Erzählungen des Talmuds

Was ist die Aggadah?

Name, Bedeutung und Charakteristik

Der Name: »Aggada, Agada, Agatda« ist Aramäisch, die Sprache der Juden in Palästina während und nach dem zweiten jüdischen Staatsleben, von dem »Hagada« die hebräische Form darstellt, die bei den Juden in den babylonischen Ländern in Gebrauch war.

Die Bedeutung desselben nach seinem Stamm (נגד) »sagen, erzählen, aussagen, erklären, angeben, mitteilen, belehren, vortragen« ist: Erzählung, Sage, Dichtung, Mitteilung, Erklärung, Belehrung, Vortrag, eine Kollektivbezeichnung der verschiedenen Wissenszweige (siehe weiter) in dem talmudischen Schrifttum, die sich nicht mit der Regelung der religiösen Praxis, »Halacha«, beschäftigen. Die Agada ist somit das Produkt der freien Reflexion, die im Religiösen das Bewusstsein bildet und weckt, bei dessen Satzungen mehr auf die Kenntnis der ihnen unterliegenden Idee bringt und sie nicht als Werkheiligkeit, sondern in ihrer sittlichen bildenden Bedeutung geübt wissen will. Diese Darstellung ist die Fassung der »Agada« in ihrer weitesten Bedeutung, wofür sie am Schlusse der talmudischen Periode nach derselben, besonders in der Midraschliteratur gehalten wurde. Enger war ihr Begriff noch im z. und 3. Jahrhundert, wo man unter Agada nur die Erklärung der Bibelstellen, die geistige Auffassung des Gesetzes, die Ausdeutung und Anwendung der Schrift zur moralischen Erbauung verstand (Berachot 10; Baba Kama 6ob).

Von R. Me’ir erzählt man, dass die drei Bestandteile seines Vortrages waren: das Gleichnis, die Halacha und die Agada (Sanhedrin 3 8b.). So nennt eine andere Stelle neben Hagada noch: die Worte der Weisheit, die Worte der Sittenlehre u. a. m. (Nidda 49) Auf gleiche Weise heißen die Fächer der jüdischen Studien: Mikra, Bibel, Mischna, Midrasch, Halacha und Agada (Talmud Jeruschalmi Schekalim Abschnitt 5. Talmud Jeruschalmi Baba Kama Abschnitt 7. 3. Awot de R. Nathan Abschnitt 14. 18. u. 40. So werden sie als die Wissensfächer des R. Jochanan ben Sakai und des R. Akiba genannt.).

Eine Charakteristik der Agada in ihrem Gegensatz zur Halacha enthalten die Aussprüche der Lehre des 3. und 4. Jahrhunderts. »Ein Reicher an Gütern, ein Reicher zur öffentlichen Schau, das ist der Agadist.« (Baba Batra 145) »Der Reiche«, das ist der Talmudist, »der verständige Arme durchforscht ihn,« d. i. der Agadist.« (Talmud Jeruschalmi Pea Abschnitt 5.); »Willst du erkennen den, welcher die Welt geschaffen, so lerne Agada« (Sifra zu Sidra Ekew.); »Vom Ende der Welt ist, was sie füllt; das sind die Agadadot, welche den Namen Gottes heiligen.« (Jalkut zu Psalm §. 672.)

Kreis, Umfang, Teile, Thema, Inhalt, Wesen, Arten.

Der Kreis der Hagada, Agada, war nach ihrem oben angegebenen Begriff ein weitumfassender.

Verschiedene Zweige des Wissens, religiöse und profane, die biblischen und nicht biblischen bilden ihr Thema. Ihre Erklärung der Bibel, ihre Lehren und Mahnungen haben die sittliche Hebung des ganzen menschlichen Lebens in allen seinen Verhältnissen zu ihrem Ziele. Freud und Leid, Alter und Jugend, Lehrer und Schüler, Fürst und Volk, Staat, Gemeinde und Obrigkeit sollen durch sie ihre religiöse Läuterung erhalten. In feierlicher Versammlung im Lehr- und Gotteshause, wie außerhalb desselben, erhob sie ihre Stimme, da in Leidens- und Verfolgungstagen die erregten Gemüter zu trösten und vor Verzweiflung zu schützen, dort das Gotteswort zu erklären, die Begriffe von Gott, Tugend und Sitte zu läutern und zu heben. Beim Scheiden der Kinder von ihren Eltern, der Schüler von ihrem Lehrer, der Freunde und Verwandte aus der Mitte der ihrigen, der Verbannten von ihrer liehen Heimat usw., sprach die Agada ihr aufrichtendes Wort, das die Scheidenden segnend geleitet. Ebenso war sie es, die am häuslichen Herd, bei Erziehung, Heranbildung und Versorgung der Kinder, oder wo Krankheiten, andere Unglücksfälle die Freuden in der Familie zu vernichten drohten, ratend mit ihren Lehren zur Seite stand. Auf Gastmählern und Trunkgelagen, wo die Freude auszuarten drohte, ertönte das Wort der Agada und wies sie in ihre Grenzen zurück. An Schabbat und Fest erscholl ihre Belehrung in der Übersetzung des aus der Thora Vorgelesenen, in der freien Rede im Anschluss an das Maftir, oder sonst in einem Vortrag. Voraus ging sie den ernsten Studien der Halacha, um den Geist des Forschers zu erfrischen und zu beleben. Der Halacha selbst half sie nicht selten mit ihren Kenntnissen der Geschichte, Geographie, des Lebens und der Sitten der Völker, der Erklärung fremdsprachlicher Ausdrücke. Die Geheimlehre, von der die Halacha nichts weiß, fand da ihre treue Pflege. Auch Gespräche über Zauberei und Wahrsagerei, Geister und Gespenster, Astrologie usw., treffen wir bei ihr. Nach außen nahm sie den Kampf gegen die Angriffe auf das Judentum auf, beleuchtete das innere Wesen des Gesetzes und löste die scheinbaren Widersprüche der Schriftstellen. Letzteres nötigte die Agadisten, die profanen Wissenschaften in den Kreis ihrer Studien zu ziehen.

Wir unterscheiden daher bei der Aufzählung der verschiedenen Themen der Agada zwei Klassen:
a. die primären,
b. die sekundären.
Zu ersteren gehören:

  • die Übersetzung und Erklärung der Bibel und die dazu gehörigen Disziplinen: Geographie, Geschichte, Grammatik, Genealogie, Polemik und Apologetik
  • die Ethik: als Moral-, Klugheitsund Weisheitssprüche, Trost- und Ermahnungsreden in verschiedener Gestalt mit und ohne Anknüpfung an einen Bibelvers, mit oder ohne Gleichnis, in Sinn- und Denksprüchen sowie in ganzen Reden;
  • Dogmatik und Kultus als Lehren über Gott, Welt, Mensch, Vergeltung, Offenbarung, Gesetz, Tradition, Gottesdienst u. a. m.;
  • Geheimlehre: Kabbala, Dämonologie, Astrologie, Zauberei usw.
  • Gebete, die festen und die Gelegenheitsandachten, Poesien und Dichtungen.

Die andern sind die Naturwissenschaften:

  • Astronomie, Arzneikunde, Zoologie, Botanik u. a. m.;
  • Länder-, Staaten- und Völkerkunde;
  • Mathematik und Rechenkunst;
  • Philosophie und Psychologie und 5. Sprach- und Sittenkunde.

Die Arten der Agada nach dieser Klassifikation sind:
1. die exegetische;
2. die dogmatische und kulturelle oder religiöse;
3. die ethische;
4. die geschichtliche;
5. die mystische und
6. die der profanen Wissenschaften.

Bildung und Vortragsweise

Die Agada in ihrem engeren Sinne als Exegese hatte allmählich zur Erklärung der Bibelverse feste Normen, Gesetze, Regeln aufgestellt, Hilfsmittel, die ihren Jüngern überliefert wurden, um sie auf sichere Bahnen zu lenken und vor Willkür und Abschweifung zu schützen. Wir rechnen hierher: die 32 Regeln des R. Elieser, Sohn des R. Jose Haglili (im 2. Jahrundert), die Traditionen מסורות אגדה, נוטריקון die Notarikon, vermöge deren man jedes Wort in mehrere zerlegen kann, u. a. m. Freier war die Bildung der Agada in ihrem weiteren Begriff. Sie geschah mit Anknüpfung oder Anlehnung an den Bibelvers, aber auch frei, ohne denselben. Sie stieg von der Erklärung des Bibelverses zur moralischen Erbauung und geschichtlichen Betrachtung auf, oder begann mit derselben gleich, ohne ihr erst eine Bibelstelle unterzulegen. Außer der Bibel war es oft die Halacha, an die sie ihre moralischen Lehren geschickt anknüpfte, um so von den strengen Satzungen der Halacha zu den herzgewinnenden Betrachtungen der Agada überzugehen. Zur Darstellung ihrer Wissensfächer genügte ihr nicht mehr die einfache Rede, die Sprache und Vortragsweise musste gehobener sein und verschieden wechseln.

Dasselbe geschah dreifach durch:
a. die natürliche, einfache Rede;
b. die allegorische-symbolische Darstellung und
c. die hyperbolische Ausschmückung.

a. Die erste Form, die einfach beschreibende Art, wurde gewöhnlich zur Erklärung von Bibelstellen oder im Vortrage geschichtlicher Ereignisse sowie für das rein Wissenschaftliche überhaupt gebraucht. Ebenso waren derselben die Sittensprüche, die Klugheits- und Weisheitslehren, wo es sich nur um Erweiterung der Erfahrung handelte.

Dagegen war b. die zweite Form, die allegorisch symbolische, in den Ermahnungs- und Ermunterungsreden, den Trost- und Beruhigungszurufen üblich, wo auf eine Wirkung auf das Gemüt zur Weckung oder Mäßigung der Gefühle abgesehen war.

c. Die Dritte endlich, die hyperbolische, war gebräuchlich, wenn der Vortrag die Phantasie erregen und auf sie wirken soll.

Die allegorisch symbolische Redeform hatte:
a. kurze allegorische Bilder,
b. größere als z. B. die Fabel und das Gleichnis, die Mythen und Sagen.
Der Stoff zur Bildung derselben wurde entnommen aus der Bibel, der Geschichte, der Natur, von dem Menschen, den Tieren, den Pflanzen und Gewächsen, der Personifikation abstrakter Begriffe und Eigenschaften, endlich von Strömen, Bäumen, Metallen, u. a. m. Die kürzeren Allegorien wurden angewendet bei Einschärfung von kurzen Sinn-und Lehrsprüchen, Erteilung eines geheimen Rates, usw. Dagegen gebrauchte man die längeren Allegorien bei Segenserteilung, Verabschiedung, Schilderung der Größe der Tugend und der Abscheulichkeit der Laster.

Die dritte Redeform, die hyperbolische, umfasste drei Gattungen:
a. das Wunderbare,
b. das Rätselhafte und
c. das Mythische.
Man bediente sich derselben selten, am meisten nur, um das Volk aus seiner Erschlaffung zu reißen, durch auffallende Erzählungen das Feuer der Phantasie zu entzünden und die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu spannen. So wurden die Tugend, das Laster, sogar die Gottheit nach menschlicher Weise personifiziert. (Wir rechnen hierher die Sagen über die Unterredung der Engel mit Moses vor dem Empfang der Zehn Gebote auf Sinai; die Gespräche Moses mit dem Todesengel vor seinem Absterben; die Sage von R. Josua, Sohn Levi, der lebendig ins Paradies kam.)
Wir rechnen hierher die Gott beigelegten Anthropomorphismen und Anthropopathismen: Gott weint, Gott lacht, hält halachische Vorträge, legt Teffilin usw. Ferner gehören hierher: auffallend fremde Ausdrücke, ungewöhnliche Ausschmückungen der Geschichte, Berichte äußerst seltener Naturerscheinungen. Diese hyperbolische Redeform findet die Agada schon in der Bibel vorgebildet. Es sind dies die Ausdrücke: »hoch bis in den Himmel« »Gott kam herab« »Gott zürnt« »Rauch steigt auf aus seiner Nase« u. a. m.

Geschichte und Würdigung

Die Agada in ihrem weiteren Begriff, wie sie nicht bloß die Erklärung der Bibel, sondern auch deren Verhältnis zu den Tagesbegebenheiten zu ihrem Gegenstand hat, den Grund des Gesetzes aufsucht, losgelöst vom Bibelverse eigene Sprüche, Lehren, Sagen und Gleichnisse aufstellt, Israels Geschichte, Beruf und Aufgabe bespricht, dessen Verhältnis zu den andern Völkern bestimmt u. a. m., hat schon in der Bibel das feurige Prophetenwort, die Kernlehren der Hagiographen, verschiedene Teile des Pentateuchs, wo Moses als Prophet und Lehrer über die Geschichte und Bestimmung Israels, die Bedeutung des Gesetzes spricht, zu ihren Vorläufern und kann als deren Fortbildnerin betrachtet werden. Das freie Prophetenwort, wie es sich neben dem geoffenbarten Gesetz erhob, seine Macht entfaltete, spiegelt sich wundersam, wenn auch nicht in seinem kühnen Schwung, in den Lehren der Agada ab. Ihr Anfang beginnt, als jenes erloschen oder im Erlöschen begriffen war. Die Institution der Übersetzung der öffentlich vorgelesenen Bibelstücke in der Landessprache, die man auf Esra zurückführt, hat sie geschaffen. Man las, übersetzte und erklärte den Pentateuch, und diese Erklärungen, wie sie teilweise uns heute noch in den Bruchstücken der Targumim vorliegen, enthielten die ersten Bestandteile der Agada. Sie tritt noch da an den Vers gebunden auf, will denselben nur erklären, aber schon knüpft sie an ihn verschiedene Mahnungen, wo sie von der Vergangenheit zur Gegenwart übergeht, um- deren Tagesgeschichte zu beleuchten. Weiter und freier entwickelt sie sich seit den Eroberungen Alexanders d. Gr. in Asien, wo griechische Sitten und Anschauungen mit den jüdischen in Kampf traten. Es waren die Jahre der syrischen Bedrückung und der Freiheitskämpfe der Makkabäer, aus der uns manche Spruchsammlung und Geschichtsaufzeichnung der Agada überliefert sind. Sie hatte schon ihre zweite Stufe erreicht, sie erhebt sich über den Vers oder hat sich schon ganz von ihm losgelöst. Wer kennt nicht die schönen Sprüche in dem Sirachbuch, einige in den Pirke Awot und manches in den andern apokryphischen Büchern, die dieser Zeit anzugehören scheinen. Auch auf einer dritten Stufe ihrer Entwicklung sehen wir die Agada zur Zeit der Sektenbildung und Parteikämpfe im Judentum, wo das Volk für oder gegen das eine und das andere gewonnen werden sollte. In Gleichnissen, Allegorien und Fabeln aller Art erhob sich die freie Rede, und wo eine Menschenmenge sich zusammenfand, im Tempel, in den Synagogen und Lehrhäusern, vor, in und nach dem Gottesdienste, auf Straßen und anderen öffentlichen Plätzen, besonders als das Volk zu den Festen nach Jerusalem wallfahrte, da erscholl ihre Stimme der Belehrung und Ermahnung.

Die Agada ist zur Zeit der Auflösung des jüdischen Staates durch die Römer nicht bloß im Dienste der Bibel die Erklärerin ihrer Aussprüche, sondern tritt auch schon als selbständige Dichterin von Sentenzen, Gleichnissen, Fabeln usw. auf und versucht sich in Reden und verschiedenen Diskussionen bis zur Höhe philosophischer Betrachtungen. Eine alte Quelle bringt den Ausspruch der ersten Bibelexegeten: »Willst du den erkennen, welcher die Welt erschaffen, lerne Agada.«
So ausgerüstet war sie, als sie berufen schien, eine unerschöpfliche Lehr- und Trostquelle des Volkes zu werden. Nach dem Verlust der politischen Selbständigkeit wiederholten sich stärker als je die Angriffe auf die geistigen Güter, die Lehre und das Gesetz des Judentums, um auch den geistigen Verband, der die Juden noch zu einem Gesamtorganismus vereinigte, zu vernichten. Das Judentum rüstete sich zu einem Gegenkampf, und die Agada war die mächtigste Waffe, die in der Hand geschickter Führer jeden Angriff von außen siegreich zurückzuschlagen und im Innern des Judentums Einheit und Festigkeit herzustellen verstand. R. Jochanan ben Sakai, R. Gamliel, R. Josua ben Chananja, R. Jischmael, R. Akiwa, R. Tarfon, R. Elieser ben Hyrkanos, R. Jose Haglili, R. Elieser ben Asaria u. a. m. waren Männer, die vor und in den barkochbaischen Aufstandsbewegungen mit dem freien Wort der Agada diese ihre Tätigkeit so rühmlich eröffneten. Eine nicht geringe Anzahl von Unterredungen und Disputationen der Gesetzeslehrer mit Griechen und Römern sind uns in den Talmuden und Midraschim erhalten, die Zeugnis über diese Geisteskämpfe der Juden gegen Griechen, Römer, Christen, Gnostiker u. a. m. ablegen. Aber auf dieser Höhe, wo sie ihre Blütezeit feiert, bemerken wir schon bei ihr etwas Fremdes, das sich ihrem Wesen angesetzt und Schuld ihrer späteren Ausartung und Verdüsterung ist. Die Bekämpfung heidnischer Angriffe auf das Judentum hat die Kenntnisse der Lehren, Sitten und der Anschauungsweise des sie umgebenden Heidentums, das Bekanntwerden mit den Philosophen des Neuplatonismus, des Gnostizismus und der verschiedenen Sekten des jungen Christentums erfordert und diese waren es, die in dem Geiste der Agadisten etwas zurückgelassen, von dem sie sich nicht mehr ganz befreien konnten. Eine Talmudstelle erzählt uns von vier Lehrern, die sich mit esoterischem Wissen beschäftigten, oder wie es wörtlich heißt: sie drangen in das Paradies ein, von denen drei: Ben Asai, Ben Soma, Elisa ben Abuja mehr oder weniger in ihren früheren reinen Anschauungen über Gott und Welt, Religion und Sitte erschüttert wurden, und nur einer, R. Akiwa, gerettet wurde, von dem es hieß:
»R. Akiwa ging mit Frieden hinein und kam im Frieden heraus!« (Chagiga 15)
So wurde Pappus mehrere Mal von R. Akiwa wegen seiner gnostisch klingenden agadischen Auslegungen zugerufen:
»Du hast genug, Pappus!«
Aber auch Akiwa wurde in Bezug auf seine fremden, mystischen Agadalehren bald von R. Jose dem Galiläer, bald von R. Elieser ben Asaria, auch von R. Ismael heftig angegriffen. »Wie lange noch profanierst du die Gottheit.« »Akiwa, was hast du bei der Hagada, begib dich lieber zu den Satzungen der Negaim und Ohalot!« »Akiwa du irrst, Engel essen nicht! «
Auf gleiche Weise verwies R. Gamliel ben R. Neharai, als dieser in seinem Agadavortrag erzählte, die Israeliten haben beim Durchzug durch das Meer aus den Wellen des Meeres Feigen, Granatäpfel usw. für ihre Kinder geholt: »Auch du bist von den Wundersüchtigen! « R. Akiwa erklärt, »Elia ben Berachel im Buche Hiob sei Bileam und der Holzsammler in der Wüste, der den Schabbat entweiht hat, sei Zelpchad, worauf ihn R. Elieser ernstlich verweist: »Akiwa, so oder so wirst du einst darüber zu Gericht gefordert! « Von Ben Asai hieß es: »Er schaute und starb.« Von Ben Soma: »Er schaute und ward irre.« »Noch ist Ben Soma außerhalb!« Doch war im Ganzen der Einfluss dieser fremden von außen ins Judentum eingedrungenen Philosophismen für die ersten zwei Jahrhunderte noch unbedeutend, aber schon war die Saat da, die bei Ermangelung des vorsichtigen Gärtners Unkraut emporschießen und alles Bessere überwuchern konnte. Andererseits erhielt die Agada, besonders die Auslegungsagada, von den Lehrern dieser Zeit manche Bereicherung. R. Elieser, R. Josua. R. Gamliel machten Gebrauch von der Erklärung durch das mnemotechnische Mittel des Notarikons, mittels dessen jedes Wort nach seinen Buchstaben in mehrere Wörter geteilt wird. R. Elieser ben Asaria kannte die Erklärung mittels der Moristellung und Wortfolge, Semichin. Derselbe stellte auch in Bezug auf die Anthropopathismen und Anthropomorphismen in der Bibel den Grundsatz auf: »Die Thora redet nach der Redeweise der Menschen«; ferner: »Nur die Bibel gebraucht von Gott diese Bezeichnung.«
R. Akiwa deutet die Bindewörter mit auch, und R. Jose Haglili stellte die später oft gebrauchten 13 Regeln der Exegese fest. Auch die Sprüche wurden weiter und schöner ausgebildet und die Gebete erhielten ihre festen Formen. In ausgezeichneter Weise hatte man die Fabel und das Gleichnis kultiviert. Die Fähigsten, die sich in der Agada auszeichneten, hatten sich unter besonderen Namen die Gleichnisagadisten und die Forscheragadisten, ferner die Agadisten des Südens Palästinas genannt.

Eine andere Stellung hatte die Agada nach der unglücklichen Niederlage des barkochbaischen Aufstandes, wo ihr Wirkungskreis mehr nach innen ging, das Volk in seinem Schmerz zu trösten, es aufzurichten und ihm ratend zur Seite zu stehen. In dieser Zeit wirkten größtenteils die letzten Schüler R. Akiwas, nämlich R. Me’ir, R. Juda, R. Jose, R. Schimon, R. Elasar ben Schemua, R. Nechemia, R. Josua ben Korcha, R. Juda ben R. Jose Haglili u. a. m. Bekannt sind die rührenden Dankreden, welche diese Lehrer am Schluss ihrer wiedereröffneten Synhedrialsitzungen zu Uscha an die gastfreundlichen Bewohner dieser Stadt richteten. R. Me’ir war als Fabeldichter berühmt und R. Jose durch seine Trost- und Ermutigungsreden. Ersterer teilte seinen Vortrag in Halacha, Gleichnisse und Agada. Am bedeutensten war Elieser ben R. Jose Haglili, von dem es hieß: »Überall, wo du die Worte der Agada des R. Elieser, Sohn des R. Jose findest, mache dein Ohr einem Trichter gleich.« (Chullin 89)
Von ihm wurden 32 Regeln der Agada zur Erklärung der Bibelverse aufgestellt.

Das Charakteristische der Agada dieser Periode ist, dass sie mehr in ihrem engen Rahmen gepflegt und so neben den anderen Wissenszweigen aufgestellt wird.

In der darauffolgenden, unter der letzten Zeit des Patriarchats R. Schimon Sohn Gamliels weiß man nichts Bedeutendes von den Leistungen auf dem Gebiete der Agada zu erzählen. Nur von R. Nathan ist die Schilderung der trüben Zeit der hadrianischen Verfolgungsedikte gegen die Juden: »Warum wirst du getötet, weil ich den Schabbat gehalten usw.« Eine bessere Zeit trat für sie ein unter dem Patriarchat des R. Juda I. (von da bis 218). Es stehen wieder bedeutende Persönlichkeiten auf, die sich der Pflege der Agada hingeben. Bar Kappara wird durch seine Fabeldichtungen, Gleichnisse und andere Zeitscherze bekannt, nicht minder groß ist R. Chia bar Abba durch seine Agadavorträge im Allgemeinen. Levi ben Sissi versuchte an halachische Sätze agadische Lehren zu knüpfen, ein Verfahren, das schon R. Jochanan ben Sakai nachgerühmt wird. Kühn und frei erhob sie sich wieder, ihr Wort schwang sich in beißendem Scherz selbst gegen die Großen. Das erregte Besorgnis und man befürchtete von ihr manche Entwürdigung des Heiligen. Bar Kappara erhielt daher wegen seiner freien Agada-Äußerungen manchen Verweis von R. Juda I. und R. Chia, der selbst Pfleger und Freund der Agada war, tut, als er eines Agadabuches ansichtig wurde, den Ausspruch: »Wenn darin noch so viel Gutes steht, möge die Hand desjenigen abgehauen werden, der es geschrieben.« Es ist möglich, dass er nur gegen das Aufzeichnen der Agada ist und sie nur in ihrer alten flüssigen Form erhalten haben will. Wir haben also auch aus dieser Zeit Neues zu berichten, es ist dies das Niederschreiben der Agada, wovon in den früheren Perioden nichts erwähnt wird. Einen bedeutend größeren Wirkungskreis erhielt die Agada mit dem Eintritt des 3. Jahrhunderts, wo zu ersterem die Polemik und Apologetik des Judentums gegenüber dem immer weiter um sich greifenden Christentume in Palästina und dem erstarkten Neuparsismus in den babylonischen Ländern hinzukam. Es galt der Verteidigung des Judentums gegen jeden feindlichen Angriff auf seine Lehren und Institutionen.
An der Spitze dieser neuen Agadatätigkeit stehen: R. Schmuel, R. Jochanan, R. Abbahu, R. Simlai, R. Josua ben Levi u. a. m. Mehr nach innen waren die Agadavorträge des R. Jochanan und R. Schimon ben Lakisch; in den babylonischen Ländern: die des Rabh, Schmuel u. a. m. Es würde zu weit führen, hier über ihre weitere Richtung und Bestrebungen in der Agada zu sprechen, und wir verweisen darüber auf die betreffenden Artikel dieser Lehrer. Aber welche große Ausbreitung die Agada damals hatte, darüber stellen wir hier die Aussprüche mehrerer Lehrer dieser Zeit zusammen. R. Jizchak sagt: »Früher war die Thora alles, man strebte zu hören die Worte der Mischna und des Talmud, aber gegenwärtig, wo die Thora nicht die Hauptsache ist, will man nur Agada hören.« (Midrasch zu Schir haSchirim) R. Levi meint, nicht die Leute, sondern die veränderten Zeitverhältnisse sind der Grund der Ausbreitung der Agada. »Früher«, sprach er, »war Geld unter den Leuten und man hörte gern Mischna und Halacha, aber jetzt bei der Armut und dem drückenden politischen Joch möchte man immer nur Trostverheißungen und Segenswünsche hören.« »Die Agada, so lehrte R. Abbahu, gleicht den Waren, die jedes Mannes Kauf ist.« Diese gewonnene Macht der Agada führte ihr jedoch bald wieder fremde Elemente zu, die eine starke Trübung ihrer Lehren zur Folge hatte, wo man auf deren Reinhaltung und Ausscheidung des Schädlichen bedacht sein musste. Es erhoben sich daher auch jetzt, wie schon früher bei solchen Anlässen, wieder Männer, die den Anbau der Agada von den ihn überwuchernden fremden Schlingpflanzen zu befreien suchten. Wir nennen: R. Josua ben Levi, R. Abbahu, R. Seira; in Babylonien: Rab, Schmuel u. a. m. Man unterscheidet die reine Agadot von den unlauteren, Schmäh-Agadot, und ein späterer R. Seira, nennt die Bücher solcher Agadot »Zauberbücher«. Man ging daher mit der Mitteilung der Agadot immer vorsichtiger um, für die nicht jeder würdig genug gehalten wurde. Wie peinlich man damit verfuhr, erhellt aus der Erzählung, nach der sogar ein R. Josua ben Levi von R. Jonathan, den er um Mitteilung von Agadot ersucht hatte, zurückgewiesen wurde mit den Worten: »Es steht bei uns fest, wir überliefern keine Agadot den Männern aus dem Süden, weil sie hochmütig sind, nicht den Babyloniern wegen ihrer Unwissenheit in der Thora.« Es machte sich daher die Sitte geltend, die Agada-Lehren unter redaktioneller Revision der bedeutendsten Lehrer zu ordnen. R. Josuas b. L. Aussprüche gegen die unlautere Agada sind: »Diese Agadetha, wer dieselbe schreibt, wohl abfasst, hat keinen Anteil im Jenseits, wer sie vorträgt, soll verbrannt werden, wer sie hört, empfängt keinen Lohn.«; ferner: »Denn sie merken nicht auf die Werke des Ewigen, das sind die Agadot.« Andererseits wird er selbst als Agadist und Kenner der Agada gerühmt, der die Agada preist, weil sie den kleinen Münzen gleicht, die jedem Mann zugänglich ist, und deren Erwerb er den Söhnen verheißt, deren Väter Gerechtigkeit und Wohltätigkeit üben. Von R. Abbahu werden seine Maßregeln gegen die Übergriffe der Targumisten und Agadisten oft erwähnt. Aber Abbahus Agadavorträge selbst waren von diesen Auswüchsen nicht frei und wurden einmal von den Zuhörern öffentlich verlacht. Ein ganz neuer Akt war die Erlaubnis der Aufzeichnung der Agadot, die von den Lehrern R. Jochanan und R. Schimon ben Lakisch ausgesprochen wurde. Es war dies gegen die Lehre des R. Chia ben Abba im z. Jahrhundert, der das Aufzeichnen und den Gebrauch der Agadotbücher verbot. R. Jochanan lehrt: »Wer Agada aus dem Buch lernt, wird sie nicht bald vergessen.« So studierte er in Gemeinschaft mit R. Schimon ben Lakisch in den Büchern der Agada und erklärte: »Eine Zeit für den Ewigen, sie zerstören deine Thora; besser die Thora werde ausgerissen, als dass sie vergessen werde.« Gebrauch von dieser Erlaubnis machten in Babylonien: Rabh (im 3. Jahrhundert), Rab Papa und Rab huna Sohn des R. Josua (beide im 4. Jahrhundert). Dagegen war man in Palästina noch lange nicht damit einverstanden. R. Josua ben Levis‘ Protest gegen das Niederschreiben der Agadot haben wir bereits erwähnt. R. Seira (im Anfang des 4. Jahrhundert) schließt sich demselben ganz an und nennt die Bücher der Agada »Zauberbücher«. Als man ihn nach der Ursache seines feindlichen Auftretens gegen dieselbe fragt, antwortete er: »Frage sie selbst und sie werden es dir sagen.« Sonst war er als bedeutendster Agadalehrer sehr gesucht, ein Beweis, dass er kein Feind der Agada im Allgemeinen sein konnte. (Vergl. Midr. schocher tow/Midrasch Tehillim Abschnitt 15 ).

Andere aus dieser Zeit verschärften noch mehr diese Lehre: »Die Aufzeichner der Benedeiung, Teil der Agadot, sind gleich denen, die die Thora verbrennen.« Doch muss die Ausartung und Verwirrung auf dem Gebiete der Agada im 4. Jahrhundert nicht gering gewesen sein, da man die völlige Ignorierung der Agada als das einzige Mittel gegen sie betrachtete. »Die Agadisten, das sind diejenigen, welche weder erlauben, noch verbieten.« (Talmud Jeruschalmi Pea Abschnitt 3.) »Man lerne nichts aus der Agada.« »Man entgegne nichts auf Vorträge der Agada.« Doch wird noch R. Jizchak als die Persönlichkeit genannt, vor dem R. Ami und R. Assi die Agada ordneten, ein Beweis, dass die Ignorierung der Agada doch nicht allgemein war, und sie noch ihre Pfleger auch unter den strengen Halachisten hatte. Nur wurde sie gern mit der Halacha vereinigt, um nach beiden Seiten zu befriedigen (Baba Kama 60).

Als letzter Agadist in Palästina war Tanchuma bar Abba. In den babylonischen Ländern wurde die Agada weit über den Schluss des Talmuds noch gepflegt. Von den babylonischen Gesetzeslehrern nennen wir als Kenner der Agada: Rab und Schmuel im 3. Jahrhundert Letzterer bekämpfte die Astrologie. Abaji, Rabba b. Gana, Rab Papa und Rab Huna (Schabbat 89), Rab Chasda im 4. Jahrhundert
Letzterer wird zugleich als die Persönlichkeit gekannt, vor der man in Babylonien die Agadot ordnete. Rabbah leitete seine Halachavorträge stets mit Agada ein. Dagegen wird Abaji seine Versäumnisse der Agadavorträge zum Vorwurfe gemacht, er gehörte also zu denen, welche die Agada nur im engen Kreise gepflegt wissen wollten. Eine andere Würdigung und Pflege hatte sie in der nachtalmudischen Zeit.

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Rabbiner Dr. Hamburger war Autor der »Real-Encyclopädie für Bibel und Talmud« bzw. der »Real-Encyclopädie des Judentums«. Rabbiner Hamburger wurde 1826 in Loslau geboren und starb 1911 in Neustrelitz.