Interreligiöses, Wochenabschnitt

Angebliche christologische Hinweise in der Heiligen Schrift

Der erste Hinweis dieser Art soll in den oft mit »bis Schiloh kommt« übersetzten Worten in Vers 10 von Kapitel 49 liegen. Die meisten der älteren und neueren Erklärungen dieses Verses stützen sich auf das hebräische mit »Schiloh« übersetzte Wort.

1. Nun ist es freilich seltsam, dass die älteren jüdischen Übersetzungen und Kommentatoren (Septuaginta, Targumim, Saadja und Raschi) dieses Wort ohne jod lesen, als ob שלה, die archaische Form für »sein« geschrieben stünde; oder als ob es eine poetische Form für »Frieden« wäre.

a) Die Übersetzung »bis das, was seines ist, kommen wird« stammt aus der Septuaginta. Unser Satz bedeutet dann: Das Zepter soll sich nicht von Jehuda lösen bis alles, was ihm vorbehalten, erfüllt worden ist.

b) »Bis derjenige kommt, dessen es [das Königtum] ist« (Onkelos, Tragum Jeruschalmi, Saadja Raschu und andere jüdische Kommentatoren).

c) »Bis Frieden kommt« (M. Friedlander).

2. Die meisten Kommentatoren fassen jedoch das Wort שילה als Namen eines Ortes oder einer Person auf.

a) »Solange Menschen nach Schiloh kommen« (zur Verehrung). So lautet die Übersetzung der American Jewish Version. Schiloh war die Stätte des Heiligtums in den Tagen des Propheten Schmuek (Samuel), bevor Jerusalem Mittelpunkt der jüdischen G-ttesverehrung wurde. Da aber die bekannte Überlegenheit des Stammes Jehuda erst nach Erbauung des Tempels in Jerusalem begann, scheint uns diese Interpretation unbefriedigend.

b) »Bis der von Schiloh kommt und sein ist der Gehorsam der Völker.« Mendelssohn und Zunz sehen in diesem Vers eine Vorhersage des 1. Melachim (Könige) 11,29f beschriebenen Ereignisses. Dort sagt Achijah, der Prophet von Schiloh, dem Jerobeam voraus, dass ein Teil des Königtums Schlomoh (Salomo) weggenommen und ihm übergeben werden würde; und dass zehn Stämme Israels (hier »Völker« genannt, siehe Bereschit 48,4) sich vom Hause Davids lossagen und seiner Herrschaft unterwerfen würden. Auch diese geistreiche Erklärung kann uns aber aus verschiedenen Gründen nicht befriedigen. »Der von Schiloh« würde im Hebräischen nicht שילה, sondern השילוני heißen; dann wandten sich die Stämme auch nicht dem Propheten von Schiloh, sondern Jerobeam zu; ferner wäre die Äußerung für Jehuda ganz unverständlich gewesen.

c) »Bis Schiloh kommt.« So kautet die Übersetzung der Authorised Version, die annimmt, dass Schiloh ein Personename oder ein messianischer Titel ist. Wenn diese Annahme sich auch auf die rabbinische Literatur stützen kann, so ist sie dort nur als homiletische Auslegung, ohne offizielle und bindende Autorität, aufzufassen. Trotzdem dieser Ausdruck nirgends in der Heiligen Schrift auf den Messias angewandt wird, nehmen christliche Theologen an, dass Schiloh ein Name für den Begründer des Christentums sei. In diesem Sinne ist »Bis Schiloh kommt« ein Lieblingstext christlicher Missionare, die damit ungebildete oder in der Heiligen Schrift nicht bewanderte Juden zu bekehren suchen. Beachtenswert ist dabei, dass diese Übersetzung erst aus dem Jahre 1534 stammt und sich zum ersten Mal in der deutschen Bibel von Sebastian Münster findet. Sie wird jetzt von allen denen, die sich näher mit dem Gegenstand befasst haben, verworfen.

Dasselbe Urteil gilt auch für die Übersetzung aller anderen christologischen Stellen, welche die Missionare Juden gegenüber gern zitieren. Daher geben jetzt christliche Gelehrte von Ruf allmählich solche tendenziösen Interpretationen auf. Psalm 2,12 wird beispielshalber in der Authorised Version als »Küsse den Sohn« übersetzt. In der Revised Version jedoch heißt es in der Randglosse: »Verehret in Lauterkeit«. Die letztere Übertragung stimmt mit den jüdischen Autoritäten überein.

Ähnlich geben in Verbindung mit Jeschajahu (Jesaja) 7,14 »eine Jungfrau wird empfangen«, christliche Gelehrte heute zu, dass »Jungfrau« eine Fehlübersetzung für das hebräische Wort almah in jenem Vers ist. Eine »Jungfrau« oder unverheiratete Frau heißt im Hebräischen betulah. Das in 7,14 vorkommende Wort almah bedeutet nicht mehr als eine junge, heiratsfähige Frau, ohne Rücksicht drauf, ob sie verheiratet ist oder nicht.

Die berühmteste Stelle dieser Art bildet das das dreiundfünfzigste Kapitel von Jesaja. Achtzehnhundert Jahre lang haben die christlichen Theologen leidenschaftlich an der Ansicht festgehalten, dass wir es hier mit einer prophetischen Vorwegnahme des Lebens ihres Glaubensstifters zu tun haben. Eine unparteiische Prüfung des Kapitels zeigt jedoch, dass der Prophet von einer vergangenen historischen Tatsache spricht und einen Menschen beschreibt, der bereits zu Tode gezüchtigt worden ist. Diese drei Beispiele können als typisch gelten. Die moderne Wissenschaft hat die Schriftbeweise erschüttert, welche die Missionare leichtgläubigen Juden gegenüber, bis zum heutigen Tagge, ins Treffen zu führen versucht haben.