Führer der Unschlüssigen

More Newuchim – Buch 1 – Kapitel 31 bis 34

Einunddreißigstes Kapitel

In diesem Kapitel bespricht der Ver­fasser zum Teil die menschliche Vernunft. Er sagt, daß sie eine Grenze hat, die sie nicht überschreiten kann, und daß es Dinge gibt, die die Vernunft nicht erkennen kann und daß es Menschen gibt, die manche Wissenschaften verstehen, andere hingegen, die sie unge­achtet aller Mühe und allen Studiums nicht verstehen daß aber das Wissen im allgemeinen mangelhaft ist. Er sagt, daß es vier Dinge gibt, welche den Menschen hindern, die Wissenschaft zu erlangen, die Herrschsucht, die Tiefe der Geheimnisse der Wissenschaft die Unzulänglichkeit der Geisteskraft des Lernenden und seine Nachlässigkeit, sowie das Festhalten an üblen Gewohnheiten.

Es gibt Erkenntnisse, die der menschliche Geist vermöge seiner Fähigkeit und seiner Natur zu erreichen vermag; es gibt aber im Seienden auch Dinge und Zustände, die er seiner An­lage zufolge auf keine Weise und durch keine Ursache ·zu er­kennen imstande ist, zu deren Erkenntnis ihm vielmehr die Pforten verschlossen sind. Es gibt aber auch im Seienden Dinge, von denen er manche Umstände erkennt, wahrend er über andere in Unkenntnis bleibt. Wenn er aber etwas davon erkennt, so folgt nicht notwendig, dass er das Ding ganz er­kennen muss, wie ja auch die Sinne wahrnehmen können, ohne jedoch deshalb imstande zu sein, in jeder beliebigen Entfernung wahrzunehmen. Und ebenso verhält es sich mit den anderen Körperkräften, da ein Mann beispielsweise wohl zwei Zentner, nicht aber zehn zu tragen vermöchte. Die Überlegenheit ein­zelner Individuen dieser Art über die anderen ist hinsichtlich der Sinneswahrnehmungen und der übrigen Körperkräfte jeder­mann klar und einleuchtend. Doch sind Sinneswahrnehmungen und Körperkräfte begrenzt; man kann ihren Gegenstand nicht in jeder beliebigen Entfernung und Größe erfassen. Genau das­selbe gilt von den menschlichen Vernunfterkenntnissen. Auch hinsichtlich ihrer sind einige Individuen dieser Art den anderen sehr überlegen. Auch dies ist den Gelehrten wohlbekannt und einleuchtend, so dass der eine einen Gedanken von selbst, durch sein Studium allein, zutage fördern, ein anderer diesen näm­lichen Gedanken überhaupt niemals verstehen kann, weil sein Erkenntnisvermögen in keiner Weise zu ihm gelangen kann, selbst wenn man ihm diesen in allen Sprachen, durch allerhand Beispiele und durch eine lange Zeit begreiflich zu machen suchte, einfach infolge der Unfähigkeit seines Geistes, ihn zu verstehen. Aber auch diese Überlegenheit ist keine unbegrenzte. Viel­mehr gibt es für die menschliche Vernunft zweifellos eine Grenze, bei der sie haltmachen muss, so dass es Dinge gibt, deren Erkenntnis offenbar dem Menschen unmöglich ist, und die er gar nicht zu wissen begehrt, weil er wohl weiß, dass dies unmöglich ist, und dass es keinen Zugang gibt, zu ihnen zu gelangen, wie z. 8. unsere Unwissenheit über die Zahl der Ge­stirne, ob sie paarweise oder jedes abgesondert für sich existieren, oder unsere Unwissenheit über die Zahl der Tierarten, der Minerale, der Pflanzen u. dgl. Es gibt aber auch Dinge, die zu erkennen der Mensch ein mächtiges Verlangen hat, in­dem der unwiderstehliche Trieb, nach ihrer wahren Wesenheit zu forschen und ihnen auf den Grund zu kommen, bei jeder Nation und zu jeder Zeit in der Klasse der Denker anzutreffen ist. In Bezug auf solche Dinge bilden sich zahlreiche Ansichten, es entsteht eine Meinungsverschiedenheit unter den Denkern, es erheben sich Zweifel, weil die Vernunft an diesen Dingen hängt, nämlich eine Sehnsucht nach ihnen hat, und weil jeder einzelne einen Weg gefunden zu haben glaubt, auf dem er die wahre Wesenheit des Dinges erkennen kann, während es jedoch außerhalb der Kraft des menschlichen Geistes liegt, einen Be­weis dafür zu erbringen. Denn bei dem, dessen Wahrheit be­weismäßig erkannt worden ist, gibt es keine Meinungsverschie­denheit, keinen Widerspruch und keine Ablehnung, und nur ein Tor wird gegenüber dem, was bewiesen ist, eine abweichende Meinung haben, die man demonstrative Polemik nennt, wie. man z. B. Leute findet, die der Kugelgestalt der Erde oder der Kreisförmigkeit der Sphäre und ähnlichen Dingen widersprechen. Diesen aber sind solche Dinge unzugänglich. Am häufigsten entsteht eine solche Verwirrung in betreff der metaphysischen Dinge, seltener in der Naturwissenschaft und ist in der Mathe­matik überhaupt nicht vorhanden.

Alexander aus Aphrodisias1Genannt »der Exeget«, ein Kommentator der Werke von Aristoteles, lebte zu Aphrodisias in Karien zwischen dem 2.-3. Jhdt. allg. Zeitrechnung. Seinen Kommentar zu Arist. Metaph. hat Bonitz B. 1847, seine Untersuchungen über Natur und Moral Spengel 1842 herausgegeben. Seine Werke wurden frühzeitig ins Arabische übersetzt. In seinem Brief an Ibn Tibbon empfiehlt diesem der Verfasser, die Kommentare Alexanders eingehend zu studieren. nimmt für die Meinungsver­schiedenheiten in gewissen Fragen dreierlei Ursachen an. Die eine ist die Herrschsucht und die Rechthaberei, die den Men­schen verhindert, die Wahrheit, so wie sie ist, zu erkennen. Die zweite ist die Subtilität des zu erkennenden Dinges an sich, seine Tiefe und Schwerbegreiflichkeit, die dritte aber, auch da, wo die Erkenntnis eines Dinges möglich ist, der Unverstand und die Unzulänglichkeit der Geisteskraft dessen, der es zu erkennen wünscht. Soweit Alexander. Für unsere Zeit gibt es jedoch eine vierte Ursache, die er nicht erwähnt hat, weil man sie damals nicht kannte, und zwar die Angewöhnung2Von der übrigens auch Aristoteles spricht (Metaph. II, 3), wo er sagt, dass infolge der Macht der Gewohnheit auch die Gebildeten an die Mythen glauben. Unser Verfasser spricht hier von der Gewohnheit derjenigen, die an eine offenbarte Religion glauben, die Worte der H. Schrift wörtlich aufzufassen. und Erziehung. Denn es liegt in der Natur der Menschen, das zu lieben und dem sich zuzuneigen, woran sie sich gewöhnt haben. So kannst du sehen, dass die Dorfleute gemäß ihrer Art, nur ein wenig Kopf und Leib zu baden, den Genüssen zu entsagen und anstrengend für die Ernährung zu arbeiten, die Städte verschmähen und an deren Genüssen keinen Gefallen finden, sondern vielmehr ihre gewohnten üblen Zustände den ungewohnten angenehmen vorziehen, so dass sie an dem Wohnen in Palästen, an seidenen Gewändern keine Befriedigung haben, und sich an Bädern, feinem Öl und Wohlgerüchen nicht er­götzen. Ebenso ergeht es den Menschen auch hinsichtlich der Überzeugungen, indem er diejenigen liebt und festhält, die ihm geläufig sind und bei denen er aufgewachsen ist, und die anderen verabscheut. Aus dieser Ursache sträubt sich der Mensch, die Wahrheit zu erkennen, und bleibt seinen gewohnten Vorstellun­gen zugeneigt, wie dies bei der Menge der Fall ist hinsichtlich der körperlichen Vorstellung von Gott und zahlreichen meta­physischen Fragen, wie wir dartun wollen. Alles dies geschieht infolge der anhaltenden Gewöhnung an die heiligen Schriften, mit denen vertraut zu sein und an die zu glauben zur zweiten Natur geworden ist, deren Wortlaut allerdings auf die Körper­lichkeit Gottes und auf Einbildungen hinzudeuten scheint, denen keine Wahrheit zugrunde liegt, die jedoch nur als Bilder und Parabeln gemeint sind für Zwecke, die ich anzuführen ge­denke.

Glaube aber nicht, dass das, was ich über die Unzulänglich­keit des menschlichen Geistes gesagt habe, sowie darüber, dass ihm eine Schranke gezogen ist, bei der er haltmachen muss, ein Ausspruch ist, der nur im Sinne der Schrift gesprochen wurde; vielmehr haben auch schon die Philosophen diesen Gedanken ausgesprochen und ihn wirklich erkannt, ohne dabei zu irgend einer Ansicht oder Mutmaßung hinzuneigen; er ist vielmehr eine Wahrheit, an welcher niemand zweifeln kann, ausgenommen derjenige, der in Unkenntnis des bereits Be­wiesenen dahinlebt. Dieses Kapitel aber haben wir in der Tat als Grundlegung für die folgenden vorangestellt.

Zweiunddreißigstes Kapitel

Der Verfasser setzt in diesem Kapitel auseinander, dass bei den Vernunfterkenntnissen ein Zustand der Ohnmacht eintritt und führt die Bedeutung des Schriftwortes an: »Hast du Honig gefunden, so iss davon, bis du genug hast«.

Wisse, lieber Leser, dass bei den Vernunfterkenntnissen, weil sie an der Materie haften, manchmal dem Ähnliches sich er­eignet, was bei den Sinneswahrnehmungen zu geschehen pflegt. Wenn du nämlich etwas ins Auge fassest, wirst du das erkennen, was du mit deiner Sehkraft wahrzunehmen imstande bist. Strengst du aber deine Augen durch sehr genaues Betrachten an oder bemühst dich, auf eine große Entfernung hin zu be­trachten, auf eine Entfernung, die größer ist, als dein Ver­mögen zu betrachten fähig ist, oder betrachtest du eine sehr kleine Schrift oder eine sehr feine Gravierung, die du nicht wahrnehmen kannst, du zwingst aber dennoch deine Sehkraft, sie nach ihrer wahren Beschaffenheit zu erkennen, so wird deine Sehkraft nicht nur in dem versagen, was du mit deinem Auge nicht bewältigen kannst, sondern auch in dem, was du wahr­zunehmen vermagst. Deine Sehkraft wird ermatten, so dass du nicht einmal das erkennen kannst, was du vor der außer­ordentlichen Anstrengung des Schauens sehen konntest. Und in diesem Zustande wird sich jeder, der irgend eine Wissen­schaft studiert, hinsichtlich des Kombinationsvermögens be­finden, denn, wenn er lange rechnet und seine Einbildungskraft anstrengt, wird er unruhig und sieht nicht einmal das ein, was er sonst immer eingesehen hat. Denn die Beschaffenheit aller Körperkräfte ist in dieser Beziehung überall die gleiche.

Eben dieses wird dir aber auch bei den Vernunfterkennt­nissen begegnen. Wenn du über irgend eine Frage im Zweifel bist und still hältst und zwingst dich nicht zu glauben, dass etwas Unerwiesenes bewiesen sei, und du versuchst nicht, etwas zu verwerfen, oder als falsch zu erklären, wovon das Gegenteil nicht bewiesen ist, und du trachtest nicht, das zu erkennen, was du nicht zu erkennen vermagst, so hast du da­mit bereits die menschliche Vollkommenheit erreicht und be­findest dich auf der Geistesstufe des Rabbi Akiba, von dem gesagt wird, dass er unversehrt in den Garten eintrat und unversehrt wieder herauskam, indem er über diese metaphysischen Fragen forschte. Wenn du dich aber bemühst, mehr zu erkennen, als dein Erkenntnisvermögen zulässt, oder du versuchst, Dinge zu negieren, deren Gegenteil nicht bewiesen ist, oder die auch nur entfernt möglich sind, dann wirst du zur Stufe Elisa Achers gelangen und nicht nur nicht vollkommen, sondern noch mangel­hafter werden als alle Mangelhaften, und dann wird es dir widerfahren, dass die Fantasie Gewalt über dich bekommt und dass du dich den Lastern, den hässlichen und schlechten Charaktereigenschaften zuneigst, weil die Vernunft gestört und ihr Licht ausgelöscht ist, wie es oft den Kranken geschieht, indem sie, wenn die Sehkraft schwach ist, viele Arten trüge­rischer Fantasien wahrnehmen, oder wie es denen geschieht, die unvorsichtiger Weise leuchtende oder feine Dinge betrach­ten. In diesem Sinne ist gesagt worden: »Wenn du Honig findest, iss davon, bis du genug hast, damit du seiner nicht überdrüssig werdest und ihn ausspeiest« [Sprüche 25, 16]. Diesen Satz hat man als Gleichnis auch auf Elisa Acher angewandt. Es ist dies aber ein wunderbares Gleichnis, indem die Wissen­schaft, wie wir sagten, mit einer Speise verglichen wird, und zwar führt es die angenehmste aller Speisen an, den Honig, der die Eigenschaft hat, dass er, wenn man zuviel von ihm ge­nießt, den Magen reizt, so dass man erbrechen muss, gleichsam als wollte dieses Gleichnis sagen, dass es die Natur dieser Er­kenntnis sei, ungeachtet ihrer Größe und Erhabenheit, ja un­geachtet der Vollkommenheit, die sie in sich trägt, sich in Mangelhaftigkeit zu verwandeln, wenn man in ihr nicht an der richtigen Grenze stehen bleibt, oder nicht mit Behutsam­keit in ihr vorwärts schreitet. Diesem ergeht es ebenso wie dem, der Honig isst. Isst er ihn mit Maß, so nährt er ihn und schmeckt ihm gut, isst er aber zuviel, so verliert er alles. Darum sagt die Tora nicht: »dass du seiner nicht satt werdest lind einen Widerwillen dagegen bekommest«, sondern »und ihn ausspeiest«.

Und auf diesen Gedanken deutet auch der Spruch: »Viel Honig zu essen ist nicht zuträglich« [ebenda 25, 27] und der Spruch: »Trachte nicht danach, im Übermaß weise zu werden, warum willst du dich selbst zerstören?« [Predig. 7, 16]; ebenso deutet darauf der Spruch: »Hüte deinen Fuß, wenn du in das Haus Gottes gehst« [ebenda 4, 17]. Und auf diesen Gedanken deutet auch David mit den Worten: »Ich bin nicht in Dingen gewandelt, die mir zu groß und zu wunderbar waren« [Ps. 131, 1]. Diesen Gedanken hatten auch unsere Lehrer im Sinne bei ihrem Ausspruch: »Forsche nicht in dem, was dir zu wunderbar ist, grüble nicht über das dir Verborgene; was zu wissen dir ge­stattet ist, das betrachte, und befasse dich nicht mit Geheim­nissen, d. h. lass deine Vernunft nicht schrankenlos walten, ausgenommen in dem, was der Mensch zu begreifen vermag; hingegen ist die Beschäftigung mit dem Dinge, dessen Erkennt­nis nicht in der Natur des Menschen liegt, wie wir gezeigt haben, sehr schädlich. Dies meinten unsere Weisen auch mit ihrem Ausspruche »Wer folgende vier Dinge betrachtet« usw., wo sie am Schlusse dieses Satzes sagen: »und wer nicht Rück­sicht nimmt auf die Ehre seines Schöpfers«. Es ist dies ein Hinweis auf das, was wir erläutert haben, nämlich dass der Mensch nicht allzu voreilig irreale Gebilde der Einbildungskraft zum Gegenstand seiner Forschung mache und dass er, wenn ihm unerwartet Zweifel aufsteigen oder er für den Gegenstand seines Forschens keinen Beweis findet, er diesen Beweis nicht aufgebe, verwerfe oder für falsch zu erklären versuche, sondern mit Be­sonnenheit und mit Rücksichtnahme auf die Ehre seines Schöp­fers von dieser Forschung abstehe und darin haltmache. Und dies ist ein Gegenstand, der bereits ganz einleuchtet. Es war aber keineswegs die Absicht, welche die Propheten und die Weisen bei diesen Schriftworten und Aussprüchen hatten, die Pforte der wissenschaftlichen Forschung gänzlich zu ver­sperren, oder die Vernunft an der Erkenntnis dessen zu hin­dern, dessen Kenntnis möglich ist, wie es die Unwissenden und Lässigen meinen, denen es gefällt, ihre Mangelhaftigkeit und Einfalt für Vollkommenheit und Weisheit, die Vollkommenheit und Weisheit anderer aber für Mangelhaftigkeit und Über­tretung des Gesetzes zu halten, »Finsternis zu Licht und Licht zu Finsternis zu machen« [Jes. 5, 20]. Vielmehr wollten sie also dartun, dass die menschliche Vernunft eine Grenze hat, über die sie nicht hinausgehen kann.

Du darfst aber die Worte, die in diesem und in anderen Kapiteln dieses Buches über das Denken gesprochen wurden, nicht allzu wörtlich nehmen, denn hier hatten wir nicht die Absicht, von dem wirklichen Wesen der Vernunft zu sprechen, sondern wir wollten dich nur zu dem Gedanken hinleiten, den wir im Sinne hatten, während die genaue Untersuchung dieses Gegenstandes die Aufgabe anderer Kapitel sein wird.

Dreiunddreißigstes Kapitel

Der Verfasser legt darin dar, wie man die Reihenfolge der Studien festsetzen und wie man die Be­griffe im Geiste derjenigen, die oberflächlich studieren, konso­lidieren muss. Er gibt den Grund an, warum die Lehrer in Rätseln sprechen und warum diese Lehren „Geheimnisse“ genannt werden.

Es ist sehr gefährlich, das Studium mit dieser Wissenschaft, nämlich mit der Metaphysik, zu beginnen. Ebenso ist es schäd­lich, vor Anfängern die Bedeutungen der prophetischen Gleich­nisse zu erklären und auf den allegorischen Sinn der Wörter, die in den Schilderungen der Propheten üblich und deren die Prophetenbücher voll sind, aufmerksam zu machen. Vielmehr muss man Kinder nach dem Maße ihres Erkenntnisvermögens unterrichten und Menschen von geringer Einsicht ihrer Fassungs­kraft gemäß beschwichtigen, denjenigen aber, der sich im Denken tüchtig erweist und für diese oberste Stufe, nämlich für die demonstrative Forschung und für die vernunft­gemäßen wahren Bedeutungen vorbereitet, soll man nach und nach emporsteigen lassen, bis er, sei es durch die An­regungen, die ihm ein anderer gibt, sei es durch sich selbst, zu seiner Vervollkommnung gelangt. Allerdings wird, wenn er mit der Metaphysik anfängt, sein Glaube nicht nur verwirrt, sondern gänzlich zerstört werden, und man kann meiner Meinung nach einen solchen mit dem vergleichen, der einen Säugling mit Weizenbrot, Fleisch und Wein ernähren wollte; denn damit würde er ihn zweifellos töten, nicht weil diese Nahrungsmittel schlecht oder der Natur des Menschen nicht angemessen sind, sondern weil der, der sie empfängt, zu schwach ist, sie zu ver­dauen, ehe er dahin gelangt, von ihnen Nutzen zu ziehen. Ebenso haben die Propheten und Lehrer diese Wahrheiten nicht deshalb geheim gehalten und in Bildern von ihnen ge­sprochen, und nicht deshalb gebrauchen alle Gelehrten mannig­fache Auskunftsmittel, um sie ohne Kommentar zu lehren, weil in ihnen irgend etwas Böses verborgen ist oder weil sie den Fundamentallehren der Religion widerstreiten – so glauben nämlich die Einfältigen, die sich einbilden, auf der Stufe der Forschung angelangt zu sein -sie haben sie vielmehr ge­heim gehalten, weil der Geist derjenigen, die sie als Anfänger lernen, sie aufzunehmen unzulänglich ist, und nur Weniges davon offenbart, was der Tüchtige erlernen mag. Und deshalb werden sie, wie wir dargelegt haben, Geheimlehren und Geheimnisse der Tora genannt. Dies ist der Grund, weshalb, wie wir anführten, die Tora in der Sprache der Menschen redet, damit sie für Anfänger geeignet sei und damit man Frauen und Kinder, ja das ganze Volk darin unterrichte, welche die Worte nach ihrem wahren Sinne zu verstehen nicht fähig sind. Und deshalb begnügt sich die Tora bei diesen mit der Überlieferung aller wahren Dinge, von denen sie will, dass sie geglaubt werden und mit jeder Darstellung, die das Denken auf das Dasein dieses Dinges hinleitet, ohne aber sein Wesen und sein Was zu offenbaren. Erst wenn jemand tüchtig geworden ist, werden ihm die Geheimnisse der Tora entweder von einem anderen überliefert, oder er gelangt von selbst zu ihnen, wenn ein Teil derselben ihn dazu anregt, sich mit den übrigen zu befassen, und er kann zu jener Stufe gelangen, wo er den Glauben an diese Wahrheiten nach den Methoden des wahren Glaubens besitzt, entweder durch Be­weise bei dem, was bewiesen werden kann, oder wo nur diese möglich sind, durch starke Argumente. Dann wird er sich diese Dinge, die ihm bisher Gleichnisse und Bilder waren, nach ihrem wahren Sinne vorstellen und ihre wahre Wesenheit ver­stehen können.

Schon mehrmals haben wir in diesem Buch den Ausspruch der Weisen erwähnt, dass man die Merkawah (Metaphysik) nicht einmal einem einzelnen Jünger vortragen dürfe, es wäre denn, dass er ein Gelehrter ist und vermöge seiner Kenntnisse einsieht, dann dürfe man sie ihm in den Hauptpunkten über­liefern. Und deshalb darf man mit der Unterweisung eines Menschen in dieser Disziplin nur nach dem Maße seines Er­kenntnisvermögens beginnen, und zwar nur unter diesen zwei Bedingungen, erstens dass er ein Gelehrter sei, nämlich dass er diejenigen Wissenschaften beherrsche, aus denen die Vor­begriffe der Forschung entnommen werden, zweitens dass er ein Mensch von Einsicht und Klugheit sei, hellsehenden Geistes von Natur, der bei geringen Andeutungen die Absicht merkt. Dies ist die Bedeutung des Satzes »der vermöge seiner Kennt­nisse einsieht«. Und nun will ich die Ursachen darlegen, die dem Volke das Studium nach den Methoden der wahren For­schung unmöglich machen, und die es verbieten, dass man ihm gleich anfangs das wahre Wesen der Dinge darstelle, wie sie an sich sind. Dass dies mit Recht und notwendigerweise so ist und nicht anders sein kann, will ich im folgenden Kapitel vor­bringen und erörtern.

Vierunddreißigstes Kapitel

Der Verfasser erläutert darin die fünf Ursachen, die es unmöglich machen, das Studium mit der Metaphysik zu beginnen.

Es sind fünf Ursachen, die es verbieten, den Unterricht mit der Metaphysik zu beginnen und die Laien. Oder das aufzuklären und ihnen das zu zeigen, worauf man sie eigentlich aufmerksam machen müsste.

Erstens ist der Gegenstand an sich sehr schwierig und er­fordert außergewöhnlichen Scharfsinn und Tiefe. Daher sagt der Tanach: »Ferne ist das, was ist, und sehr tief ver­borgen, wer kann es finden?« [Pred. 7, 2-4]; und es wird gesagt: »Die Wissenschaft, wo wird sie gefunden ?« [Ijob 28, 12]. Es ist daher nicht zulässig, dass man im Unterrichte mit dem Schwierigen und Schwerverständlichen beginne. Eines der Bilder, die in unserer Tora offenbart sind, ist die Ähnlichkeit der Wissenschaft mit dem Wasser, welches unsere Weisen auf mannigfache Art erklären, unter anderem auch damit, dass der, der schwimmen kann, Perlen aus dem Meeres­grund zu holen vermag, während derjenige, der es nicht kann, untergeht. Daher soll sich auf das Schwimmen nur derjenige einlassen, der es erlernt und geübt hat.

Zweitens. Die anfängliche Mangelhaftigkeit der Erkenntnis­tätigkeit aller Menschen. Dem Menschen wurde nämlich seine letzte Vollkommenheit nicht schon von Anfang an verliehen, sondern sie ist nur als Vermögen in ihm vorhanden, und er ermangelt dieser Fähigkeit im Anfange seines Daseins in Wirk­lichkeit, wie die Tora sagt: »Ein wilder Waldesel ist der Mensch bei seiner Geburt« [Ijob 11, 12]. Auch muss bei keinem Menschen eine Eigenschaft, die er als Vermögen be­sitzt, notwendig auch zu einer wirklichen werden; es ist viel­mehr möglich, dass er in seiner Mangelhaftigkeit beharrt, sei es weil andere Umstände ihn hindern, sei es weil er zu wenig gelernt hat, wodurch er dieses Vermögen in Wirklichkeit ver­wandeln könnte. Darum sagt die Tora ausdrücklich:

»Nicht viele werden weise« [ebenda 32, 9], und unsere Weisen sagen: Ich sah Menschen von hohem Rang, es waren aber ihrer wenige«. Denn die Hindernisse der Vervollkommnung sind zahlreich und die störenden Umstände mannigfaltig. Und wann findet sich die vollkommene Vorbereitung und Muße, das unerlässlich Notwendige zu erlernen, ehe die in diesem Individuum als Vermögen vorhandene Tüchtigkeit zur wirk­lichen werden kann?

Drittens: Die lange Dauer der Vorstudien. Es liegt ja in der Natur des Menschen, dass er das Verlangen hat, nach dem Ziele zu streben. Oft aber wird ihm dies beschwerlich, und dann unterlässt er die Vorstudien. Wenn aber jemand ohne diese vorausgehenden Studien zu irgendeinem Endziele gelangen könnte, dann wären dies ja keine Vorstudien, sondern absolut störende und überflüssige Beschäftigungen. Weckst du aber irgendeinen Menschen, selbst den unbesonnensten und dümm­sten, wie man einen Schlafenden weckt, und sprichst du zu ihm: Sehnst du dich nicht nach der Kenntnis der Himmel, ihrer Zahl und Beschaffenheit?

Nach der Kenntnis dessen, was darinnen ist?

Wünschtest du nicht zu wissen, was die Engel sind?

Wie die ganze Welt erschaffen worden und welcher gemäß der Anordnung des einen ihrer Teile dem anderen gegen­über ihr Zweck ist?

Was die Seele ist?

Wie sie im Leibe entstanden, ob sie sich vom Leibe trennen kann, und wie, wodurch und wozu dies geschehe?

Und andere Fragen dieser Art, so wird er ohne Zweifel ja sagen, denn er besitzt ein natürliches Verlangen, diese Dinge nach ihrem wahren Wesen zu kennen, aber er will dieses Verlangen stillen und zur Kenntnis aller dieser Dinge schon dadurch gelangen, dass du ihm darüber ein oder zwei Worte sagst. Nötigst du ihn jedoch, seine Ge­schäfte auch nur eine Woche lang zu versäumen, bis er dies alles verstanden haben werde, so wird er es nicht tun, sondern sich mit trügerischen Fantasien begnügen, mit denen er sich zufrieden gibt, und wird es verschmähen, wenn man ihm sagt, das sei ein Ding, welches vieler Vorstudien und langer Zeit zur Untersuchung bedürfe.

Du aber weißt, dass diese Dinge eins mit dem anderen ver­knüpft sind, dass es nämlich nichts gibt als Gott und alle seine Werke, d. h. alles, was außer Gott im Dasein inbegriffen ist, dass es also keinen Weg gibt, Gott zu erkennen, als durch seine Werke, und dass es diese sind, die sein Dasein beweisen und das, was wir von Gott glauben, nämlich von ihm bejahen oder verneinen müssen. Somit ist es unerlässlich, hinsichtlich aller seienden Dinge zu untersuchen, wie sie an sich sind, damit wir von jeder ihrer Arten wahre und beweiskräftige Vorbegriff gewinnen, die uns bei unseren metaphysischen Forschungen förderlich sein sollen. Und wie viele Vorbegriffe gewinnen wir aus der Natur der Zahlen und aus den Eigentümlichkeiten der geometrischen Formen, die uns auf manche Begriffe hin­weisen, die wir von Gott nicht aussagen dürfen, und deren Verneinung uns vieles andere lehrt. Was nun die Astronomie der Sphären und die Naturwissenschaft betrifft, bist du, wie ich glaube, nicht im Zweifel, dass diese notwendige Dinge ent­halten, um zu erkennen, wie das Verhältnis der Welt zur göttlichen Weltregierung der Wahrheit gemäß ist, nicht aber nach fantastischen Vorstellungen. Außerdem gibt es zahlreiche philosophische Begriffe, die, ohne als Vorkenntnisse zur Me­taphysik verwendet zu werden, doch das Denken üben und zur Beweisführung und zur Erkenntnis der wahren Beschaffen­heit derjenigen Dinge befähigen, die für den Beweis wesentlich sind und die Fehler beseitigen, die in den Ansichten vieler Denker sich vorfinden, weil sie in Zweifel sind, ob diese Dinge wesentlich oder zufällig sind, wie auch die falschen Mei­nungen, die sich daraus ergeben, wozu noch kommt, dass man durch sie die Dinge nach ihrem wahren Wesen, wie sie an sich sind, begreift, und wenn diese Dinge auch nicht als Grundlage der Metaphysik zu betrachten sind, so bringen sie doch un­fehlbar anderen Nutzen in Dingen, die dieser Wissenschaft nahe stehen. Deshalb ist es notwendig, ja für jeden, der die menschliche Vollkommenheit erreichen will, unerläßlich, zuerst die Logik, dann der Reihe nach die mathematischen Wissen­schaften, dann die Naturwissenschaft und zuletzt die Meta­physik zu studieren. Wir bemerken ja viele, deren Geist schon bei einem Teile dieser Wissenschaften ermüdet und, falls auch der Geist nicht versagte, kann sie der Tod in ihrem Studium unter­brechen, während sie noch mitten in den vorbereitenden Hilfs­wissenschaften sind. Wäre uns also nicht durch die Über­lieferung auf irgendeine Weise Kenntnis verliehen, und hätte man uns nicht durch Bilder über die Sache unterwiesen, wären wir also allein nur darauf angewiesen, dass wir zur richtigen Vorstellung durch Wesensbegriffe gelangen, und dass wir das, was wir glauben wollen, nur auf Grund von Beweisen glauben, was ja ohne lange Vorbereitung nicht möglich ist, so müsste dies dahin führen, dass die meisten Menschen stürben, ohne zu wissen, ob es für die Welt einen Gott gibt oder nicht, um so weniger aber, ob ihm eine Regierung zugesprochen oder eine Mangelhaftigkeit ihm abgesprochen werden muss, und diesem Schicksal würden nur sehr wenige Menschen entgehen, »einer in einer Stadt oder zwei in einer Familie« [Jirm. 3, 14]. Die anderen aber, die Übriggebliebenen, die »Gott ruft« [Joel 3, 5], können die Tüchtigkeit, die ja das Endziel ist, nur nach ent­sprechender Vorbereitung erreichen. Schon Salomo hat er­klärt, dass die Notwendigkeit der Vorbereitung unumgänglich und dass es unmöglich sei, ohne sie zur wahren Wissenschaft zu gelangen, und in diesem Sinne sagt er: »Wenn das Eisen stumpf ist und die Oberfläche nicht geschliffen, wie sollte es dann Heere überwinden? Um so vorzüglicher ist es, das Wissen durch Vorbereitung zu erwerben« [Predig. 10, 10]. Ferner: »Ver­nimm den Rat und nimm Zurechtweisung an, damit du in Zu­kunft weise werdest!« [Spruch. 19, 20].

Es gibt aber noch einen anderen Grund, der uns nötigt, die vorbereitenden Wissenschaften zu erlernen und zu kennen, und zwar ist es folgender: Beim Untersuchen drängen sich dem Menschen bald zahlreiche Zweifel auf, er sieht auch bald die Einwände ein, nämlich die Widerlegung irgendeines Satzes, denn dies ist so, wie wenn man ein Gebäude einreißt. Allein die Bekräftigung der Sätze und die Lösung der Zweifel gelingt allerdings nur durch viele Voraussetzungen, die aus diesen vor­bereitenden Wissenschaften gewonnen werden. Derjenige nun, der ohne Vorbereitung studiert, gleicht einem Menschen, der zu Fuß geht, um an einen Ort zu gelangen, unterwegs aber in eine tiefe Grube fällt, aus der hinauszukommen er kein Aus­kunftsmittel hat, so dass er umkommen muss. Hätte er aber das Gehen unterlassen und wäre er an seinem Orte geblieben, so wäre es ihm dienlicher gewesen. Vortrefflich hat schon Salomo in seinen bilderreichen Sprüchen die Zustände der Trägen und die Trägheit geschildert, und alles dies sind Gleich­nisse für die Trägheit in dem Trachten nach Wissenschaft. Er spricht von dem Begehren, nämlich vom Begehren desjenigen, der bloß die Endziele zu kennen wünscht, aber nicht beflissen ist, die Vorkenntnisse zu besitzen, die zu diesen Endzielen führen, der vielmehr bloß begehrt. Von diesem sagt er: »Die Begierde des Trägen bereitet ihm den Tod, denn seine Hände wollen nicht tätig sein. Den ganzen Tag hat er nur Gelüste; der Gerechte aber gibt und spart nicht« [Sprüch. 21, 25]. Er meint damit, seine Begierde bringe ihm deshalb den Tod, weil er nicht danach trachtet, diese Begierde zu befriedigen; viel­mehr geschieht nichts anderes, als dass darum seine Begierde wächst, und er auf etwas hofft, das zu erreichen er kein Mittel hat. Hätte er aber diese Begierde fahren lassen, wäre es für ihn besser gewesen. Achte aber darauf, wie das Ende dieses Bildes den Anfang erläutert, indem es sagt: »Aber der Gerechte gibt und spart nicht«. Der Gerechte ist ja kein Gegensatz vom Trägen außer in dem Sinne, wie wir es dargelegt haben, nämlich dass er meint, der Gerechte unter den Menschen sei derjenige, der jedem Ding sein bestimmtes Maß gibt, d. h. seine be­stimmte Zeit, um es zu erforschen, und ihm nichts von seiner Zeit um eines anderen Dinges willen vorenthält. Es ist, als hätte er sagen wollen: Der Gerechte widmet seine Tage der Wissenschaft und spart damit nicht, ähnlich seinem Aus­spruche: »Gib nicht den Weibern dein Vermögen« [Sprüch. 31, 3] Und sehr viele Gelehrte, nämlich solche, denen man Gelehrsam­keit nachrühmt, sind von dieser Krankheit geplagt, nämlich von dem Streben nach dem Endziel und dem Reden darüber, ohne die grundlegenden Vorstudien gemacht zu haben. Manche von ihnen aber werden durch Unwissenheit und Herrschsucht verleitet, diese Vorkenntnisse, die sie nur flüchtig erlernt und nachlässig gesucht haben, herabzuwürdigen, und bemühen sich zu zeigen, dass sie schädlich oder unnütz sind. Aber die Wahr­heit ist bei eingehender Erwägung offenbar.

Viertens: Die natürlichen Anlagen. Es ist nämlich voll­kommen einleuchtend und erwiesen, dass die Vorzüge des Charakters die Grundlagen für die geistigen Vorzuge sind, und dass nur ein Mensch von wohlgebildetem Charakter, der ruhig und besonnen ist, die wahrhaften geistigen Vorzüge, nämlich die vollkommenen Gedanken, besitzen kann. Es gibt aber Menschen, die vom Beginne ihrer Zeugung an ein derart gemischtes Temperament haben, dass bei einem solchen absolut keine Tüchtigkeit in irgendeinem Sinne möglich ist, wie z. B. bei demjenigen, der von Natur sehr heißblütig und heftig ist, denn ein solcher kann dem Jähzorn nicht entgehen, auch wenn er sich noch so sehr zu beherrschen sucht; oder bei demjenigen, dessen Genitalien bei festem Baue warm und feucht gemischt sind und dessen Hoden sehr viel Samen er­zeugen, denn bei diesem ist es, auch wenn er sich mit äußerster Strenge zu beherrschen sucht, dennoch sehr unwahrscheinlich, dass er die Sünde scheuen werde. Ebenso wirst du unter den Menschen solche finden, die sich sehr laut und lärmend ge­haben und deren Bewegungen sehr heftig und ungeordnet sind, was auf einen Mangel ihrer Zusammensetzung und auf eine schlechte Mischung hinweist, die man nicht näher er­örtern kann. Diese Leute werden nie eine vollkommene Einsicht erlangen, und es ist eine absolute Torheit, die derjenige begeht, der sich 1 mit ihnen in diesem Studium be­müht; denn diese Wissenschaft ist, wie du weißt, nicht mit der Arzneikunde oder der Geometrie zu vergleichen, und nicht jeder ist, und zwar aus den Gesichtspunkten, die wir schon angeführt haben, dazu befähigt. Sie kann ohne die voraus­gehende Vorbereitung des Charakters nicht erworben werden, nicht, ehe der Mensch zur vollendeten Rechtschaffenheit und Tugend gelangt ist; »denn der sittlich Entartete ist dem Herrn ein Gräuel, und nur mit dem Rechtschaffenen ist sein vertrauter Umgang« [Spr. 3, 32]. Deshalb haben unsere Weisen es verboten, Jünglinge darin zu unterrichten, weil es diesen infolge ihrer Heißblütigkeit und ihres durch das Feuer des körperlichen Wachstums getrübten Denkens unmöglich ist, sie aufzunehmen, ehe dieses verwirrende Feuer erloschen ist und sie die Besonnenheit und Bedächtigkeit erlangt haben, ehe ihr Sinn von dem Temperament gebeugt und gedemütigt ist. Dann erst werden sie von selbst zu jener Stufe der Gottes­erkenntnis emporsteigen, nämlich zur Metaphysik, die Ma’ase Merkawah genannt wird. In diesem Sinne sagt die Tora: »Der Herr ist denen nahe, die gebrochenen Herzens sind« [Ps. 34, 19] und ferner: In Höhe und Heiligkeit wohne ich, aber mit den Zerknirschten und Demütigen« [Jes. 57, 1s]. Deshalb sagen unsere Lehrer im Talmud zu dem Satze »Man überliefere ihnen die Hauptsachen« noch ferner, »dass man auch diese nur einem Gerichtsvorstande überliefern dürfe und diesem nur dann, wenn sein Herz in ihm besorgt ist«. Sie meinen damit die Bescheidenheit, Demut und große Scheu vor der Sünde, die mit der Wissenschaft verbunden sein muss. Daselbst wird auch bemerkt: »Man überliefere die Geheimnisse der Tora nur einem Rate, einem Kunstverständigen oder einem, der sich auf ein geflüstertes Wort versteht«. Diese Eigenschaften kann man aber ohne Naturanlagen nicht erlangen. Du weißt ja, dass es Leute gibt, die, obwohl sonst die verständigsten Men­schen, dennoch unfähig sind, einen Rat zu erteilen, andere aber, die stets einen richtigen Rat und eine vortreffliche Anleitung, die zur Ordnung der menschlichen Verhältnisse und ihrer Glaubensmeinungen dienlich sind, geben können. Ein solcher wird »Ratgeber« genannt; er muss jedoch darum noch nicht Vernunftbegriffe verstehen, auch wenn sie beinahe Axiome sind, er kann vielmehr sehr unwissend und (in wissenschaft­licher Beziehung) ohne jedes Auskunftsmittel sein. Von diesem sagt die Tora: »Wozu soll der Kaufpreis in der Hand eines Toren, womit er Weisheit erwerben will, wenn er kein Herz hat?« [Spr. 17, 16]. Es gibt auch welche, die verständig und von Natur hellen Geistes sind, befähigt, ihre Gedanken in kurzen und treffenden Worten zu verhüllen, und diese nennt man [Jes. 3, 3] solche, »die zu flüstern verstehen«, obgleich sie sich mit der Wissenschaft nicht beschäftigt haben und diese zu ihnen auch nicht gelangt ist. Derjenige aber, der wirklich im Besitz der Wissenschaften ist, wird chach’am charaschim, (ein Kunstverständiger) genannt, weil, wie die Lehrer sagen, sobald er spricht, »alle vor ihm verstummen«. Achte nun darauf, wie die Weisen nach einem Worte der Tora, die Vollkommenheit eines Mannes von seinen politischen Tugenden und von seinen philosophischen Kennt­nissen abhängig machen, zugleich aber die Klarheit des Geistes und Verstandes und die Fähigkeit der guten Wiedergabe und des guten Ausdrucks der Gedanken in bloßen Andeutungen als Bedingungen aufgestellt haben, ohne die man die Geheimnisse der Tora nicht überliefern dürfe.

Daselbst wird auch folgendes erzählt: »R. Jochanan sagte einst zu R. Eliezer: Komm, ich will dich in der Merkawah unterrichten! Da sprach R. Eliezer: Dazu bin ich noch nicht alt genug«, d. h. noch fühle ich das siedende Blut und die Un­ruhe der Jugend in mir. Sieh also, wie sie in Verbindung mit jenen vorzüglichen Eigenschaften auch noch die Jahre als Erfordernis bezeichnet haben, und wie sollte es dann möglich sein, dass jemand das Laienvolk, die Frauen und die Kinder in diese Gegenstände einführe?

Fünftens: Die Beschäftigung mit den Bedürfnissen des Leibes, welche die erste Vervollkommnung (des Menschen) be­wirken, insbesondere wenn sich damit die Sorge um Weib und Kinder verbindet, und noch mehr, wenn sich damit das Streben nach dem verbindet, was für die Lebenserhaltung nicht notwendig ist, ein Streben, das infolge des Charakters und der schlechten Gewohnheiten zur bleibenden Natur wird, indem selbst der Tüchtige, von dem wir oben sprachen, wenn er sich viel mit den Dingen, die für den Lebensunterhalt erforderlich sind, zu beschäftigen hat, dadurch gehindert werden wird, um so mehr aber, wenn er sich mit denen beschäftigt, die zum Lebensunterhalt nicht notwendig sind. Denn je größer sein Verlangen nach diesen, desto geringer wird sein Verlangen nach der Philosophie, bis es ganz verschwindet. Sein Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis wird dann ein ununterbrochenes, lässiges und unaufmerksames sein; er wird das nicht verstehen, was er zu verstehen befähigt ist, oder er wird eine verworrene Kenntnis erlangen, eine Mischung von Verständnis und Un­kenntnis.

Aus allen diesen Gründen eignen sich diese Dinge ausschließ­lich für einzelne Auserwählte, nicht aber für die große Menge, und deshalb müssen sie dem Anfänger vorenthalten und der dazu nicht Geeignete an der Beschäftigung mit ihnen gehindert werden, wie man kleinen Kindern untersagt, schwere Speisen zu essen oder schwere Lasten zu tragen.

More Newuchim

Der »Führer der Unschlüssigen«

CC0

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Der »Führer der Unschlüssigen«



  • 1
    Genannt »der Exeget«, ein Kommentator der Werke von Aristoteles, lebte zu Aphrodisias in Karien zwischen dem 2.-3. Jhdt. allg. Zeitrechnung. Seinen Kommentar zu Arist. Metaph. hat Bonitz B. 1847, seine Untersuchungen über Natur und Moral Spengel 1842 herausgegeben. Seine Werke wurden frühzeitig ins Arabische übersetzt. In seinem Brief an Ibn Tibbon empfiehlt diesem der Verfasser, die Kommentare Alexanders eingehend zu studieren.
  • 2
    Von der übrigens auch Aristoteles spricht (Metaph. II, 3), wo er sagt, dass infolge der Macht der Gewohnheit auch die Gebildeten an die Mythen glauben. Unser Verfasser spricht hier von der Gewohnheit derjenigen, die an eine offenbarte Religion glauben, die Worte der H. Schrift wörtlich aufzufassen.