Orte

Die Bedeutung von Tiberias in der jüdischen Geschichte

Sicht auf Tiberias 1857

Wie kam es, dass der einst rituell unreine Ort Tiberias, an dem sich kein Jude aufhalten wollte, schließlich zur viertheiligsten Stadt der Juden wurde, nach Jerusalem, Hebron und Safed?

Römische Herrschaft

Der Ort, am Westrand des Genezareth-Sees gelegen, war schon in vorbiblischer Zeit besiedelt und wird im Buch Josua »Rakkah« genannt. Er gehörte zum Gebiet des israelitischen Stammes Nafthali. Wo Menschen siedeln, entstehen auch Friedhöfe, und im Lauf der vielen Jahrhunderte war in dem südlich davon und sehr nahe gelegenen Nachbarort Chammath ein großes Gräberfeld entstanden.

Unter der römischen Herrschaft war das Heilige Land in mehrere Provinzen aufgeteilt: Im Süden und in der Mitte lagen Judäa und Samaria, im Norden Galiläa und jenseits des Jordans Peräa. Herodes Antipas war der Herrscher über Galiläa und Peräa. Er war ein Sohn von Herodes dem Großen, dem König über Judäa und Samaria. Herodes Antipas beschloss, zu Ehren seines Gönners, des römischen Kaisers Tiberius, im Gebiet des einstigen Rakkah und teilweise just über dem Gräberfeld des angrenzenden Chammath eine prächtige römische Stadt zu bauen, und ließ ab dem Jahr 17 n.d.Z. (nach der Zeitenwende) dort Paläste, ein Theater, ein Forum und eine Rennbahn im römisch-griechischen Stil errichten. Er nannte die Stadt »Tiberias«. Doch der Boden galt für die jüdische Bevölkerung als rituell unrein. Keiner wollte dort wohnen, und es gelang Herodes Antipas nur mit Zwangsmaßnahmen und massiver Vorteilsgewährung diese Stadt zu besiedeln. Er machte Tiberias zum Verwaltungssitz Galiläas, und löste damit das in den galiläischen Bergen gelegene Sepphoris ab. Tiberias wurde zum Zentrum des Hellenismus in Galiläa.

Herodes der Große, der von den Römern über das Heilige Land eingesetzte König, regierte vom Jahr 37 v.d.Z (vor der Zeitenwende) bis zum Jahr 4 n.d.Z. Nach seinem Tod setzten die Römer einen »Prokurator« genannten Statthalter des römischen Kaisers ein, der das Land über alle Maßen ausplünderte. Es kam zum Aufstand, zum so genannten Ersten jüdischen Krieg, der von 66 – 70 n.d.Z. dauerte. Er wurde von den Römern brutal niedergeworfen und endete mit der Zerstörung des Zweiten Jerusalemer Tempels durch den Feldherrn Titus. Der Gelehrte Jochanan ben Zakkaj sah die Katastrophe voraus und floh aus dem belagerten Jerusalem nach Jawne (griech. Yamnia) am Mittelmeer und gründete dort ein neues Lehrhaus und machte Jawne auch zum neuen Sitz des Sanhedrin (griech. Synhedrion), des Hohen Rats und innerjüdischen Parlaments. Damit hatte sich das geistige Zentrum des Judentums von Jerusalem nach Jawne verlagert. Dort wurden die Grundlagen für das Fortbestehen des Judentums nach der Zerstörung des Tempels und der Auflösung der alten Ordnung gelegt: Der Ritus wurde neu gestaltet; das Gebet trat an die Stelle der Tieropfer; letztere wurden zu Meditationsinhalten. Die Hauptgebetstexte wurden formuliert, der Festtagskalender bestimmt und der Kanon der jüdischen Bibel wurde in Abgrenzung zu griechischem Gedankengut festgelegt. Von Jawne aus kam es zur Gründung weiterer Gelehrtenschulen, unter Anderem im nahen Bnej Brak, wo der bedeutende Gelehrte Akiva ben Yosef unterrichtete.

Rabbi Akiwa

In dieser Zeit herrschte inzwischen nun der römische Kaiser Hadrian, der mit einer forcierten Hellenisierungspolitik das alte Griechentum wieder herstellen wollte und die Ausübung der jüdischen Religion verbot. Sein ursprüngliches Versprechen, den Tempel in Jerusalem wieder zu errichten, brach er und beabsichtigte Jerusalem zu einer völlig römischen Stadt mit Namen Aelia Capitolina zu machen. Dies führte zum erneuten Aufstand der Juden, dem so genannten Zweiten Jüdischen Krieg gegen die Römer (132 – 135 n.d.Z.) unter der Anführung von Schimeon bar Kosiba, genannt Bar Kochba (»Sternensohn«), der anfänglich auch siegreich war und von Vielen, auch von R. (Rabbi) Akiwa, bereits als der erwartete Messias angesehen wurde. Doch die Römer warfen auch diesen Aufstand nieder und besiegten Bar Kochba. Aus Rache zerstörte Kaiser Hadrian Jerusalem nun völlig und verbot Juden jeglichen Zutritt zum Stadtgebiet. R. Akiwa starb einen grausamen Märtyrertod.

Viele Juden flohen jetzt aus Judäa nach Galiläa, unter Anderen auch zwei Schüler R. Akiwas, R. Me’ir und R. Schimeon bar Jochaj. Sie gründeten in Uscha in Galiläa zunächst ein neues Lehrhaus und machten es zum Sitz eines neuen Sanhedrin.

Die Mischnah und der Talmud

Obwohl der Nachfolger Kaiser Hadrians, Antoninus Pius, ab 138 n.d.Z. die schweren antijüdischen Gesetze seines Vorgängers teilweise aufhob, bestand unverändert die Gefahr, dass die mündliche Überlieferung, insbesondere der mündlichen Torah, die die Israeliten zusammen mit der schriftlichen Torah am Berg Sinai erhalten hatten, nun in Vergessenheit geraten und verloren gehen könnte. So begannen R. Me’ir und R. Schimeon bar Jochaj überlieferte Lehrsätze, Mischnajoth, zu sammeln, unterstützt von R. Me’irs gelehrter Ehefrau, Brurijah, die für ihr großes Gedächtnis berühmt war. Auf dieser Sammlung aufbauend, entschloss sich der Leiter des Sanhedrins, R. Yehudah, genannt ha-Nassi (»der Fürst«), um das Jahr 200 n.d.Z. schweren Herzens, die mündliche Torah, die eigentlich nie schriftlich fixiert werden sollte, nun doch aufzuschreiben und sie so vor dem Verloren-Gehen zu bewahren. Die in Hebräisch niedergeschriebene mündliche Torah wird »Mischnah«, »die Zweite« genannt. Während die schriftliche Torah weitgehend eine chronologische Darstellung von Ereignissen ist, ist die Mischnah eine in sechs Ordnungen gegliederte Orientierungshilfe für ein gottgefälliges Leben. In der Folge wurde die Mischnah diskutiert; die Diskussionen wurden in der damaligen Landessprache, Aramäisch, gehalten und ebenfalls niedergeschrieben und unter der Bezeichnung »Gemara« der Mischnah beigefügt. Mischnah und Gemara zusammen werden »Talmud« genannt. Der im Heiligen Land um 450 n.d.Z. endverfasste Talmud wird Jerusalemer oder Palästinensischer Talmud genannt. Gleichzeitig entstand auch in der zwischenzeitlich bedeutsam gewordenen babylonischen Diaspora ein Talmud, umfänglicher und vollständiger als der Jerusalemer und erst um 700 n.d.Z. endverfasst, und wird Babylonischer Talmud genannt.

Der nach Galiläa geflohene R. Schimeon bar Jochaj litt unter einer schweren rheumatischen Erkrankung. Mitte des 2. Jh. n.d.Z. ging er nach Tiberias, um die berühmten warmen Mineralquellen von Chammath im Süden der Stadt aufzusuchen. Er genas von seinem Leiden und erklärte daraufhin die Stadt für nunmehr kultisch rein. Nachdem der Sitz des Sanhedrin von Uscha nach Beth Schearim und von dort nach Tsippori (griech. Sepphoris) verlegt worden war, wurde sein Sitz Ende des 2. Jh. schließlich nun nach Tiberias verlegt, welches sich in der Folge zum religiösen Zentrum des Judentums im Heiligen Land entwickelte. Die Bevölkerung der Stadt wuchs auf 40.000 Einwohner. Eine Reihe von Synagogen entstanden.

Während all dieser Ereignisse war das Christentum im Heiligen Land entstanden und erstarkte zunehmend, anfangs noch gegen die Ablehnung durch die jüdische Mehrheit, später gegen die Anfeindungen von römischer Seite. Schließlich wurde es 391 n.d.Z. Staatsreligion im ganzen römischen Reich. Da die meisten Juden sich nicht zum Christentum bekehren wollten, kam es ab Ende des 4. Jahrhunderts von christlicher Seite zunehmend zu Judenverfolgungen. Synagogen wurden zerstört, ihr Neubau verboten, und Anderes mehr. Nach der Teilung des römischen Reiches 395 n.d.Z. in Westrom und Ostrom, welch letzteres nun das Byzantinische Reich wurde, verfügte die byzantinische Regierung 425 n.d.Z. die Auflösung des Sanhedrin, des innerjüdischen Parlaments im Heiligen Land. Unter diesen Restriktionen kam es zu einem fortschreitenden Niedergang der jüdischen Gemeinschaft im Heiligen Land. Das religiöse Zentrum des Judentums verlagerte sich allmählich in die Diaspora, vor Allem nach Babylon (Mesopotamien), das an Bedeutung gewann.

War im Jahr 70 n.d.Z. in Jawne die Grundlage für das Fortbestehen des Judentums gelegt worden, blieb nun Tiberias aber der Ort, an dem die Überlieferung bewahrt wurde.

Die Massoreten

Damals kursierten noch verschiedene schriftliche Versionen der Heiligen Schriften und es bestand Unsicherheit, welches die gültige Form der Gottesworte sei. Der Priester Esra hatte um 458 v.d.Z. bei seiner Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft eine geschriebene Torah-Rolle mitgebracht, die die Urmutter aller späteren Torah-Rollen wurde, leider dann jedoch von einem griechischen Soldaten verbrannt wurde. So existierten fortan nur Abschriften, die sich in Details unterschieden. Um diesen unerträglichen Zustand zu beenden, insbesondere in einer Zeit, da eine Auflösung der jüdischen Gemeinschaft im Heiligen Land drohte, wurde um 500 n.d.Z. eine Gruppe von Gelehrten ausgewählt und mit der Aufgabe betreut, die verschiedenen Versionen zu sichten, Fehler und Unterschiede zu beseitigen. Diese Gruppe wurde »Bewahrer der Überlieferung«, hebräisch »Massoreten« genannt und arbeitete etwa bis 1000 n.d.Z., sowohl im Heiligen Land als auch in der bedeutenden babylonischen Diasporagemeinde. Von ihnen wurde eine einheitliche Schreibweise, »massorah k’tiv«, und eine einheitliche Lesart, »massorah q’re« genannt, festgelegt. Da der Text der schriftlichen Torah als von Gott gegeben angesehen wird, durfte er nicht verändert werden, auch wenn sich scheinbar Fehler darin befinden. So schrieben die Massoreten ihre Korrekturvorschläge und statistische Angaben, z.B. über die Häufigkeit eines Wortes, an den Textrand, die »massora parva« genannt werden. Demgegenüber werden als »massora magna« Auflistungen von auffälligen Besonderheiten des geschriebenen Textes bezeichnet. Der in dieser Weise korrigierte und vereinheitlichte Text der jüdischen Bibel wird »der massoretische Text« genannt und findet sich auch in der ursprünglich von R. Kittel in den 1920-iger Jahren herausgegebenen »Biblia Hebraica Stuttgartensia«.

Da das Hebräische bereits keine gesprochene Sprache mehr war, bestand auch die Gefahr, dass man die unvokalisiert geschriebenen, rein konsonantischen heiligen Texte bald nicht mehr würde lesen können. So wurden von den Massoreten auch Vokalzeichen geschaffen, die in, über oder unter die zugehörigen Buchstaben geschrieben werden. Es entstanden ein palästinensisches, ein babylonisches und zuletzt ein tiberianisches Vokalisationssystem, – das letztere setzte sich bis heute durch. Auch wurden Zeichen entwickelt, die anzeigen, wie die Texte im gemeinsamen Gebet zu singen seien, die gleichfalls über oder unter das zu singende Wort gesetzt werden; diese Zeichen werden »t’amim« genannt. Sowohl die Vokal- als auch die Sing-Zeichen finden sich heute in allen gedruckten Ausgaben der hebräischen Bibel, nach wie vor jedoch nicht in den handgeschriebenen Torah-Rollen.

Dewarim im Aleppo-Codex
Seite aus dem Buch Dewarim im Aleppo-Codex

Es waren zwischen 780 und 930 n.d.Z. insbesondere zwei Gelehrtenfamilien in Tiberias, die sich in der Massoreten-Arbeit besondere Verdienste erwarben: die Familie ben-Ascher und die Familie ben-Nafthali. Im Jahr 930 n.d.Z. verfertigte Aharon ben Moscheh ben Ascher die erste vollständige jüdische Bibel, genannt »Aleppo-Kodex«, in der die entwickelten massoretischen Zeichen und Grundsätze angewendet worden waren. Dieser Kodex hatte in der Folge ein dramatisches Schicksal und wird heute im Schrein des Buches in Jerusalem aufbewahrt.

Spätere Geschichte

In den folgenden Jahrhunderten wurde Tiberias immer wieder von schweren Erdbeben zerstört, jedes Mal aber wieder aufgebaut. Zugleich wurde es wiederholt von Fremdmächten erobert. Während 1099 n.d.Z. die Kreuzfahrer alle ansässigen Juden und Muslime vertrieben, erlaubten spätere muslimische Herrscher die Wiederansiedlung von Juden. Beatriz de Luna, Dona Gracia genannt, eine zwangsgetaufte Jüdin aus Portugal, bekannte sich nach ihrer Auswanderung wieder zu ihrem Judentum und erwirkte im 16. Jh. vom Sultan in Istanbul die Erlaubnis, im inzwischen osmanisch besetzten Tiberias eine Wohnstätte für umherirrende zwangsgetaufte Juden aus Spanien und Portugal zu errichten. Im 18. Jh. nahm Tiberias zahlreiche jüdische Auswanderer aus Polen auf. Am Ende des 19. Jh. lebten in Tiberias etwa 5000 Juden, das war ein Viertel aller in Palästina lebenden Juden.

Neben den unverändert bedeutenden Thermalquellen im Süden der Stadt und anderen Sehenswürdigkeiten sind auch die Gräber bedeutender jüdischer Gelehrter im Stadtgebiet zu finden: Das Grab von R. Yochanan ben Zakkay (aus dem 1.Jh. n.d.Z.), von R. Akiwa ben Yosef (2. Jh.), von R. Me’ir (2. Jh.) und von R. Moscheh ben Maimon, genannt Maimonides, der kurz vor seinem Tod in Kairo im Jahr 1204 seine Bestattung in Tiberias verfügt hatte. Und: Tiberias liegt nicht nur am Genezareth-See, sondern im Zentrum einer historisch und kulturell hochinteressanten Region.

Quellenangaben

  • TheNaKh (Jüdische Bibel): – zu Rakkah: Josua 19,35

– zur Mündlichen Torah: II.BM. Kapitel 19 – 20

– zur Torah-Rolle des Esra: Nehemia 8, 1 – 12

– »Vom Paradies bis Golgatha . Geschichte der Biblischen Welt«, Nelson Beecher

Keyes, Verlag Das Beste GmbH., Stuttgart, 1964