Midrasch

Die Schöpfungsgeschichte im Midrasch

Die midraschische Auslegungsweise hat sich der Schöpfungsgeschichte mit besonderer Liebe angenommen, und die meisten haggadischen Midraschim widmen ihr viele Kapitel, in denen ihre wichtigsten Probleme behandelt w T erden: Zwei Dinge sind der Weltenschöpfung vorausgegangen: der göttliche Ehrenthron und die Tora. Die Tora war Gottes Bauplan, nach dem er die Welt errichtete.

Wie der Baumeister, ehe er ein Gebäude aufführt, einen Bauplan entwirft, in welchem die Gestaltung des Gebäudes vorausbestimmt ist, so hat Gott als seinen Weltenbauplan die Tora hergestellt. Sie ist die Welt des Geistes, deren Zielen und Zwecken entsprechend das Weltall erschaffen worden ist (Bereschit Rabba 1,1—4). Der Schriftvers: »Alles hat er gut gemacht zu seiner Zeit (Koh. 3, 11)« wird auf die Weltenschöpfung bezogen, die zur rechten Zeit erfolgt sei, nachdem Gott vorher schon viele andere Welten erschaffen, die er, weil sie ihm nicht gefielen, wieder vernichtet hatte, bis er diese schuf, von der er sagte: »siehe, sie ist gut« (Bereschit Rabba 9,2). Der Midrasch lehnt jede Beteiligung eines Mittelwesens bei der Schöpfung entschieden ab; Gott allein ist es, der die Welt geschaffen hat. Dem Plural »Elohim« im ersten Vers der Schöpfungsgeschichte, der die Deutung einer Vielheit von Schöpfern zuließe, wird das singulare »bara« entgegengesetzt; ebenso dient das Akkusativzeichen »et« vor den Wörtern »schamajim« und »erez« dazu, diese nicht als Subjekte und Schöpfer deuten zu lassen (das. 1,14). Der Midrasch bewahrt sich dadurch vor den Verirrungen der Gnostiker, die den Weltbildner (Demiurg) von dem höchsten Gott unterscheiden, und vor der Philoschen Annahme, dass ein Logos bei der Weltschöpfung mittätig war. Selbst Metatron, obgleich er als der höchste Engel dargestellt wird, wird andererseits jede schöpferische Tätigkeit abgesprochen. »Sogar als göttlichen Boten haben wir ihn abgelehnt«, antwortet ein Amoräer einem Sadduzäer, als dieser auf die göttlichen Qualitäten Metatrons hinweist und ihn darum göttlich verehrt wissen wollte (b. Sanh. 38 b.). Der Midrasch verwirft ferner die Annahme eines Urstoffes und hält streng an der Schöpfung aus dem »Nichts« (jesch meajin) fest. Als ein Philosoph dem R. Gamaliel II, unter Hinweis auf Gen. 1, 2, Gott als tüchtigen Bildner erklärte, der aus den dort genannten Urstoffen, tohu, bohu und choschech die Welt gebildet habe, entgegnete ihm dieser unter Verweisung auf Jes. 45,7, dass auch bei diesen als Urstoffen bezeichneten Dingen der Ausdruck des Schaffens gehraucht wird (das. 1, 9). Himmel und Erde waren die ersten Schöpfungs- werke. Gott vermischte zwei gegensätzliche Elemente, das Feuer und Wasser, miteinander und schuf daraus den Himmel (das. 4, 7); er nahm dann von dem Staub unter seinem Thron, warf ihn auf das Wasser, so entstand die Erde; aus den Klümpchen, die sich durch die Befeuchtung bildeten, wurden die Berge und Hügel (Schemot Rabba 13,1).

Das Licht des ersten Tages entstand dadurch, dass sich Gott in majestätischen Glanz hüllte und damit die Welt erleuchtete. Dieses Licht war von solch wunderbarem Glänze, dass es Gott zu gut war, die Bösen damit bescheinen zu lassen, er bewahrt es darum im Jenseits für die Frommen auf, und wird es dermaleinst wieder scheinen lassen. Das Schöpfungswerk des 2. Tages blieb unvollendet, darum fehlt bei ihm die Bezeichnung »es ist gut«, weil eine unvollendete Sache nicht gut genannt werden kann; sie wird beim 3. Tage für den Abschluss der Schöpfung des Vortages und den eigenen wiederholt (Bereschit Rabba 4, 6).

Beim Hervorbringen der Pflanzen am 3. Tage hatte die Erde nicht ganz dem Befehle Gottes entsprochen, der Bäume wollte, die an sich selbst genießbar wären, während die Erde nur Bäume mit genießbaren Früchten brachte, die selbst aber ungenießbar waren. Sie wurde dafür bei der Strafe, die Gott über das erste Menschenpaar und die Schlange verhängte, mitbestraft (das. 5, 9). Bei der Schöpfung der Himmelskörper am 4. Tage heißt es: »Und Gott schuf die beiden großen Lichter«, während gleich darauf von einem großen und einem kleinen Lichte die Rede ist. Der Midrasch löst diesen Widerspruch durch eine Legende. Der Mond kam klagend vor Gott, dass er zwei Herrscher mit gleicher Gewalt ausgerüstet habe, worauf ihm Gott erwiderte, dass er, um den Fehler wieder gut zu machen, auf seine Größe verzichten und sich der Sonne unterordnen solle; dafür gab ihm Gott die Sterne als Hofstaat zum Ersatz (Chullin 60 b). Unter den Wassertieren, die Gott am 5. Tage ins Leben rief, schuf er auch den Leviatan, dem er aber kein Paar mitgab, weil seine Vermehrung den Ruin der Welt herbeiführen musste (das. 7,4; Wajikra R. 13, 3).

Der 6. Tag brachte die Schöpfung des Menschen. Die Wichtigkeit dieses Werkes erblickt der Midrasch darin, dass sich Gott vorher darüber mit seinen Engeln beriet. Von diesen widersetzten sich manche dieser Schöpfung, während andere sie befürworteten, indem sie, je nach ihrer Einstellung, die Schwächen oder Tugenden des zu erschaffenden Menschen hervorhoben (das. 1—8). Nachdem Gott am ersten Tage Himmel und Erde erschaffen hatte, schuf er seine Werke in den folgenden Tagen abwechselnd für den Himmel und für die Erde.

Am 6. Tage, auf den kein weiterer Schöpfungstag mehr folgte, musste er, um zwischen Himmel und Erde keinen Neid aufkommen zu lassen, ein Geschöpf für beide erschaffen, das war der Mensch, der aus Geist und Körper zusammengesetzt ist (Tanchuma, ed. Buber 1, 15). Der Mensch wurde aber auch aus dem Grunde am letzten Tage erschaffen, damit er, wenn er sich überhebt, darauf hingewiesen werde, dass die kleinste Mücke ihm in der Schöpfung vorgezogen worden sei (Bereschit Rabba 8, 1). Die Verschiedenheit der Gottesnamen in den beiden Schöpfungsberichten der Bibel, die die Bibelkritik zur Annahme zweier Verfasser veranlasste, sucht der Midrasch durch eine Erklärung dieser Namen auszugleichen. Elohim ist nach seiner Auffassung der strenge Richter, der sich genau an das Gesetz hält, während HaSchem die Milde Gottes und seine Barmherzigkeit darstellt. Dass im 1. Bericht nur der Name Elohim vorkommt, bedeutet, dass Gott sich ursprünglich die Leitung der Welt nach Maßgabe des strengsten Rechtes gedacht hatte; da er aber auf die Schwäche des Menschen Rücksicht nehmen musste, verband er seine Milde mit dem Recht, um als barmherziger Gott dort begnadigen zu können, wo er als strenger Richter verurteilen musste (das. 12,15). Auch über das Paradies, welches Gott dem ersten Menschenpaar als Wohnsitz schuf, über den Sündenfall und dessen Bestrafung, weiß der Midrasch viel des Interessanten zu berichten.

Literatur

Gottsckalk, Agada-Sammlung; Bin Gorion, Sagen der Juden. I.

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Rabbiner Dr. Alexander Kristianpoller. Geboren 1884 in Lanowce, stammte aus einer Rabbinerfamilie, studierte in Wien und ging dann als Rabbiner nach Linz und Wien. Nach dem deutschen Einmarsch in Österreich wurde ihm ein Visum für die USA verwehrt. Am 18. September 1942 wurde er in Maly Trostinec bei Minsk umgebracht.