Gebete - Tfillot

Das Schma Jisrael im Morgengebet

Zum Hintergrund des Gebets

Es ist das erste Gebet, das ein jüdisches Kind lernt, es ist seit Jahrtausenden integraler Bestandteil des jüdischen Gottesdienstes und es sind die letzten Worte vieler jüdischer Märtyrer: Das Schma Jisrael.

Im Vergleich zu anderen Teilen des Gottesdienstes ist das Schma Jisrael kein Gebet im eigentlichen Wortsinn, sondern es ist vielmehr das jüdische Glaubensbekenntnis, im weitesten Sinne das Bekenntnis zum Judentum und nach Donin (1986:139)

,,Ausdruck jüdischer Überzeugung“.

Daß die Krijat Schma, die Lesung des Schma, von herausragender Bedeutung für den jüdischen Gottesdienst ist, verdeutlicht sich auch dadurch, daß es an mehreren Stellen des Gottesdienstes gesprochen wird, etwa direkt zu Beginn des Gebets nach den Birkot ha Schachar, beim Ausheben der Tora vor dem Aron ha Kodesch oder auch während der Wiederholung der Mussaf-Amida.

Aufbau des Schma Jisrael

Der Mischna folgend ist das Schma Jisrael in drei Berachot eingebettet; zwei gehen ihm voran, gefolgt von einer weiteren Beracha. Diese Berachot gehen bereits auf die Tempelzeit zurück.

Das eigentliche Schma Jisrael besteht aus drei Teilen der Tora: Debarim 6, 4-9; Debarim 11, 13-21 und Bamidbar 15, 37-41.

Die erste Beracha: Birkat Jozer – Segen über den Schöpfer des Lichts

Der Jozer-Segen beginnt im werktäglichen Morgengebet mit der Aufforderung zur Segnung Gottes durch den Vorbeter (Barechu).1Vgl. Donin (1986:160); Elbogen (1995: 17) Da Jozer der zentrale Begriff der ersten Beracha vor dem Schma ist, wurde der gesamte Abschnitt nach ihm benannt. Der Jozer-Segen (Jozer: schaffen, bilden) beinhaltet eine Anerkennung Gottes als Schöpfer der Lichter: täglich bildet er von Neuem das Licht (Sonnenaufgang) und erschafft ebenso die Finsternis (Nacht). An diesen beiden Schnittpunkten – Sonnenaufgang und Sonnenuntergang – sprechen wir das Schma Jisrael.

Im weiteren Text wird Gott als Schöpfer der Welt und allem, was sich auf ihr befindet, gepriesen.

In den Abschnitt Jozer wird die Keduscha, entnommen aus den Propheten Jescha- jahu und Jecheskel, eingefügt. Die Keduscha ist eine Hymne, die wahrscheinlich schon auf die Tempelzeit zurückgeht. Die Betenden vereinigen sich in diesem Text mit den Engeln, um Gott als Erschaffer der Himmelsleuchten zu preisen. Die erste Beracha endet mit dem Segen: Gesegnet seist Du, der die Lichter erschafft.

Die zweite Beracha: Ahava – Liebe

Diese Beracha beginnt mit den Worten Ahava raba und endet mit Habocher be’amo jisrael be’ahava

Das Leitmotiv der zweiten Beracha ist die reine Liebe; einerseits die Liebe Gottes zu der Welt und zum Volk Israel, andererseits die Liebe Israels zu Gott und zur Tora.

Während in der ersten Beracha die Schöpfung thematisiert wurde, konzentriert sich die zweite Beracha auf die Offenbarung, nach Munk2 S. Munk (1933:128) sind beide Themen die

,,Eckpfeiler des Judentums, die sich gegenseitig stützen“.

Da diese Beracha an keine Tageszeit gebunden war und ist, konnte sie von den Kohanim im Tempel bereits vor Sonnenaufgang gesprochen werden.

Schma Jisrael: Das Glaubensbekenntnis

Da das Schma Jisrael belehrende Inhalte hat, besteht die Verpflichtung, Krijat Schma laut und klar zu sprechen, damit man es selbst deutlich hört. Ursprünglich wurde das Schma stehend gesprochen, da es einer Zeugenaussage gleichkommt, seit einer Auseinandersetzung der Rabbinen mit den Karäern im 9. Jahrhundert n.d.Z. soll es sitzend gebetet werden.3Vgl. Donin (1986:142) Zur Förderung der sog. Kawana, der Andacht, soll sich der Betende mit der rechten Hand die Augen bedecken.

Dem Kizzur Schulchan Aruch folgend kann die Mitzwa des Schma Jisrael-Lesens am Morgen bis zu einem Viertel des Tages4Gemessen vom Sonnenaufgang bis zum Sichtbarwerden der Sterne erfüllt werden.

Das Glaubensbekenntnis drückt nach Trepp (1992:26) die ,,Annahme des Joches des Himmels“ aus, also die Anerkennung der Herrschaft Gottes.

An diesen Satz schließt sich direkt ,,Gelobt sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches immer und ewig“ an. Im Rahmen der früheren Tempelzeremonie wurde die- ser Satz immer dann laut vom Volk ausgerufen, wenn die Priester den Namen Gottes aussprachen5etwa zu Jom Kippur, später sollte er aber zur Antwortformel des anwesenden Volkes auf alle von den Kohanim ausgesprochenen Berachot im Tempel werden und an die Stelle des ,,Amen“ treten.

Um deutlich zu machen, daß dieser Satz nicht biblischen Ursprungs ist, wird er während des Jahres leise und nur an Jom Kippur laut gesprochen.6Vgl. Donin (ebd.)

Erster Abschnitt

Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist Eins 7Die Übersetzung der Auszüge aus der Tora ist Seidler (1998) entnommen; im ersten und zweiten Abschnitt habe ich allerdings Seidlers Übersetzung des hebräischen בניך, bzw. בניכם mit »Söhne« durch »Kinder« ersetzt, eine Übersetzung, die mir gerechter und zeitgemäßer er-scheint.

Gesegnet sei der Name der Herrlichkeit seines Reiches für immer und ewig.

Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Vermögen. Und es seien diese Worte, die Ich dir heute auftrage, auf deinem Herzen. Schärfe sie deinen Kindern ein und sprich in ihnen, wenn du zu Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst. Binde sie zum Zeichen an deine Hand, und sie seien als Denkband zwischen deinen Augen. Schreibe sie an die Türpfosten deines Hauses und deiner Tore. (Debarim 6, 4-9)

Kabalat ol malchut schamajim Die Übernahme der göttlichen Herrschaft

Folgende Themen werden im ersten Abschnitt des Schma Jisrael angesprochen.

Im Schma Jisrael finden wir eine Bezeugung der Einzigkeit Gottes, die auch an vielen anderen Stellen der Tora unmissverständlich zum Ausdruck gebracht wird. 8z.B. »Wer ist wie Du unter den Mächtigen, Ewiger!“ (Schemot 15, 11); »Du bist durch Sehen zum Wissen gebracht worden, dass der Ewige allein Gott ist, nichts sonst außer Ihm«
(Debarim 4, 35); »Sehet nun, dass Ich Ich bin, und kein Gott neben Mir […]« (Schemot 32, 39).
Seidler (1998:27ff.) erläutert, dass sich die Einzigkeit Gottes gut verdeutlichen läßt, indem sie ihrem natürlichen Gegenbegriff, der Vielfalt, gegenüberstellt wird.

Betrachtet man die Unzahl materieller Dinge, die auf dieser Welt existieren, so läßt sich diese Vielzahl auf einen einzigen Ursprung zurückführen: auf ihren Schöpfer. Zudem verdeutlicht sich dies durch Gottes Transzendenz, an die eine Vielzahl von Attributen geknüpft ist – Er steht außerhalb der Schöpfung und existierte bereits vor ihr, ist unwandelbar, heilig, allwissend und allgegenwärtig.

Auffallend ist, daß der letzte Buchstabe des Schma (ע) und derjenige des Wortes Echad (ד) größer geschrieben werden als der Rest der Zeile. Nach Seidler (1998:73) beruht dies auf der rabbinischen Tradition, dass beide Buchstaben zusammen das Wort עד – Zeuge ergeben. Somit wird Israel durch die Preisung Gottes mit  dem

Schma Jisrael zum Zeuge von Gottes Einzigkeit, während Gott das Volk Israel preist, das seinen Auftrag erfüllt.

Wir sollen Gott mit ganzem Herzen, ganzer Seele – Raschi weist in seinem Kommentar darauf hin, daß mit deiner ganzer Seele bedeutet, selbst wenn dir das Leben genommen wird – und mit unserem gesamten Vermögen9Einerseits bezeichnet dies unseren Besitz, andererseits aber auch die Lebenslagen, in denen wir uns befinden (vgl. Seidler 1998:75) lieben.

Des weiteren sind wir zu Tora-Studium verpflichtet und müssen dies Wissen auch an unsere Kinder – Raschi erweitert dies auf unsere Schüler – weitergeben. Die Worte ,,schärfe sie deinen Kindern ein (…)“ sind nach Donin (1998:145) ein Hinweis darauf, dass wir mit unseren Kindern den Text wiederholt lernen sollen. Außerdem enthält dieser Abschnitt die Verpflichtung zum Anlegen der Tefillin und zum Anbringen der Mesusa.

Aus den Worten ,,sprich in ihnen, wenn du zu Hause sitzest und wenn du auf dem Wege gehst, wenn du dich hinlegst und wenn du aufstehst“ schlossen die Rabbinen, dass das Schma Jisrael jeden Morgen und jeden Abend gesprochen werden muss.

Der erste Abschnitt ist durchweg in der zweiten Person singular verfasst, d.h., sein Inhalt richtet sich vordergründig an den einzelnen Menschen.

Zweiter Abschnitt

Und es sei, wenn ihr auf Meine Gebote, die Ich euch heute gebiete, wirklich hören werdet, den Ewigen, euren Gott zu lieben und Ihm zu dienen mit eurem ganzen Herzen und eurer ganzen Seele. Dann werde ich Regen eurem Land zu seiner Zeit geben, Früh- und Spätregen, und du wirst dein Getreide einsammeln, deinen Most und dein Öl. Und ich werde Gras deinem Feld geben für dein Vieh, und du wirst essen und satt werden. Hütet euch, dass euer Herz nicht verführt werde und ihr abweicht und anderen Göttern dient und euch vor ihnen verbeugt. Dann wird der Zorn des Ewigen wider euch entbrennen, Er wird den Himmel verschließen, und es wird kein Regen sein, und die Erde wird ihren Ertrag nicht geben, und ihr werdet schnell zugrunde gehen aus dem guten Land, das der Ewige euch gibt. Legt diese Worte auf euer Herz und auf eure Seele, bindet sie zum Zeichen an eure Hand, und sie seien als Denkband zwischen euren Augen. Ihr sollt sie euren Kindern lehren und in ihnen sprechen, wenn du zu Hause sitzest und wenn du aufstehst. Und schreibe sie an die Türpfosten deines Hauses und deiner Tore. Damit eurer Tage viele werden und der Tage eurer Kinder auf dem Erdboden, den der Ewige euren Vätern zugeschworen hat, ihnen zu geben, wie die Tage des Himmels über der Erde. (Debarim 11, 13-21)

Kabalat ol mitzwot Die Übernahme der Gebote

In diesem Abschnitt wird die Übernahme der göttlichen Gebote durch den Menschen thematisiert.

Hier ist die Sprache von der göttlichen Strafe, die die Nichtbeachtung der Gebote nach sich zieht, aber auch von Gottes Segen und der Zusage eines langen Lebens im Falle ihrer Einhaltung.

Im zweiten Abschnitt wird zum Dienst mit dem Herzen aufgefordert, was nach Raschi ein Hinweis auf das Gebet ist. Weiterhin wird die Aussage wiederholt, daß das Schma Jisrael morgens und abends zu sprechen sei, und erneut wird auf die Verpflichtung zu Tefillin und Mesusa hingewiesen. Auffallend ist, daß dieser Abschnitt im Gegensatz zum ersten in der zweiten Person plural abgefaßt ist. Nach Donins (1986:145) Auffassung wendet er sich von daher an die Gesamtheit des Volkes Israel.

Dritter Abschnitt

Und der Ewige sprach zu Mose und sagte: Sprich zu den Kindern Israel und sage ihnen, sie sollen sich Schaufäden machen an den Ecken ihrer Kleider für ihre Geschlechter, und sie sollen an den Schaufäden an der Ecke je einen himmelblauen Faden anbringen. Und es soll euch zu Schaufäden sein, und ihr sollt sie sehen und euch an alle Gebote des Ewigen erinnern und sie tun, und ihr sollt nicht eurem Herzen und euren Augen nachspähen, denen ihr nachbuhlt. Damit ihr euch erinnert und alle Meine Gebote tut und heilig seid eurem Gotte. Ich bin der Ewige, euer Gott, der Ich euch aus dem Lande Ägypten herausgeführt habe, euch zum Gott zu sein. Ich bin der Ewige, euer Gott. (Bamidbar 15, 37-41)

Paraschat Zizit Der Abschnitt von den Schaufäden

Dieser dritte Abschnitt beschäftigt sich – stellvertretend für die Übernahme aller göttlichen Gebote – mit der Erfüllung der Mitzwa des Tallit, bzw. der Zizit und postu- liert ein Ideal der Heiligkeit. Raschi folgend ist der Zahlenwert des Wortes Zizit 600; hinzugerechnet werden acht Fäden und fünf Knoten der Zizit. Hieraus ergibt sich die Zahl 613, die ein Hinweis auf die 613 Ge- und Verbote ist.

In diesem dritten Abschnitt wird der Begriff Zizit dreimal erwähnt. Es besteht der Brauch, bereits vor dem Sprechen des Schma Jisrael die Zizit des Tallit in linke Hand zu nehmen, um sie bei der Erwähnung der Zizit im Text zu den Lippen zu führen und zu küssen.

Zudem gedenken wir an dieser Stelle täglich des ,,Prototyps der Erlösung“10S. Seidler (1998:56), des Auszugs aus Ägypten. Aus diesem Grund wird dieser Abschnitt auch Jeziat MizrajimDer Auszug aus Ägypten -, oder nach seinen Anfangsworten Wa jomer Und er sprach – genannt 11Vgl. Seidler (1998:55).

Zwischen dem dritten Abschnitt und dem nachfolgenden ,,Emet“ soll laut rabbinischer Anordnung ohne Unterbrechung weiter gebetet werden.

Die dritte Beracha: Emet Wahrheit und Ge’ula Erlösung

Das letzte Wort des Schma Jisrael, Emet – Wahrheit, ist eigentlich das Anfangswort der unmittelbar anschließenden dritten Beracha und gehört nicht zum Text des dritten Abschnitts. Wahrscheinlich wurde es nachträglich an das Schma angefügt.12Trepp (1992:27) Motiv der Beracha Emet ist der Dank Israels für die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten und aller Wunder, was durch Zitate aus dem Lied am Schilfmeer hervorge- hoben wird. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß das Schma Jisrael über die Erkenntnis und Anerkennung der göttlichen Herrschaft (1. Abschnitt) zur Übernahme der göttlichen Gebote (2. Abschnitt) führt, die schließlich in der individuellen Heiligkeit (3. Abschnitt: wihejitem kedoschim le’elohechem) mündet.

Literatur

Donin, Chajim H.: Jüdisches Gebet heute, Israel 1986

Elbogen, Ismar: Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Hildesheim 1995

Ganzfried, Schelomo: Kizzur Schulchan Aruch, Band I, Basel 1988 [hier im Volltext]

Munk, Elie: Die Welt der Gebete, Band I, Frankfurt am Main 1933 Raschi-Kommentar zum Pentateuch, Basel 1994

Seidler, Meir: Schma Jisrael. Einheit – Die jüdische Sicht, Kovar 1998 Trepp, Leo: Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart 1992

schma1

PDF herunterladen.

  • 1
    Vgl. Donin (1986:160); Elbogen (1995: 17)
  • 2
    S. Munk (1933:128)
  • 3
    Vgl. Donin (1986:142)
  • 4
    Gemessen vom Sonnenaufgang bis zum Sichtbarwerden der Sterne
  • 5
    etwa zu Jom Kippur
  • 6
    Vgl. Donin (ebd.)
  • 7
    Die Übersetzung der Auszüge aus der Tora ist Seidler (1998) entnommen; im ersten und zweiten Abschnitt habe ich allerdings Seidlers Übersetzung des hebräischen בניך, bzw. בניכם mit »Söhne« durch »Kinder« ersetzt, eine Übersetzung, die mir gerechter und zeitgemäßer er-scheint.
  • 8
    z.B. »Wer ist wie Du unter den Mächtigen, Ewiger!“ (Schemot 15, 11); »Du bist durch Sehen zum Wissen gebracht worden, dass der Ewige allein Gott ist, nichts sonst außer Ihm«
    (Debarim 4, 35); »Sehet nun, dass Ich Ich bin, und kein Gott neben Mir […]« (Schemot 32, 39).
  • 9
    Einerseits bezeichnet dies unseren Besitz, andererseits aber auch die Lebenslagen, in denen wir uns befinden (vgl. Seidler 1998:75)
  • 10
    S. Seidler (1998:56)
  • 11
    Vgl. Seidler (1998:55)
  • 12
    Trepp (1992:27)