Bechukotaj

Zum Schabbat Bechukotaj

Jeder unter uns, dem schon einmal Unrecht widerfahren ist, kennt das Gefühl, dass man sich in seiner Hilflosigkeit wünscht, das geschehene Unrecht werde unmittelbar und sofort ge- oder bestraft. Auf der anderen Seite wäre es schön, so könnten wir dann meinen, wenn diejenigen, die sich an die Regeln halten, auch einen Gewinn davon haben und belohnt werden würden.

Das ist heute vielleicht noch weniger zu glauben als früher, in einer Welt in der wir die Möglichkeit haben, mehr über das zu erfahren, was „draußen“ in der Welt passiert und welche Unglücke, durch Menschenhand oder die Natur, geschehen können. Die Welt, die uns in der „Tochechah“ – der „Züchtigung“ die Bestandteil unserer Paraschah Bechukotaj ist (26,14 bis 41), begegnet, ist eine vollkommen andere. In diesem Abschnitt werden „Gerechte“ belohnt und können die Früchte ihrer Arbeit genießen, schlechte Menschen dagegen werden bestraft und für ihre Missetaten von G-tt selber zur Verantwortung gezogen. Die Flüche dabei sind so eindrücklich und bewegend, dass dieser Abschnitt in vielen Synagogen etwas leiser gesagt wird, als der Rest der Paraschah. Da heißt es unter anderem: „Ihr werdet vergeblich eure Saat ausbringen, denn eure Feinde werden den Genuss haben“ oder „ihr werdet Brot essen und nicht satt werden“ und „ich werde euch unter die Völker zerstreuen und das Schwert hinter euch ausziehen.“. Den verbleibenden Menschen im Lande wird gedroht, dass sie selbst Furcht vor einem rauschenden Blatt haben würden und in ständiger Angst leben müssten.

Den „Gehorsamen“ dagegen wird ein sehr fruchtbares Land in Aussicht gestellt und ein Leben in Frieden.

Diese Sicht auf die Dinge begegnet uns übrigens auch im Tischgebet, dem Birkat haMazon. Dort können wir es täglich sagen: „Ich war jung, nun bin ich alt, nie aber sah ich einen Gerechten verlassen und seine Nachkommen um Brot betteln.“.

Wir sehen heute aber, dass die Welt keinesfalls nach diesem Schema funktioniert und auch unsere Vorfahren wussten natürlich, dass die „Tochechah“ nicht der Welt entsprach, in der sie lebten. Das Buch Ijow legt eindrücklich Zeugnis davon ab, dass es durchaus Gerechte gibt, die Schmerzen erleiden und ertragen mussten. Zahlreiche Jüdinnen und Juden vor uns und unter uns haben einige der Erfahrungen, die hier als Flüche geschildert wurden, tatsächlich gemacht. Die umgekehrte Annahme, Menschen denen schlechtes geschieht, hätten schlecht gehandelt, können wir heute auch nicht ohne weiteres gelten lassen, wenngleich es auch rabbinische Kommentatoren gab, die überzeugt waren, dass diejenigen, welche die Gesetze der Torah übertreten, tatsächlich und unmittelbar bestraft werden würden. Rabbi Eleasar ben Schimon bringt genau dies in Wajikra Rabbah zum Ausdruck.

Keinesfalls sollten wir die Tochechah als Schilderung der Welt verstehen, in der wir leben, sondern vielmehr als die Vision einer idealen Welt im Sinne eines Versprechens: Eine Welt, in der nämlich die Gerechten belohnt und die „Bösen“, also diejenigen welche die Weisungen der Torah missachten, bestraft werden. Eine Welt in der Gerechtigkeit herrscht. Tehillim 96 bringt diese Hoffnung ebenfalls zum Ausdruck „Er kommt, ja Er kommt, die Erde zu richten, Er richtet die Welt mit Gerechtigkeit und die Völker in seiner Treue.“.

Der Abschnitt lehrt uns aber weit mehr über ein jüdisches Leben, er begründet in vielfältiger Weise, warum der Mensch selber handeln muss, selber aktiv werden soll.

In Vers 26,3 heißt es: „Wenn Ihr meinen Gesetzen nachgeht, meine Gebote beachtet und sie haltet“. Der Anfang der zweiten Hälfte der Paraschah meint das durchaus wörtlich. Wenn wir die Übersetzungen lesen, mag nämlich der Eindruck entstehen, „nachgehen“ oder „wandeln“ ist in einem metaphorischen Sinne umschrieben, im Sinne von „folgt ihnen“. Es heißt aber „im bechukotaj telechu“ „in den Gesetzen ‚gehen’“. Der Torahkommentar Or haChajim listet übrigens für die Interpretation des Wortes „gehen“ an dieser Stelle 42 Möglichkeiten auf. In unserem Kontext verstehen wir es an dieser Stelle in einem physischen Sinne, so wie G-tt Abraham im ersten Buch Mose, Kapitel 12 auffordert, zu „gehen“ „Lech Lechah“ spricht er zu Abraham. Auch an diesen Vers schließt sich übrigens ein Versprechen an, nämlich dass Abraham ein Segen sein soll, wenn er denn seine Heimat und das Haus seines Vaters verlässt und Abraham macht sich auf den Weg, physisch, um sich auch in einem geistigen Sinne befreien zu können von der Umgebung und der Gedankenwelt, in der er lebt. Der physische Akt ist also eng gebunden an den geistigen. Es ist kein Zufall, dass das jüdische Religionsgesetz, die „Halachah“ vom Wort für „gehen“ abgeleitet wird, denn die Halachah gießt die Vorschriften, denen wir nachfolgen sollen, in eine Form. Heute hat dieser Weg viele Ausgestaltungen und Facetten, so zahlreich wie die Interpretationen, die Halachah heute hat.

In unserer Paraschah „geht“ aber nicht nur der Mensch, sondern G-tt verspricht, wenn die Gebote eingehalten werden, unter uns zu ‚gehen’. „Ich werde unter euch ‚gehen’ – hithalchti betoch’chem“ heißt es in 26,12. Das muss nicht allein bedeuten, dass die Präsenz G-ttes „zwischen – betoch“ den Menschen zu spüren ist, wie Raschi das in seinem Kommentar zu dieser Textstelle beschreibt, sondern „betoch“ kann auch bedeuten, dass G-tt in jedem einzelnen Menschen ist, der seinen Wegen nachfolgt. Einen Vers später erinnert G-tt daran, dass er die „Stangen des Jochs“ zerbrochen hat, damit wir „aufrecht gehen“ können, dass wir die Freiheit haben, zu handeln. Wir können dem Weg, der Halachah, folgen, sind aber noch immer frei, es nicht zu tun, doch wer die anfangs genannte Gerechtigkeit selber erfahren will, muss auch aktiv dafür sorgen, dass sie erfahren werden kann. Der Aufbau einer gerechten Welt liegt demgemäß in unserer Hand. Beispiele dafür enthält die Paraschah genügend. So ermahnt uns die Torah beispielsweise, den Armen zu helfen, ohne sie zu erniedrigen „Lass ihn an deiner Seite leben.“ sagt G-tt in 25,35, schließe die Person nicht aus der Gemeinde/Gesellschaft aus, sondern lass sie aktives Mitglied der Gesellschaft bleiben.

In wenigen Wochen ist Schawuot, das Fest an dem Megillat Ruth gelesen wird. Eines der bekanntesten Zitate aus dem Buch Ruth lautet „Ki el ascher tilchi elech“ – Ruth spricht zu ihrer Schwiegermutter Naomi „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen“, so wie der Mensch in unserer Paraschah die Möglichkeit hat, zu G-tt zu sagen: Den Weg, den Du mir gezeigt hast und den Du gehst, den will auch ich gehen.