Es kann bequem sein, alles so zu lassen, wie man es sich eingerichtet hat. Die Umstände mögen nicht die besten sein, aber man hat sich daran gewöhnt, und irgendwie kommt man zurecht. Eine Veränderung wäre viel schlimmer, denn wer weiß, wohin sie führen würde? Doch manchmal wird man von anderen Menschen dazu gebracht, die eigene Lage zu ändern. Das eröffnet neue Perspektiven, zu denen man allein nie gekommen wäre.
So könnte es den Israeliten gegangen sein. Mit Mosche haben sie die Möglichkeit ergriffen, das »Haus der Sklaverei« zu verlassen. Am Ende einer Kette von bemerkenswerten Ereignissen steht der Auszug aus Ägypten. Ihm sind Mosches Auseinandersetzung mit dem Pharao und die Plagen vorausgegangen, die Gott über Ägypten brachte. Der Leser weiß, was als Nächstes geschehen wird: Das Meer wird sich für Israel teilen.
Die Ereignisse vor und nach der Teilung des Meeres erzählen viel über den geistigen Zustand des Volkes kurz nach der Befreiung aus der Sklaverei. Durch Wunder wurden sie befreit. Doch Mosche handelte, er initiierte die Veränderung und trieb die Ereignisse voran – mit Gottes Beistand.
Während der Sklaverei hatte das Volk eine Mentalität entwickelt, die nach pausenloser Betreuung verlangte. Beim geringsten Anzeichen von Widerstand knickten sie ein und beschwerten sich bei Mosche. Sobald sie sahen, dass ihnen die Armee des Pharao nachfolgte, beklagten sie sich und verwiesen darauf, dass sie von Beginn an gegen die Flucht aus Ägypten gewesen seien. »Haben wir dir nicht dasselbe in Ägypten gesagt? Lass uns, wir wollen den Ägyptern dienen, denn es ist besser für uns, ihnen zu dienen, als in der Wüste zu sterben.« (2. Buch Moses 14,12).
Selbst nach der Durchquerung des Meeres, heißt es im Talmud (Pessachim 118b), hätten sie noch Zweifel gehabt und angenommen, die Ägypter wären auf der anderen Seite sicher entkommen.
An Mosche jedoch werden andere Maßstäbe angelegt. Er darf sich nicht zurücklehnen und darauf verlassen, dass andere die Arbeit für ihn tun. Der Ewige spricht zu ihm: »Warum schreist du zu mir? Sage den Kindern Israel, dass sie weiterziehen sollen« (14,15). Mosche soll nicht beten, sondern handeln. Owadja ben Jakob Sforno (1470-1550), ein italienischer Rabbiner und Kommentator der Tora, nahm die Kinder Israels in Schutz. Er schreibt, Mosche »schrie aus«, weil er befürchtete, Israel hätte zu wenig Vertrauen und Glauben und würde seinem Befehl nicht Folge leisten, hinunter ins Meer zu steigen. Gott habe ihm geantwortet, er solle das Volk nicht falsch einschätzen und das tun, was ihm aufgetragen wurde.
So stehen sie nun am Ufer des Meeres, und es passiert erst einmal nichts, berichtet ein Midrasch. Dann geht ein mutiger Mann namens Nachschon ins Wasser. Bis es ihm bis an die Nasenlöcher steht – erst dann teilt sich das Meer. Nachschon lässt die Sklaverei damit nicht nur physisch hinter sich, sondern als einer der Ersten auch psychisch.
Mosche sagt zu Israel: »Der Ewige wird heute für euch kämpfen, ihr aber schweiget« (14,14). Sie sollen nicht handeln und dürfen nicht handeln, weil sie den Glauben und das Vertrauen an sich selbst und an Gott verloren haben.
Das folgende Lied enthält deshalb keine Zeile über Israels Selbstbewusstsein. Das Volk rühmt nicht sich, sondern die Verdienste Gottes. Es ist Brauch, während dieses Aufrufes zu stehen und stehen zu bleiben, bis der Abschnitt zu Ende gelesen ist. Doch während wir noch stehen und den Nachhall von Israels Preisung vernehmen, wird schon von den nächsten Beschwerden der Kinder Israels berichtet.
Am Ende der Parascha lesen wir von Amaleks Überfall und der Rettung Israels aus eigenen Kräften! Mosche beauftragt Jehoschua, Männer auszuwählen, die gegen Amalek kämpfen sollen. Er half ihnen, indem er die Hände zum Himmel hob. Solange sie erhoben waren, konnten die Kämpfer der Israeliten gegen die Männer Amaleks ankommen und sie schließlich auch besiegen. Noch nicht allein, doch bereits aus eigenen Kräften konnten sie den Gegner zurückschlagen.
Jede Generation scheint ihren »Nachschon« zu benötigen. Jemanden, der mutig den ersten Schritt macht.
Jede Generation scheint ihren »Nachschon« zu benötigen. Jemanden, der mutig den ersten Schritt macht. Dass es einen Unterschied gibt zwischen den passiven Menschen, die sich von den allzu normalen menschlichen Regungen und Bedürfnissen leiten lassen, und denen, die sich auch für andere einsetzen, wird hier nicht nur indirekt gesagt, sondern auch direkt. Der Gaon von Wilna schreibt, der Vers 14,22 berichte von Nachschon: »Und die Kinder Israels gingen mitten im Meer auf trockenem Boden, und das Wasser war ihnen eine Mauer (hebr. Choma) zur Rechten und zur Linken.« Von den anderen berichte Vers 29: »… aber gingen mitten im Meer auf trockenem Boden, und das Wasser war ihnen eine Mauer (Choma) zur Rechten und zur Linken.«
Bei dem Wort »Mauer« (Choma) gibt es jedoch einen Unterschied. Bei der ersten Erwähnung wird das Wort mit dem Buchstaben Waw geschrieben, bei der zweiten Erwähnung ohne Waw, sodass man es auch als Chema lesen kann, was Zorn oder Wut bedeutet.
Dass der Mensch von Natur aus zunächst auf den unmittelbaren Vorteil aus ist, weiß die Tora. Aber sie selbst ist ein Werkzeug, diese Natur abzulegen und mehr Nachschon zu sein.