verfolgungen durch die Inquisition, herangewagt; diese Drucke sind aber fast vollständig verschwunden, bis auf einzelne Blätter, die in den Schriften von Menachem Lonzano, Isaak Lampronti u. a. erwähnt werden. Solche Fragmente sind erst seit der Entdeckung der Genisa in Kairo bekannt; in Leiden fand man in einem Einbände das Schlussblatt des Traktates Gittin mit dem Kommentar Raschis, gedruckt im Dezember 1494 oder 1496 in Faro durch Don Samuel Porteiro.
Die meisten erhalten gebliebenen Traktate sind reine Text ausgaben ohne jeden Kommentar.
Osmanisches Reich – Türkei
Die einzige in Konstantinopel gedruckte Inkunabel, die »Turini« des Jacob ben Ascher aus dem Jahre 1494, wurde von dem ersten Bibliographen der hebräischen Inkunabeln, de Rossi, ohne ausreichende Gründe für zehn Jahre jünger erklärt, was Steinschneider ebenfalls ohne genügende Begründung annahm; erst vor wenigen Jahren erfolgte die Richtigstellung durch Alexander Marx und die Anerkennung der Richtigkeit durch Aron Freimann in seinem »Thesaurus Typographiae Hebraicae Saeculi XV.«
Es ist das erste und einzige in der Türkei und im Osten überhaupt vor 1500 hergestellte Buch.
Die Schriftarten
Die frühesten hebräischen Drucke wurden ebenso wie alle folgenden in Quadratschrift und rabbinischer, der sogenannten Raschischrift, gedruckt.
Von Quadratschriften gibt es den italienischen Typ, den als erster Josua Salomo Soncino brachte, und aus dem sich fast alle späteren Quadratschriften entwickelten; ferner den spanischen, der in den ersten Drucken in Konstantinopel und Saloniki bis ca. 1525 wiederkehrt, um dann nur noch einmal in den Drucken von Abraham Usque in Ferrara, um 1555, aufzutauchen. Einen mehr deutschen Charakter haben die Typen der sogenannten römischen Drucke und, noch ausgesprochener, die der Drucke aus Pieve di Sacco, Bologna, Ferrara und vor allem Mantua, welch letztere man nach ihrem Hersteller als Conatschrift bezeichnet; sie alle werden später nicht angewandt, wohl weil sie trotz ihres sehr ornamentalen Charakters dem Auge zu große Schwierigkeiten bereiteten. Die Raschischrift Soncinos ist im Großen und Ganzen ziemlich unverändert im Charakter der heutigen Raschischrift erhalten geblieben. Anders die spanische Raschischrift, in der sowohl der erste datierte italienische wie der erste spanische Frühdruck erschienen: der Raschi-Kommentar zum Pentateuch, 1475 in Reggio di Calabria, und der Kommentar David Kimchis zu den späteren Propheten, Dezember 1481 in Guadalajara; ihr Typus ist nur noch in Fez, um 1515, wieder benutzt worden. Eine Mittellinie zwischen spanischem und italienischem Duktus zeigen einige neapolitanische Drucke Josua Salomo Soncinos, insbesondere seine Prachtausgabe der Mischna mit dem Kommentar von Maimonides. Das erste mit Vokalen gedruckte Buch ist der im Jahre 1485 begonnene und im folgenden Jahre fertiggestellte Machsor, Soncino-Casal Maggiore; in Spanien und Portugal erschienen Vokalzeichen zuerst im Pentateuch, Faro 1487.
Die Form
Die Inkunabeln haben keine Titelblätter, doch blieb meist das erste Blatt oder die erste Seite unbedruckt. Typographische und sonstige Angaben finden sich, nach der Gewohnheit der Handschriftenhersteller, soweit sie nicht ganz fehlen, am Ende des Buches, in dem sogenannten Kolophon. Viele Inkunabeln haben in Holz geschnittene Bordüren und Initialen, in Spanien und Portugal zuweilen von großer Feinheit; bei manchen Büchern wurde der Textbeginn nicht gedruckt, sondern mit der Hand, in Zierschrift, ausgefüllt. — Die Auflage der Inkunabeln pflegte ebenso wie bei nichtjüdischen Büchern der Zeit keine hohe zu sein; exakte Angaben hierüber gibt es für die »Turim« , Mantua 1476 (250 Exemplare), für den Erstdruck der Psalmen mit David Kimchis Kommentar, (Bologna?) 1477 (300 Exemplare), und den Raschi-Kommentar, Zamora 1487 (400 Exemplare).
Das Format der hebräischen Inkunabeln war das gleiche wie das der nichthebräischen, vom größten Folio bis zum kleinsten Oktav; im allgemeinen wurde ein kleines Folioformat bevorzugt. — Die Blattzahl (Paginierung) ist in den Inkunabeln nicht angegeben, Kustoden (das am Schluss der Seite unten angeführte Anfangswort der folgenden Seite) sind selten, dagegen sind meist die Lagen nummeriert.
Dem Inhalte nach waren die Drucke des 15. Jhdts. im Allgemeinen auf den Tagesgebrauch der Frommen zugeschnitten: gedruckt wurden vor allem Bibel und Talmud mit Kommentaren, Gebetbücher, Gesetzeskodices, religionsphilosophische Werke, Grammatiken, Wörterbücher.
Unter diesen ist der ,»Makre Dardeke« bemerkenswert, das erste gedruckte mehrsprachige Wörterbuch, für Schulzwecke hergestellt; es enthält außer den hebräischen Erklärungen die Wörter auch in arabischer und italienischer Sprache, ebenfalls in hebräischen Typen. Abseits stehen einige Drucke des Mantuaners Conat, der den Reisebericht des Eldad Hadani, das Geschichtsbuch des Josippon und das erste im Geiste der Renaissance geborene Buch eines Juden, Juda ben Jechiel Rofes (Messer Leon) »Nofet zufim«, druckte, sowie die Ausgaben der Machberot des Immanuel Romi, des Fabelbuches Isaak Sahulas und des Meschal hakadmoni, der einzigen illustrierten Inkunabeln durch Gerson Soncino. — Bibel und Bibelteile wurden etwa 40-mal gedruckt; vom Talmud mehr als 20 Traktate.
Der Pentateuchkommentar Raschis erschien in 10 Ausgaben, mit und ohne Bibeltext, von Maimonides‘ Gesetzbuch Mischne tora kennen wir 5 Ausgaben, von den »Turim« des Jakob ben Ascher vier, außer 5 weiteren Drucken einzelner Teile, vom Pentateuch-Kommentar des Moses Nachmanides und des Wörterbuchs von David Kimchi gibt es 3 Ausgaben.
Der oben erwähnte »Nofet zufim« und der »Agur« des Jacob Landau waren die einzigen hebräischen Inkubaeln, die zu Lebzeiten ihrer Verfasser gedruckt wurden. — Infolge der Nachstellungen, die die jüdischen Besitzer von hebräischen Inkunabeln sowie diese selbst zu erdulden hatten, auch infolge starken Verbrauchs haben sich viele Inkunabeln nur in geringer Zahl, ja oft in nur je einem Exemplar erhalten, und sehr viele Drucke sind sicherlich völlig verloren gegangen, was aus den zahlreichen Funden von Blättern und Blattresten in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich wird. Auch ist die geringe Anzahl erhaltener Gebetbücher nicht anders zu erklären.
Nichthebräische Werke
Es gibt Inkunabeln, die zwar nicht in hebräischer Sprache gedruckt sind, deren Inhalt aber Beziehungen zum Judentum hat. Meist sind sie polemischen Inhalts. So erschien: »Tractatus contra perfidos Judaeos« und »Der Stern Meschiah« von Peter Schwarz, Esslingen 1475 und 1477; ferner die bekannte »Epistola« des Samuel Maroccanus. Noch früher erschienen zwei Bücher, die die Legende des Simon von Trient behandeln.
Auch gibt es mehrere Inkunabeln, die Übersetzungen aus dem Hebräischen enthalten. So erschien das Buch von Abraham Zacuto, »Almanach Perpetuum«, von Joseph Vicinus ins Lateinische übertragen, bei Abraham d’Ortas 1496 in Leiria, in spanischer Übersetzung bei demselben im Jahre 1496, in späteren Bearbeitungen von Alphonsus di Cordow und von Johannes Michael in Venedig. Ebenso sind von Abraham ibn Esra einige Werke, »Sefer Hameorot« (Padua 1482) und »Liber de nativitatibus« (Venedig 1484/1485), in lateinischer Übersetzung erschienen.
Eine Übersicht mit den bekannten Ausgaben folgt.
Literatur
- De Rossi, Annales Hebraeo-Typographici, section XV, Parma 1795
- S. Cassel und Steinschneider, Jüdische Typographie (in Ersch-Gruber II, 28, S. 33—37
- F. Sacchi, I tipografii ebrei, Cremona 1877: M. Soave, Dei Soncino celebri tipografi etc., Venedig 1878
- G. Manzoni, Amiali Tipografici dei Soncino, Bologna 1886
- M Schwab, Les Incunables orientaux, Paris 1883
- D. Chwolson, Jewrejskija staropetschatnyja knigi (Petersburg 1896)
- A. Berliner, Uber den Einfluß usw., Frankfurt a. M. 1897
- ders., Aus meiner Bibliothek, 1898
- D. Simonsen, Hebraisk Bogtryk, Kopenhagen 1901
- A. Freimann, Über hebräische Inkunabeln (im Zentralblatt für Bibliothekwesen, Bd. 19, Heft 3, Leipzig 1902)
- ders., Die hebräischen Inkunabeln der Stadtbibliothek zu Frankfurt a. M. (in Festschrift für F. C. Ebrard, Frankfurt a. M. 1920)
- ders., Die hebräischen Inkunabeln der Druckereien in Spanien und Portugal (in der Gutenberg-Festschrift, Mainz 1925)
- U. Cassuto, Incunaboli ebraici a Firenze, Florenz 1912
- A. Marx, Hebrew Incunabula, in JQR 1920/21, S. 98—119
- ders., Literatur über hebräische Inkunabeln, in Soncino-Blätter 1926, Heft 1; L. Goldschmidt, Die ältesten hebräischen Bibeldrucke (in »Der Sammler«, Berlin 1920, Nr. 40, 41);
- E. N. Adler, Talmud Printing before Bomberg (in »Simonsen-Festschrift«, Kopenhagen 1923)
- D. W. Amram, The Makers of Hebrew Books in Italy, Philadelphia 1909; Hebräische Inkunabeln 1475—1496, mit 33 Faksimiles (Katalog 151 von Ludwig Bosenthals Antiquariat, München)
- Gesamtkatalog der Wiegendrucke, Leipzig, seit 1925; A. Freimann, Thesaurus Typographiae Hebraicae, I—VII, Berlin 1924—1925.