Interreligiöses

Konfrontation – von Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik

Rabbiner Joseph Soloveitchiks Artikel (aus dem Jahr 1964) befasst sich mit dem christlich-jüdischen Dialog und diskutiert hierfür mehrere Themen: die Inkommensurabilität religiöser Überzeugungen, die Risiken eines Interreligiösen Dialogs für die jüdische Minderheit und die Gefahren von Synkretismus. Mit Gedanken über die Zukunft des christlich–jüdischen Dialogs endet der Artikel.

Die Übersetzung stammt von Konstantin Silov


Rabbiner Joseph B. Soloveitchik

I

1.

Der biblische Bericht von der Erschaffung des Menschen stellt ihn auf drei aufsteigenden Ebenen dar.

Auf der ersten Ebene erscheint er als schlichtes, natürliches Wesen. Er ist sich weder seiner einzigartigen Stellung im Kosmos bewusst, noch wird er vom Bewusstsein seiner paradoxen Fähigkeit belastet, gleichzeitig frei und gehorsam, schöpferisch bis zur Selbsttranszendenz, und doch auf eine an Selbstverleugnung grenzende Weise unterwürfig zu sein. In diesem Stadium reagiert dieser natürliche Mensch weder auf Anweisungen von außen noch auf das „Sollen“ von innen – den inneren Ruf seines Mensch-Seins, der aufsteigt de profundismi-ma’amakim.1 Denn die Norm, sei es von innen oder von außen, spricht nur den Menschen an, der für seine eigene Unstimmigkeit und sein tragisches Dilemma empfänglich ist. Der illusorische Frohsinn des natürlichen Menschen steht zwischen ihm und der Norm. Dieser natürliche Mensch, der sich der Spannung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, deren integraler Teil er ist, nicht bewusst ist, hat kein Bedürfnis danach, ein normatives Leben zu führen und in der Hingabe an einen höheren moralischen Willen Erlösung zu finden. Seine Existenz ist ungebunden, harmonisch mit der allgemeinen Ordnung der Dinge und Ereignisse verschmolzen. Er ist eins mit der Natur, bewegt sich mit dem Vieh und den Vögeln des Feldes geradlinig vorwärts, auf einer ungebrochenen Linie mechanischer Lebensaktivitäten, dreht sich niemals um, blickt nie zurück, und führt ein Dasein, das weder mit Widersprüchen belastet, noch durch Paradoxien verwirrt, noch von Schrecken getrübt wird.

וְכֹל שִׂיחַ הַשָּׂדֶה טֶרֶם יִהְיֶה בָאָרֶץ, וְכָל עֵשֶׂב הַשָּׂדֶה טֶרֶם יִצְמָח… וְאָדָם אַיִן, לַעֲבֹד אֶת הָאֲדָמָה. וְאֵד יַעֲלֶה מִן הָאָרֶץ, וְהִשְׁקָה אֶת כָּל פְּנֵי הָאֲדָמָה.  וַיִּיצֶר ה‚ א‘ אֶת הָאָדָם, עָפָר מִן הָאֲדָמָה, וַיִּפַּח בְּאַפָּיו נִשְׁמַת חַיִּים; וַיְהִי הָאָדָם לְנֶפֶשׁ חַיָּה.

„Und alles Gewächs des Feldes war noch nicht auf der Erde, und alles Kraut des Feldes war noch nicht hervorgesprossen, (…) und kein Mensch war da, den Erdboden zu bebauen. Ein Dunst aber stieg auf von der Erde und tränkte die ganze Fläche des Bodens. Da bildete HaSchem, G-tt, den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies in seine Nase Hauch des Lebens, und es wurde der Mensch zu einer lebenden Seele.“ (Genesis 2.5-7)2

Der Mensch, der aus dem Staub des Erdbodens erschaffen, in einen aus dem Urwald aufsteigenden Dunst eingehüllt, durch biologische Unmittelbarkeit und mechanische Notwendigkeit bedingt wurde, kennt keine Verantwortung, keinen Widerstand, keinen Zwiespalt und keine Furcht; somit ist er der Last des Menschseins ledig.

Kurz, dieser Mensch ist ein konfrontationsloses Wesen. Weder weiß er von seiner Zuständigkeit für etwas, was außerhalb seiner selbst liegt, noch ist er sich seiner existenziellen Andersartigkeit bewusst als ein Wesen, das von seinem Schöpfer dazu berufen ist, sich zu tragischer Größe zu erheben.

2.

Wenn ich vom Menschen auf der Ebene der Natürlichkeit spreche, so denke ich nicht an den Urmenschen vergangener Zeiten, sondern an den modernen Menschen. Ich rede nicht in anthropologischen, sondern in typologischen Kategorien. Denn der konfrontationslose Mensch ist nicht nur in der Höhle oder im Urwald zu finden, sondern auch an den Stätten des Lernens, in den Sälen von Philosophen und Künstlern. Konfrontationslosigkeit ist nicht nur auf primitive Existenz beschränkt, sondern gilt für jede menschliche Existenz zu allen Zeiten, so kultiviert und fortgeschritten sie auch sein mag. Der am Genuss (Hêdoné) orientierte, egozentrische Mensch, der Schönheitsanbeter, der ausschließlich sinnlichen Gütern verpflichtet ist und ungebundenes ästhetisches Erleben begehrt; der Lüstling, der neue Bedürfnisse erfindet, um sich die Möglichkeit ständiger Befriedigung zu verschaffen; der Schlemmer, der ständig neue Bereiche entdeckt, wo er dem Genuss nachjagen, Glück finden und verlieren kann – sie alle führen eine konfrontationslose Existenz. Auf dieser Stufe ist intellektuelles Gebaren nicht das endgültige Ziel, sondern Mittel zum Zweck – die Erlangung grenzenloser ästhetischer Erfahrung. Daher ist der konfrontationslose Mensch nicht im Stande, sich selbst zu finden und seine Existenz als eigenständig und einzigartig abzugrenzen. Er verkennt seine bedeutsame Fähigkeit, Freiheit von einer unveränderlichen natürlichen Ordnung zu gewinnen, und eben diese Freiheit als das bedeutsame Opfer für G-tt darzubringen, dessen Wille es ist, dass der Mensch frei sei, auf dass er sich vorbehaltlos hingebe und auf seine Freiheit verzichte.

Die Idee unkultivierter, aber unwiderstehlicher Schönheit, die den Menschen verführt und zu Fall bringt, erscheint auf der biblischen Bühne zum ersten Mal in der Gestalt von Naamah („die Liebliche“), der Schwester Tubal-Kains. So besagt ein Midrasch, den Nachmanides in seinem Kommentar zu Gen. 4,22 zitiert:

ומדרש אחר לרבותינו שהיא האשה היפה היא מאד שממנה תעו בני האלהים והיא הנרמזת בפסוק ויראו בני האלהים את בנות האדם.

„Unsere Weisen boten eine weitere Auslegung, wonach Naamah die schönste aller Frauen war, welche die Söhne der Mächtigen verführte, und auf sie bezieht sich der Vers ‚da sahen die Söhne der Mächtigen die Töchter der Menschen, dass sie schön waren’ [Gen 6,2].“

Ihre verführerischen Reize zogen die „Söhne der Mächtigen“ in ihren Bann und führten zu deren erschreckender Missachtung der zentralen göttlichen Norm, die dem Menschen untersagt, nach dem Faszinierenden und Schönen zu greifen, das ihm nicht gehört. Die Söhne der Mächtigen ergaben sich dem hedonistischen Trieb und verloren die Kontrolle über ihr Tun. Sie waren eine Gruppe ohne Konfrontation und ohne Norm. Sie verehrten die Schönheit und erlagen ihrer überwältigenden Wirkung.

Naamah, die Verkörperung ungeheiligter und ungeläuterter Schönheit, ist für den Midrasch weniger ein Individuum als vielmehr eine Idee, nicht nur eine reale Figur, sondern ein Symbol unerlöster Schönheit. Als solches erscheint sie im biblischen Drama in zahlreichen Verkleidungen: ein Mal heißt sie Delilah und verführt Samson; ein anderes Mal heißt sie Tamar und verführt einen Prinzen. Sie tritt als Prinzessin oder Königin auf und richtet unsäglichen Schaden an in einer heiligen Nation und einem Königreich von Priestern, dessen König, der weiseste aller Menschen, seine Weisheit durch die Begegnung mit überwältigender Schönheit einbüßte. Das Buch der Weisheit (Sprüche) beschreibt sie als die anonyme Frau mit dem „unverschämten Gesicht“ die „an jeder Ecke auf der Lauer liegt“, und die Aggadah – auch hier von Nachmanides zitiert – schildert sie als die schöne Königin der Dämonen, die den Menschen in Versuchung führt und um seine Ruhe bringt.

Nicht weniger als ihre Verführerin stellen auch die Söhne der Mächtigen einen universalen Typus dar. Der konfrontationslose Mensch – mag er ein primitiver Höhlenmensch, der in Ecclesiastes dargestellte König oder ein modernes Gegenstück sein – wird von zwei Eigenschaften beherrscht: Er kann sich selbst nichts verweigern, und er weiß weder um den unüberwindlichen Widerstand, den er als Einschränkungen von Außerhalb zu erwarten hat, noch um die Absurdität des menschlichen Glaubens an das Schöne als Ursprung von Freude statt einer Quelle von Frustration und Desillusion. Der Ästhet von heute wie der Ästhet von einst ist der Gefangene einer a-moralischen Schönheit, deren angeborene Unmittelbarkeit ungezähmt geblieben ist – wie immer sie heißen mag. Er genießt ein Gefühl der Einheit mit dem natürlichen Lauf der Dinge und Geschehnisse, und sein vorübergehender Erfolg ermutigt ihn, nach dem Absurden zu streben – einem unbehinderten und unwidersprochenen hedonistischen modus existentiae.

וַיִּטַּע ה‘ א‘ גַּן בְּעֵדֶן מִקֶּדֶם; וַיָּשֶׂם שָׁם אֶת הָאָדָם אֲשֶׁר יָצָר. וַיַּצְמַח ה‘ א‘ מִן הָאֲדָמָה כָּל עֵץ נֶחְמָד לְמַרְאֶה, וְטוֹב לְמַאֲכָל וְעֵץ הַחַיִּים בְּתוֹךְ הַגָּן, וְעֵץ הַדַּעַת טוֹב וָרָע.

„Und es pflanzte HaSchem, G-tt, einen Garten in Eden nach Morgen hin, und tat dahin den Menschen, den er gebildet. Und es ließ hervorsprießen HaSchem, G-tt, aus dem Erdboden alle Bäume, lieblich zum Ansehen und gut zum Essen; und den Baum des Lebens in der Mitte des Gartens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ (Genesis 2,8-9)3

Der in diesen Versen dargestellte Mensch ist hedonistisch orientiert und vergnügungssüchtig, wobei ihm eine Fülle von Möglichkeiten sinnlicher Befriedigung zur Verfügung steht. Vor ihm erstreckt sich ein riesiger Garten mit einer schier endlosen Auswahl an begehrenswerten guten Bäumen, die ihn verlocken, faszinieren, und seine ungebundene Fantasie mit ihren glanzvollen Farben anregen.

3.

Auf der zweiten Ebene hält der natürliche Mensch auf seinem geradlinigen Weg plötzlich an, dreht sich um und wirft von außen einen nachdenklichen Blick auf seine Umgebung. Selbst der zügelloseste Hedonist erfährt, wie Kohelets König, eine Ernüchterung und findet sich mit etwas konfrontiert, das etwas ganz anderes ist als er selbst, einem „Außerhalb“, das ihm entgegensteht und ihn herausfordert. In genau diesem Augenblick geschieht die Scheidung des Menschen von kosmischer Unmittelbarkeit, von der Einheitlichkeit und Einfachheit, die er mit der Natur gemeinsam hatte. Er entdeckt einen furchterregenden und mysteriösen Bereich von Dingen und Ereignissen, der von ihm unabhängig und ihm widerspenstig ist, eine objektive Ordnung, welche die Ausübung seiner Macht beschränkt und ihm Widerstand bietet. Infolge dieser Entdeckung entdeckt der Mensch sich selbst. Sobald diese Selbstentdeckung vollbracht und ein neues Ich-Bewusstsein einer Existenz entstanden ist, die durch ein Nicht-Ich von außen auf Schranken und Widerstände stößt – in diesem Moment wird etwas Neues geboren: nämlich die göttliche Norm. וַיְצַו ה‘ א‘ עַל הָאָדָם לֵאמֹר – „Und es gebot HaSchem,
G-tt, dem Menschen also”.4 Mit der Entstehung der Norm wird sich der Mensch seiner einzigartigen Existenz bewusst, die sich in der zwiefältigen Erfahrung ausdrückt, unfrei, eingeschränkt, unvollkommen und unerlöst zu sein, und gleichzeitig potenziell mächtig, groß, erhaben, einzigartig begabt und fähig, sich in Erwiderung auf die moralische Herausforderung durch G-tt weit über seine Umwelt zu erheben. Nachdem er von G-tt erfahren hat, dass er nicht nur ein gebundener, sondern auch ein freier Mensch ist, befähigt, seiner Verpflichtung nachzukommen, erlangt der Mensch seine einzigartige Identität; er begreift die Unvereinbarkeit dessen, was er ist, mit dem, was er sein soll: von va-yehi (‚es ward’) mit yehi (‚es werde’).

Als Antwort auf Moses Frage nach Seinem Namen nannte sich G-tt Ehiyeh ascher Ehiyeh – Ich bin der, der Ich bin. G-tt unterliegt nicht dem Widerspruch zwischen Potenzial und Wirklichkeit, zwischen Ideal und Realität. Er ist reine Wirklichkeit, die Existenz schlechthin – par excellence.5 Dem Menschen dagegen ist es unmöglich, von sich selbst zu sagen, er sei ehiyeh ascher ehiyeh, weil seine reale Existenz stets hinter dem Ideal zurückbleibt, das sein Schöpfer ihm als das große Ziel gesetzt hat. Diese tragische Gespaltenheit spiegelt auf paradoxe Weise menschliche Größe und Besonderheit wider.

Das tragische Schicksal des Menschen beginnt, sich gleichzeitig mit der Erkenntnis seiner inneren Unstimmigkeit und seiner völligen Entfremdung von seiner Umwelt zu entfalten. Bei seiner Begegnung mit einer objektiven Welt und durch Übernahme der Rolle eines Subjekts, das bisher einfache Dinge in Frage stellt, gibt der Mensch das Gefühl friedlicher Sorglosigkeit auf. Er ist nicht mehr glücklich. Er beginnt, seine Stellung in dieser Welt zu überprüfen, und findet sich plötzlich durch Verwirrung, Furcht und vor allem Einsamkeit angefochten. ויאמר ה‘ א‘, לא טוב היות האדם לבדו – „Und es sprach HaSchem, G-tt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“.6 Die Ich-Erfahrung ist schmerzhaft. Der wahre Mensch wird aus den Schmerzen der Konfrontation mit einer „böswilligen” Umgebung geboren, der er bis dahin als integraler Bestandteil angehört hatte.

Der so konfrontierte Mensch ist nun aufgerufen, eine von zwei Möglichkeiten zu wählen:
1) Eine aktive Rolle als Subjekt und Wissender zu spielen, indem er seine größte Begabung, den Intellekt, verwendet und so versucht, die Vorherrschaft über die objektive Ordnung zu erlangen. Dieses Vorgehen ist jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, da Wissen nur durch Konflikt erworben wird und intellektuelles Handeln ein Akt von Eroberung ist.7 Die Ordnung der Dinge und Ereignisse reagiert, trotz der ihr innewohnenden Erfassbarkeit und Rationalität, nicht immer auf menschliche Nachfrage, und weist nicht selten jedes Flehen um eine kooperative Beziehung zurück. Das erkennende Subjekt muss mit dem erkennbaren Objekt ringen, es sich unterwerfen und ihm seine kognitiven Inhalte entreißen.8

2) Der Mensch könnte auch aufgeben, sich dem überwältigenden Druck der objektiven Außenwelt unterwerfen und in stummer Resignation enden. Damit würde er jedoch die Erfüllung seiner Pflicht als ein mit Intellekt begabtes Wesen versäumen, und ein intelligentes Dasein in einen absurden Albtraum auflösen.

Natürlich hat die Tora dem Menschen geboten, die erste Möglichkeit zu wählen und seine Vollmacht als intelligentes Wesen anzuwenden, dessen Aufgabe darin besteht, sich mit der objektiven Ordnung in einen kognitiven Wettstreit einzulassen. Wir haben das Nirvana der Untätigkeit immer abgelehnt, weil die Flucht vor Konfrontation einer Bankrotterklärung des Menschen gleichkommt. Als der Mensch der Natur entfremdet war und sich plötzlich allein wiederfand, im Gegenüber zu allem außerhalb seiner selbst, brachte G-tt „alles Getier des Feldes und alles Gevögel des Himmels, und Er brachte sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie nennen würde… da gab der Mensch Namen allem Vieh und dem Gevögel des Himmels und allem Getier des Feldes.“

וַיִּצֶר ה‘ א‘ מִן הָאֲדָמָה כָּל חַיַּת הַשָּׂדֶה וְאֵת כָּל עוֹף הַשָּׁמַיִם, וַיָּבֵא אֶל הָאָדָם, לִרְאוֹת מַה-יִּקְרָא-לוֹ… וַיִּקְרָא הָאָדָם שֵׁמוֹת לְכָל הַבְּהֵמָה וּלְעוֹף הַשָּׁמַיִם, וּלְכֹל חַיַּת הַשָּׂדֶה.9

Der Mensch ging nicht mehr im gleichen Trott wie die Tiere in Feld und Wald. Er machte eine Kehrtwende und trat ihnen gegenüber als intelligentes Wesen, von ihnen distanziert und darauf begierig, sie zu untersuchen und zu klassifizieren. G-tt ermutigte ihn, die wundersamste aller menschlichen Tätigkeiten auszuführen – die kognitive. Der so konfrontierte Adam ging darauf ein, denn er hatte bereits verstanden, dass er kein Bestandteil der Natur mehr war, sondern ein Außenstehender, ein einzigartiges Wesen, mit Verstand begabt. In dieser neuen Rolle wurde er sich seiner Einsamkeit und seiner Isolation von der gesamten Schöpfung bewusst. וּלְאָדָם לֹא מָצָא עֵזֶר כְּנֶגְדּוֹ . „Aber für den Menschen fand [G-tt] keine Gehilfin, als sein Gegenüber.“10 Als einsames Wesen entdeckte Adam seine außerordentliche Fähigkeit, der nicht-menschlichen Ordnung entgegenzutreten und sie zu beherrschen.11

4.

Nach der Beschreibung der vier Ströme, die aus dem Garten Eden entspringen, bietet uns das Buch Genesis einen neuen Bericht von der Einsetzung Adams in diesen Garten.

וַיִּקַּח ה‘ א‘ אֶת הָאָדָם; וַיַּנִּחֵהוּ בְגַן עֵדֶן, לְעָבְדָהּ וּלְשָׁמְרָהּ. „Und es nahm HaSchem, G-tt, den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bauen und zu erhalten.“ Dieser Vers (Genesis 2,15) ist eine fast wörtliche Wiederholung von Gen. 2,8, aber die Berichte unterscheiden sich in zwei Punkten.

Erstens benutzt die Schrift in der zweiten Version ein Verb, das eine Handlung vor der Einsetzung des Menschen in den Garten anzeigt – „und G-tt nahm (va-yikach) den Menschen und setzte ihn“ – wohingegen in der ersten Version das Verb „er setzte“, va-yassem, von keiner vorbereitenden Handlung des Allmächtigen begleitet wird. Der Ausdruck va-yikach kommt in der ersten Version nicht vor. Zweitens wird in der ersten Version keinerlei Auftrag an den Menschen erwähnt, während die zweite Version erläutert, dass der Mensch beauftragt wurde, den Garten zu pflegen und zu erhalten.

Der Grund für diese Unterschiede liegt darin, dass die zwei Versionen sich auf zwei verschiedene Menschen beziehen. Die erste Erzählung handelt, wie wir bereits angedeutet haben, vom konfrontationslosen Menschen, der sich von der mächtigen Flut eines einheitlichen, schlichten, unreflektierten Lebens tragen lässt und der nur aus einem Grund in den Garten Eden gesetzt wurde: seinem Vergnügen nachzugehen, ohne Anstrengung die Frucht der Bäume zu genießen, ohne Wissen um seine menschliche Bestimmung zu leben, auf kein Problem zu stoßen und mit keinerlei Verpflichtung behelligt zu werden. Wie schon erwähnt, ist der konfrontationslose Mensch ein Wesen ohne Normen. Die zweite Geschichte handelt vom konfrontierten Menschen, der begonnen hat, seine Stellung gegenüber seiner Umwelt kritisch zu hinterfragen, und festgestellt hat, dass seine existenzielle Erfahrung zu komplex ist, um mit der Einfachheit und Richtungslosigkeit des natürlichen Lebensstromes gleichgesetzt zu werden. Dieser Mensch, der als erkennendes Subjekt einer fast undurchdringlichen objektiven Ordnung gegenübersteht, war von G-tt aus der Position eines natürlichen und harmonischen Seins entfernt und in einen neuen existenziellen Bereich versetzt worden: in die konfrontierte Existenz. Der konfrontierte Mensch ist ein Entwurzelter. Nachdem er sich nicht mehr in einem behaglichen Zustand von optimistischer Unbefangenheit befindet, endet für ihn die intime Beziehung mit der tatsächlichen Ordnung in Spannung und Konflikt. Das Verb va-yikach besagt, dass G-tt den Menschen aus einer Dimension entfernt und ihn in eine andere katapultiert hat – in die konfrontierte Existenz. An diesem Punkt, als der Mensch der Natur entfremdet und sich seines bedeutsamen und tragischen Schicksals voll bewusst geworden war, wurde er zum Empfänger der ersten Norm – ויצו ה‘ א‘ על האדם – „Und es gebot HaSchem, G-tt, dem Menschen also“. Der göttliche Auftrag brach aus der Unendlichkeit hervor und überwältigte den endlichen Menschen.

Allerdings kommt der schaffende Mensch den normativen Forderungen G-ttes, die den inneren Kern seines neuen existenziellen Status als konfrontiertes Wesen ausmachen, nicht immer bereitwillig nach. Allzu oft ist die treibende Kraft des kreativen Menschen nicht der ihm anvertraute göttliche Auftrag, den er auf der kognitiven wie auf der normativen Ebene vollständig erfüllen soll, sondern ein dämonischer Drang nach Macht. Durch unvollständige Ausführung seiner Aufgabe fällt der moderne Mensch zurück in eine konfrontationslose, natürliche Existenz, die von normativem Druck nichts wissen will. Das Scheitern des konfrontierten Menschen, seiner Rolle ganz gerecht zu werden, liegt daran, dass kognitives Handeln dem Menschen zwar das Gefühl von Fähigkeit und Erfolg verleiht, normatives Handeln dagegen vom Menschen Unterwerfung verlangt.12 An dieser Schaltstelle begeht der moderne Mensch denselben Fehler wie sein Urvater Adam: er neigt sein Ohr der dämonischen Einflüsterung „Ihr werdet sein wie G-tt, Gut und Böse erkennen“.

5.

Es gibt allerdings noch eine dritte Ebene, die der Mensch erklimmen muss, wenn er nach Selbstverwirklichung strebt. Auf dieser Ebene findet sich der Mensch von neuem konfrontiert. Nur ist es dieses Mal nicht die Konfrontation eines Subjektes mit einem Objekt, auf das es mit einem Gefühl der Überlegenheit herunterschaut. Diesmal sind es zwei gleichwertige Subjekte, beide einsam in ihrer Anders- und Einzigartigkeit, beide von der objektiven Ordnung abgelehnt und zurückgestoßen; beide sehnen sich nach Partnerschaft. Diese Konfrontation ist gegenseitig, nicht einseitig. Diesmal stehen die beiden Konfrontationspartner nebeneinander, wobei jeder die Existenz des anderen anerkennt. Ein abgeschottetes Dasein verwandelt sich in ein gemeinsames.

וַיֹּאמֶר ה‘ א‘: לֹא טוֹב הֱיוֹת הָאָדָם לְבַדּוֹ; אֶעֱשֶׂה לּוֹ עֵזֶר, כְּנֶגְדּוֹ..

„Und es sprach HaSchem, G-tt: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm entgegen (sic) eine Gehilfin machen… Und so baute HaSchem, G-tt, die Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, zu einer Frau, und brachte sie zu dem Menschen.“13 G-tt erschuf Chava (Eva), ein weiteres menschliches Wesen. Zwei Individuen, beide einsam und hilflos in ihrem Alleinsein, treffen sich, und so entstand die erste Gemeinschaft.

Gemeinschaft kann jedoch nur durch einen Akt von Kommunikation entstehen. Nachdem sie einander schweigend und herausfordernd angesehen haben, beginnen die zwei Individuen, in ihrer einzigartigen Begegnung miteinander zu kommunizieren. Aus dem Nebel der Stummheit erhebt sich das wundersame Wort und beginnt zu leuchten. Plötzlich beginnt Adam zu sprechen – ויאמר האדם, „Und der Mensch sprach“. Er spricht Eva an, und mit dieser einleitenden Bemerkung öffnen sich einander zwei abgeschottete, isolierte menschliche Existenzen und beide brechen begeistert zueinander durch.

Das Wort ist ein paradoxes Kommunikationsmittel und enthält einen inneren Widerspruch. Einerseits ist das Wort ein Medium, mit dem Zustimmung und Einverständnis ausgedrückt, Verständigung erreicht, Zusammenarbeit organisiert und gemeinsames Tun vereinbart wird. Andererseits ist das Wort aber auch das Mittel, mit dem Besonderheit artikuliert, Unvereinbarkeit betont und Getrenntheit unterstrichen wird. Das Wort bringt nicht nur das zum Ausdruck, was zwei Existenzen gemeinsam ist, sondern auch die Eigenheit und Einzigartigkeit jeder einzelnen Existenz. Es betont nicht nur gemeinsame Probleme, Bestrebungen und Belange, sondern auch individuelle, persönliche Fragen, Sorgen und Ängste, von denen jeder Mensch heimgesucht wird. Unsere Weisen suchten den graphischen Unterschied zwischen dem offenen und dem geschlossenen Buchstaben Mem (מ/ם) zu erhellen, indem sie von Ma’amar satum und Ma’amar patuach sprachen – der rätselhaften, bzw. klaren oder deutlichen Äußerung. Sie erfassten die manchmal erleuchtende und manchmal verwirrende Wirkung des Wortes, wie auch dessen Hervorhebung des Unverständlichen und Unerkennbaren bei anderen Gelegenheiten.

Als Adam sich an Eva wandte und dabei das Wort als Kommunikationsmittel benutzte, erzählte er ihr sicher nicht nur, was sie vereinte, sondern auch, was sie trennte. Eva erfuhr durch seine Anrede sowohl Aufklärung als auch Verwirrung, Vergewisserung und gleichzeitig Verunsicherung. Schließlich bleiben die modi existentiae [Existenzweisen] in allen persönlichen Beziehungen wie Ehe, Freundschaft oder Kameradschaft – so stark die Bindung zwischen zwei Individuen auch sein mag – völlig einzigartig und daher unvereinbar, und zwar auf der ontologischen/wesenhaften als auch auf der Erfahrungsebene. Die Hoffnung, zwei menschliche Wesen persönlich und existenziell gleichsetzen zu können, basiert auf der gefährlichen und verkehrten Vorstellung, menschliche Existenzen seien abstrakte Größen, die einfachen mathematischen Prozessen unterliegen. Dieser Irrtum ist die philosophische Grundlage des Gemeinschaftsstaates und der mechanischen Verhaltenssteuerung. Im Gegenteil, je näher zwei Individuen einander kennenlernen, desto deutlicher wird ihnen ihr metaphysischer Abstand voneinander bewusst. Jeder Einzelne existiert auf singuläre Weise, geht völlig auf in seiner individuellen Wahrnehmung, die exklusiv und Ich-bezogen ist. Die Sonne der Existenz geht auf, sobald das Selbst-Bewusstsein eines Menschen entsteht, und mit dessen Erlöschen geht sie unter. Es übersteigt den Erfahrungshorizont eines Menschen, sich eine Existenz vorzustellen, die der seinigen vorangeht oder nachfolgt.

Es ist paradox und doch wahr, dass jeder Mensch einerseits in einer existenziellen Gemeinschaft umringt von Freunden lebt, und andererseits in einem Zustand existenzieller Einsamkeit und Spannung, konfrontiert mit Fremden. In Jedem, zu dem ich eine menschliche Beziehung unterhalte, finde ich sowohl einen Freund, denn wir haben vieles gemeinsam, als auch einen Fremden, denn jeder von uns ist einzigartig und ganz anders. Dieses Anderssein steht einem vollständigen gegenseitigen Verständnis im Weg. Der Abstand der Einzigartigkeit ist zu weit, als dass er sich überbrücken ließe. Eigentlich ist es kein Abstand, sondern ein Abgrund. Es kommt natürlich häufig vor, dass sich wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Interessen, die von zwei Individuen verfolgt werden, überschneiden. Doch zwei Menschen, die denselben Gegenstand ins Auge fassen, führen dabei immer noch ihre isolierte, abgekapselte Existenz. Koordination von Interessen ist kein Rezept für existenzielle Vereinigung. Häufig machen wir gemeinsame Sache und sind darauf bedacht, gemeinsame Ziele zu erreichen. Wir gehen zeitweilig auf parallelen Wegen, aber das Ziel unserer Reise ist nicht dasselbe. Wir sind, mit den Worten der Torah, ein eser – einander behilflich, doch gleichzeitig erfahren wir den Zustand von ke-negdo – wir bleiben unterschiedlich und einander entgegengesetzt.14 Unser Denken, Fühlen und Reagieren auf Ereignisse ist nicht einheitlich, sondern individuell, jeder auf seine Weise. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich nach einem Zusammenleben sehnt, in dem Dienstleistungen ausgetauscht und Erfahrungen geteilt werden. Aber er ist auch ein einsames Geschöpf, schüchtern und zurückhaltend, das den durchdringenden, zynischen Blick seines Nachbarn fürchtet. Trotz unserer Geselligkeit und Extrovertiertheit bleiben wir einander fremd. Unsere Gefühle von Sympathie und Liebe für unser Gegenüber wurzeln in der äußeren Seite der Persönlichkeit. Sie reichen nicht hinab in die innersten Bereiche unserer tieferen Persönlichkeit, die ihre ontologische Verborgenheit nie verlässt und sich auf keine gemeinschaftliche Existenz einlässt.

Kurz, die Größe des Menschen zeigt sich in seinem dialektischen Zugang zu seinem Gegenüber, in ambivalentem Verhalten zu seinem Nächsten, Gewährung von Freundschaft und Entgegensetzen von Widerstand, auf ihn Zugehen und sich von ihm Zurückziehen. In dem Zwiespalt von eser und ke-negdo finden wir sowohl unseren Triumph als auch unsere Niederlage.

Der moderne Mensch, der schon die Herausforderung der Konfrontation auf der zweiten Ebene nicht vollständig bewältigt hat, ist auch auf der Ebene der persönlichen Konfrontation nicht sehr erfolgreich. Er hat vergessen, wie man die schwierige dialektische Kunst des eser kenegdo meistert – mit seinem menschlichen Gegenüber zugleich vereint und von ihm verschieden zu sein, gleichzeitig in Gemeinschaft und Einsamkeit zu leben. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, mit seinem Mitmenschen auf die Art umzugehen, wie sie auf der Ebene der Subjekt-Objekt-Beziehung vorherrscht: Er versucht, ihn zu dominieren und zu unterwerfen, statt sich mit ihm zu verständigen und gemeinsame Sache zu machen. So wird die wunderbare, persönliche Begegnung zwischen Adam und Eva zu einem hässlichen Versuch der Entpersönlichung. Der heutige Adam will als Herrscher und Held auftreten und Eva unter seine ideologische, religiöse, wirtschaftliche oder politische Herrschaft und Kontrolle bringen. Tatsächlich hat der göttliche Fluch, an Eva nach ihrer Sünde gerichtet, וְהוּא יִמְשָׁל בָּךְ – „und er soll über dich herrschen“ in unserer heutigen Gesellschaft seine Verwirklichung gefunden. Die warmherzige persönliche Beziehung zwischen zwei Individuen ist durch eine formale Subjekt-Objekt-Beziehung ersetzt worden, die sich im Streben nach Macht und Überlegenheit äußert.

II

1.

Wir Juden sind mit einer zweifachen Aufgabe betraut: Wir müssen uns mit dem Problem einer doppelten Konfrontation auseinandersetzen. Wir begreifen uns als Menschen, die Adams Schicksal bei seiner allgemeinen Begegnung mit der Natur teilen, sowie als Mitglieder einer Bundesgemeinschaft, die ihre Identität unter den widrigsten Bedingungen bewahrt hat und sich mit einer anderen Glaubensgemeinschaft konfrontiert sieht. Wir glauben, dass wir die Träger einer doppelten charismatischen Last sind: der Würde des Menschen und der Heiligkeit der Bundesgemeinschaft. In dieser schwierigen Rolle sind wir berufen von G-tt – der sich sowohl auf der Ebene universeller Schöpfung als auch auf der des persönlichen Bundes offenbart hat – uns einer doppelten Konfrontation zu stellen: der universal menschlichen und der exklusiven des Bundes.

Wie sein Vorvater Jakob – dessen erbitterter nächtlicher Kampf mit einem mysteriösen Gegner in der Bibel so dramatisch geschildert wird – war der Jude von einst ein doppelt konfrontiertes Wesen. Der moderne, emanzipierte Jude versucht allerdings schon seit geraumer Zeit, sich der schweren Last dieser zweifachen Verantwortung zu entledigen. Der Jude der westlichen Welt geht davon aus, es sei unmöglich, beide Konfrontationen auf sich zu nehmen; die universale und die Bundesverpflichtung seien miteinander unvereinbar. Es sei absurd, meint er, an der Seite der Menschheit zu stehen, wenn diese sich kognitiv und technisch um das allgemeine Wohl bemüht, und so die uns vom Schöpfer verliehene Aufgabe zu erfüllen, und in der nächsten Minute eine Kehrtwendung zu vollziehen, um die Angehörigen unserer eigenen Sondergemeinschaft zu konfrontieren. Deshalb, so folgert der westliche Jude, müssten wir uns zwischen diesen beiden Begegnungen entscheiden. Wir sind entweder konfrontierte Menschen oder konfrontierte Juden. Eine doppelte Konfrontation enthält einen inneren Widerspruch.

Charakteristisch für diese Anhänger der Einzelkonfrontation ist ihre optimistische und sorglose Veranlagung. Wie der seinerzeit natürliche Adam, der sich als Teil seiner Umwelt fühlte und gar nicht auf die Idee kam, er sei existenziell anders, betrachten sie sich als sicher und voll in die allgemeine Gesellschaft integriert. Sie stellen die Vernünftigkeit und Rechtfertigung einer solchen optimistischen Haltung weder in Frage, noch versuchen sie, in den tiefen Schichten ihrer Persönlichkeit Bindungen zu entdecken, die über profane gesellschaftliche Verpflichtungen hinausreichen.

Mit Ausnahme einiger Randgruppen predigen die Verfechter der Einzelkonfrontation nicht den völligen Verzicht auf alles Jüdische und die uneingeschränkte Assimilation. Auch sie sprechen von jüdischer Identität (zumindest im religiösen Sinne), von jüdischer Individualität und vom natürlichen Willen, die jüdische Gemeinschaft als Sonderidentität zu erhalten. Tatsächlich sprechen sie sogar recht häufig mit Eifer und Wärme vom vergangenen und künftigen Beitrag des Judentums zum Fortschritt der Menschheit und ihrer Institutionen. Dabei verkennen sie allerdings das wahre Wesen und die vollständigen Schlussfolgerungen einer bedeutsamen jüdischen Identität völlig.

2.

Dieses Missverständnis beruht auf zwei irrigen Auffassungen vom Wesen einer Glaubensgemeinschaft. Erstens sprechen die Anhänger nur einer einzigen Konfrontation von jüdischer Identität, ohne sich klar zu machen, dass dieser Begriff nur im Hinblick auf Eigenheit und Anderssein zu verstehen ist. Ohne Einzigartigkeit gibt es keine Identität. So wie es zwischen zwei Individuen keine Gleichheit geben kann, es sei denn, man verwandelt sie in Abstraktionen, ist es genauso absurd, von der Vereinbarkeit zweier Glaubensgemeinschaften zu sprechen, da sie doch individuelle Wesenheiten sind.

Die Individualität einer Glaubensgemeinschaft äußert sich auf dreierlei Weise. Erstens dürfen die göttlichen Anweisungen und Gebote, zu denen sich eine Glaubensgemeinschaft vorbehaltlos verpflichtet, nicht mit Ritual und Ethos einer anderen Gemeinschaft gleichgesetzt werden. Jede Glaubensgemeinschaft hat ihr einzigartiges normatives Gebaren, worin sich das Numinose des Glaubensakts selbst widerspiegelt, und das Suchen nach gemeinsamen Nennern ist vergeblich. Insbesondere, wenn wir von der jüdischen Glaubensgemeinschaft sprechen – deren innerstes Wesen sich in der Einhaltung der Halacha ausdrückt, was sie in hohem Maße individualisiert – ist jeder Versuch, unsere Identität mit einer anderen gleichzusetzen, völlig absurd. Zweitens ist das auf Axiome gegründete Bewusstsein jeder Glaubensgemeinschaft exklusiv, denn sie glaubt – und dieser Glaube ist für ihr Bestehen unverzichtbar – dass ihr System von Glaubenssätzen, Lehren und Werten am besten dazu geeignet ist, das höchste Gut zu erlangen. Drittens hält jede Glaubensgemeinschaft an ihren Endzeit-Erwartungen eisern fest. Sie nimmt die Ereignisse der Endzeit mit freudiger Gewissheit wahr und erwartet vom Menschen, über den Schatten seines Egoismus zu springen, sich der bedeutsamen Bestimmung des Lebens hinzugeben und den Glauben anzunehmen, den die jeweilige Gemeinschaft über die Jahrhunderte hin gepredigt hat. Standardisierung von Praktiken, Gleichmachung dogmatischer Gewissheiten und Verzicht auf eschatologische Ansprüche sind Zeichen für das Ende der lebendigen und bedeutsamen Glaubenserfahrung jeder Religionsgemeinschaft. Die religiöse Gemeinschaft ist nämlich so einzigartig und rätselhaft wie das Individuum selbst.

Einen zweiten Fehler machen die Anhänger nur einer Konfrontation, indem sie nicht begreifen, dass die zwei Rollen in Wirklichkeit kompatibel sind. Wenn die Beziehung der nichtjüdischen zur jüdischen Welt der göttlichen Anordnung entsprochen hätte, wonach ein Mensch dem anderen auf der Grundlage von Gleichheit, Freundschaft und Sympathie begegnet, hätte der Jude sich zusammen mit der übrigen Menschheit vollkommen in die Konfrontation mit dem Kosmos einbringen können. Seine durch den Gottesbund bedingte Einzigartigkeit und sein zusätzliches Mandat, einer anderen Glaubensgemeinschaft als Mitglied seiner eigenen entgegenzutreten, hätten seiner Bereitschaft und Fähigkeit, an der Kulturmission der Menschheit mitzuwirken, nicht im Wege gestanden. Es liegt kein Widerspruch darin, kulturell mit allen Menschen zusammenzuarbeiten, und sie gleichzeitig als Mitglieder einer anderen Glaubensgemeinschaft zu konfrontieren. Selbst in der nichtjüdischen Welt betrachtet sich doch jeder Mensch in zweifacher Hinsicht: einmal als Mitglied einer kulturschaffenden Gemeinschaft, in der alle auf dasselbe Ziel hinarbeiten, und zugleich als Individuum, das einsam und zurückgezogen lebt.

Leider jedoch ist uns die nichtjüdische Gesellschaft durch alle Zeiten hindurch mit Widerstand begegnet, als ob wir der unter-menschlichen, gegenständlichen Ordnung angehörten, durch einen Abgrund vom Menschlichen getrennt, als ob wir nicht im Stande wären, logisch zu denken, leidenschaftlich zu lieben, tiefe Sehnsucht, Verlangen und Hoffnung zu empfinden. Solange wir einer so seelenlosen und unpersönlichen Konfrontation von Seiten der nichtjüdischen Gesellschaft ausgesetzt waren, war es uns natürlich unmöglich, an der großen, universalen, schöpferischen Konfrontation zwischen Mensch und Welt-Ordnung voll und ganz teilzunehmen. Die eingeschränkte Rolle, die wir bis in die Moderne in dieser bedeutsamen kosmischen Konfrontation spielten, war nicht unsere Wahl. Der Himmel sei Zeuge, dass wir die Welt niemals zu ihrem grausamen Verhalten uns gegenüber ermutigt haben! Wir haben uns stets als untrennbaren Teil der Menschheit gesehen und waren immer bereit, der göttlichen Aufforderung מלאו את הארץ וכבשה „füllet die Erde und macht sie euch untertan“15 Folge zu leisten. Wir haben nie die Philosophie des contemptus oder odium seculi [Verachtung oder Hass gegenüber allem Weltlichen] verkündet. Wir haben stets daran festgehalten, dass Beteiligung am schöpferischen Ganzen verpflichtend ist.

Um es noch einmal zu sagen: Mitarbeit an der kosmischen Konfrontation zusammen mit der übrigen Menschheit bildet keinen Widerspruch zu der zweiten persönlichen Konfrontation zweier Glaubensgemeinschaften, von denen jede sich bewusst ist, was sie mit der anderen teilt, und was ihr Sondergut ist. Adam und Eva waren mit einer widerspenstigen Natur konfrontiert, was sie nicht daran hinderte, einander als einzelne Individuen zu begegnen, die um ihre Unvereinbarkeit und Einzigartigkeit wussten. Ebenso sollten zwei Glaubensgemeinschaften, die gemeinsame Anstrengungen unternehmen, es mit der Weltordnung aufzunehmen, im Stande sein, einander im vollen Bewusstsein ihrer Verschiedenheit und Individualität zu begegnen.

Wir weisen die Theorie einer ausschließlichen Einzelkonfrontation zurück und bestehen auf der Unentbehrlichkeit der Doppelkonfrontation. Erstens ruht auf uns als G-ttes Ebenbildern, wie bereits erwähnt, die Verantwortung für die große Konfrontation des Menschen mit dem Kosmos. Wir stehen in Reih’ und Glied mit der zivilisierten Gesellschaft gegenüber einer uns allen trotzenden Ordnung. Zweitens müssen wir uns als charismatische Glaubensgemeinschaft der Konfrontation mit der allgemeinen, nichtjüdischen Glaubensgemeinschaft stellen. Wir sind berufen, dieser Gemeinschaft nicht nur zu erzählen, was sie schon weiß – dass wir Menschen sind, die sich dem allgemeinen Wohlergehen und Fortschritt der Menschheit verschrieben haben, dass wir den Kampf gegen Krankheiten führen, menschliches Leid lindern, Menschenrechte schützen, den Schwachen helfen wollen, usw. – sondern auch, was sie noch nicht weiß: dass wir als metaphysische Bundesgemeinschaft anders sind.

3.

Es versteht sich von selbst, dass eine Konfrontation zweier Glaubensgemeinschaften nur möglich ist, wenn sie von der klaren Zusage begleitet ist, dass beide Seiten gleiche Rechte und volle religiöse Freiheit genießen sollen. Wir werden jeden Versuch der Mehrheitsgemeinschaft zurückweisen, uns zu einer Art von Begegnung zu drängen, wo unser Gegenüber uns einen Platz unter sich zuweist und sich selbst nicht neben, sondern über uns stellt. Demokratische Konfrontation verpflichtet uns nicht, uns der Selbstgerechtigkeit der Mehrheitsgemeinschaft zu beugen, die zwar darüber debattiert, ob die Minderheitsgemeinschaft vielleicht von einer mythischen Schuld „freizusprechen“ sei, dabei aber völlig ihre eigene historische Verantwortung ignoriert für die Leiden und Martern, die in den Annalen der Wenigen, Schwachen und Verfolgten so häufig verzeichnet sind.

Wir sind nicht bereit zu einer Begegnung mit einer anderen Glaubensgemeinschaft, wo wir zum Objekt von Beobachtung, Beurteilung und Bewertung gemacht werden, auch wenn die Mehrheitsgemeinschaft daraufhin so freundlich ist, ein gewisses Mitgefühl mit der Minderheitsgemeinschaft zu äußern und empfiehlt, diese nicht zu verletzen oder zu verfolgen. Eine solche Begegnung würde das persönliche Zusammentreffen im Sinne von Adam und Eva in ein feindseliges Gegenüber zwischen erkennendem Subjekt und erkennbarem Objekt verwandeln. Wir haben nicht die Absicht, die Rolle des Objekts gegenüber dem männlichen Beherrscher zu spielen. Das Erregen von Mitleid geht mit einer demokratischen Konfrontation nicht zusammen. Vielmehr gilt es, auf den unveräußerlichen Rechten als menschliches Wesen, als G-ttes Geschöpf zu bestehen.

In Anbetracht dieser Ausführungen bleibt festzuhalten, dass wir bei jeglicher Konfrontation auf vier Grundvoraussetzungen bestehen müssen, um unsere Individualität und Handlungsfreiheit zu wahren.

Erstens haben wir folgende unmissverständliche Erklärung abzugeben: Wir sind eine völlig unabhängige Glaubensgemeinschaft. Wir sind kein Satellit, der um irgendein Gestirn kreist. Genauso wenig sind wir die (wenn auch „getrennten“) „Mitbrüder” einer anderen Glaubensgemeinschaft. Beim Reden von einer gemeinsamen Tradition, die zwei Glaubensgemeinschaften vereine, etwa die christliche und die jüdische, wird häufig zweierlei verwechselt. Der Begriff „gemeinsame Tradition“ mag zutreffen, wenn man eine Glaubensgemeinschaft in historisch-kultureller Hinsicht betrachtet und ihre Beziehung zu einer anderen solchen Gemeinschaft in menschlich-soziologischen Kategorien interpretiert, in denen die Entfaltung des kreativen Bewusstseins beim Menschen beschrieben wird. Religiöses Bewusstsein manifestiert sich ja nicht nur als singuläres apokalyptisches Glaubenserlebnis, sondern auch als weltlich-kulturelle Erfahrung. Religion ist sowohl ein göttlicher Imperativ, der dem Menschen von außen auferlegt wurde, als auch eine neue Dimension des eigenen Seins, die der Mensch in sich entdeckt. Kurz, die Glaubenserfahrung hat einen kulturellen Aspekt, der psychologisch betrachtet eine überaus integrierende, inspirierende und erhebende geistige Kraft darstellt. Übertragung religiöser Werte, Glaubenssätze und Vorstellungen in kulturelle Kategorien, die auch säkularen Menschen als wertvoll und positiv gelten, ist möglich und hat stattgefunden. Bezugnahmen aller Zeiten auf universale Religion, philosophische Religion, etc. berufen sich auf den kulturellen Aspekt der Glaubenserfahrung, von dem nicht nur Gläubige, sondern auch pragmatische, utilitaristische Gesellschaften Gebrauch machen. Die kulturelle religiöse Erfahrung erhöht die Würde und den Wert des Menschen auch auf weltlicher Ebene, indem sie menschlicher Existenz Sinn und Richtung verleiht und sie an bedeutsamen Endzielen orientiert.

Wenn wir die Beziehung zwischen Judentum und Christentum unter diesem Gesichtspunkt betrachten, ist es wohl legitim, von einer jüdisch-christlichen kulturellen Tradition zu sprechen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen hat das Judentum als Kultur das ethisch-philosophische Weltbild des Christentums beeinflusst, ja sogar geformt. Die grundsätzlichen Kategorien und Voraussetzungen des letzteren haben sich im Umkreis der jüdischen Kultur entwickelt. Zum anderen hat unsere westliche Zivilisation sowohl jüdische als auch christliche Elemente in sich aufgesogen. In der Tat ist unser westliches Erbe aus der Verknüpfung dreier Komponenten entstanden, der klassischen, der jüdischen und der christlichen, so dass wir ohne weiteres von einer jüdisch-hellenistisch-christlichen Tradition im Rahmen unserer westlichen Zivilisation sprechen könnten. Wenn wir allerdings den Schwerpunkt von der Dimension der Kultur auf die des Glaubens verlagern – wo unbedingte Hingabe und Einbeziehung gefordert sind – erscheint es absurd, eine Überlieferung mehrerer Glaubenssysteme anzunehmen und sich die Offenbarung von auf unterschiedliche Referenzsysteme bezogenen und daher von Natur aus unvereinbaren Glaubenssätzen als ein Kontinuum vorzustellen – es sei denn, man schließt sich der christlich-theologischen Behauptung an, das Judentum sei durch das Christentum überholt.

Als Glaubensindividualität genießt die Gemeinschaft der Wenigen eine innere Würde, die vor ihrem eigenen metahistorischen Hintergrund zu betrachten ist, ohne Bezugnahme auf den Rahmen einer anderen Glaubensgemeinschaft. Denn die bloße Einschätzung einer Gemeinschaft auf Grund des Dienstes, den sie einer anderen Gemeinschaft erwiesen hat, so wichtig und bedeutsam dieser Dienst auch gewesen sein mag, verletzt die Souveränität und Würde selbst der kleinsten Glaubensgemeinschaft. Als G-tt den Menschen erschuf und ihm individuelle Würde verlieh, entschied Er, dass die ontologische Legitimität und Bedeutung des individuellen Menschen nicht außerhalb, sondern innerhalb des Individuums zu finden sei. Der Mensch wurde geschaffen, weil G-tt ihn als autonomes menschliches Wesen bestätigte, nicht als Handlanger im Dienste eines anderen. Die ontologische Zielgebundenheit seiner Existenz ist ihm immanent. Dasselbe gilt für eine Religionsgemeinschaft, deren Wert nicht mit äußeren Maßstäben gemessen werden darf.

Daher ist jegliche, offene oder verdeckte, Andeutung der Mehrheitsgemeinschaft, die Gemeinschaft der Wenigen solle ihre Einzigartigkeit ablegen und aufhören zu existieren, da sie ihre Aufgabe als Wegbereiterin für die Gemeinschaft der Vielen erfüllt habe, als undemokratisch zurückzuweisen; sie verstößt nämlich gegen den Gedanken der religiösen Freiheit. Die kleine Gemeinschaft hat nicht weniger Recht als die große, ihren Glauben an die letztendliche Gewissheit in Bezug auf den doktrinären Wert ihres Weltbildes zu bekunden und ihre eigene endzeitliche Sicht zu vertreten. Ich will der Mehrheitsgemeinschaft nicht das Recht absprechen, ihre eigenen eschatologischen Begriffe an die Gemeinschaft der Wenigen heranzutragen. Allerdings ist es schwerlich mit religiöser Demokratie und Liberalismus vereinbar, wenn sie auf dieses Recht ein Programm für praktische Zusammenarbeit gründen will.

Zweitens lässt sich der logos, das Wort, in dem die vielfältige religiöse Erfahrung ihren Ausdruck findet, weder vereinheitlichen noch universalisieren. Das Wort des Glaubens spiegelt das Intime, Private wider, die paradoxerweise unaussprechliche Sehnsucht des Einzelnen nach seinem Schöpfer und nach Kontakt zu Ihm. Es reflektiert den numinosen Charakter und die
Fremdheit des Glaubensakts einer bestimmten Gemeinschaft, die dem Angehörigen einer anderen Gemeinschaft völlig unverständlich sind. Es ist daher wichtig, den religiösen oder theologischen logos nicht als Kommunikationsmittel zwischen zwei Glaubensgemeinschaften einzusetzen, denn deren Ausdrucksweisen sind nicht weniger einzigartig als ihre Offenbarungserlebnisse. Die Konfrontation sollte nicht auf der theologischen, sondern auf der allgemein menschlichen Ebene stattfinden, denn dort sprechen wir alle die universale Sprache des modernen Menschen. Tatsächlich liegen unsere gemeinsamen Interessen nicht im Bereich des Glaubens, sondern in den Ordnungen des Säkularen.16 Dort stehen wir alle einem mächtigen Gegner gegenüber, wir alle haben es mit einer beträchtlichen Anzahl wichtiger Belange aufzunehmen. Die Beziehung zwischen zwei Gemeinschaften muss sich nach außen richten und auf die säkularen Ordnungen eingehen, denen Menschen des Glaubens sich gegenüber sehen. Im weltlichen Bereich können wir uns darüber diskutieren, was für Haltungen wir einnehmen wollen, was für Ideen wir entwickeln und was für Pläne wir ausarbeiten. In diesen Dingen können religiöse Gemeinschaften gemeinsame Empfehlungen äußern, was zu tun sei, und Anregungen geben, die dann von der Gesamtgesellschaft in die Tat umgesetzt werden. Unsere gemeinsame Beteiligung an dieser Art von Unternehmungen darf allerdings unser Identitätsbewusstsein als Glaubensgemeinschaft nicht verunklären. Wir müssen uns stets vor Augen halten, dass unsere einzigartige Bindung an G-tt, und unsere Hoffnung und unbändiger Wille zu überleben weder verhandelbar noch rationalisierbar sind, und keinerlei Debatte und Argumentation unterliegen. Die bedeutsame Begegnung zwischen G-tt und Mensch ist eine völlig persönliche und private Angelegenheit, die Außenstehenden unverständlich bleibt – selbst einem anderen Angehörigen derselben Glaubensgemeinschaft. Die göttliche Botschaft ist nicht mitteilbar, denn sie läuft sämtlichen üblichen Informationsmitteln und allen objektiven Kategorien zuwider. Wenn die mächtige Gemeinschaft der Vielen das Bedürfnis empfindet, eine ungute menschliche Situation zu verbessern oder eine historische Schuld abzutragen, dann soll sie das auf der menschlich-ethischen Ebene tun. Aber sobald das Gespräch auf Glaubensfragen kommt, müsste sich einer der Konfrontationspartner der Sprache des Gegners bedienen, und schon das wäre ein Verzicht auf Individualität und Besonderheit.

Drittens, wir Angehörige der Minderheitsgemeinschaft sollten so viel Takt und Verständnis aufbringen, der Mehrheitsgemeinschaft, die ja ihren eigenen Stolz und Verstand hat, keine Änderungen ihrer Rituale oder Korrekturen ihrer Texte vorzuschlagen. Sollten die wahrhaft liberal gesonnen Vertreter der Mehrheitsgemeinschaft gewisse Änderungen für angebracht halten, so werden sie nach ihren Überzeugungen handeln, ohne jeglichen Anstoß von unserer Seite. Wir sind nicht befugt, entsprechende Ratschläge oder Anregungen an sie zu richten. Es wäre nämlich sowohl unverschämt als auch unklug, wenn ein Außenstehender in den privatesten Bereich menschlicher existenzieller Erfahrung eindringen wollte, nämlich die Art und Weise, wie eine Glaubensgemeinschaft ihre Beziehung zu G-tt zum Ausdruck bringt. Wir dürfen uns weder einmischen noch verwickeln in etwas, was uns völlig fremd ist; das ist eine conditio sine qua non [unerlässliche Bedingung] für die Förderung von gutem Willen und gegenseitigem Respekt.

Viertens sind wir auf Grund unserer, durch das Martyrium von Millionen, geheiligten Geschichte sicherlich nicht berechtigt, einer anderen Glaubensgemeinschaft gegenüber auch nur anzudeuten, wir seien darauf gefasst, historische Einstellungen zu überprüfen, in fundamentalen Glaubensfragen Zugeständnisse zu machen und „ein paar“ Differenzen auszugleichen. Ein solches Ansinnen wäre nichts Geringeres als Verrat an unserer großen Tradition und unserem Vermächtnis und würde uns außerdem keine praktischen Vorteile verschaffen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Gemeinschaft der Vielen sich nicht mit Kompromissen und Halbheiten, die nur auf Unsicherheit und innere Leere hindeuten, zufrieden geben wird. Wir können den Respekt unseres Gegenübers nicht erlangen, indem wir uns unterwürfig gebärden. Nur eine offene, aufrichtige und unmissverständliche Haltung, aus der bedingungslose Hingabe an unseren G-tt spricht, ein Gefühl der Würde, des Stolzes und innerer Freude an dem, was wir sind, großer, leidenschaftlicher Glaube an die letztendliche Wahrheit unserer Anschauungen, inbrünstiges Gebet um die Erfüllung unserer endzeitlichen Vision und deren zuversichtliche Erwartung, wenn unser Glaube sich von der Partikularität zur Universalität erheben wird – nur das wird Eindruck machen auf die Angehörigen der anderen Glaubensgemeinschaft, unter denen wir sowohl Freunde als auch Widersacher haben. Es ist Gegenstand meiner Hoffnung und meines Gebets, dass unsere Freunde in der Gemeinschaft der Vielen ihre liberalen Überzeugungen und humanitären Ideale bewähren mögen, indem sie ihre Einstellung zum Recht der Minderheit artikulieren, auf deren eigene Weise zu leben, zu schaffen und G-tt in Freiheit und mit Würde zu dienen.

4.

Unsere Vertreter, die mit den Sprechern der Mehrheitsgemeinschaft zusammenkommen, sollten ähnliche Anweisungen erhalten wie jene, die unser Vorvater Jakob erließ, als er seine Boten seinem Bruder Esau entgegensandte.

וַיְצַו אֶת הָרִאשׁוֹן, לֵאמֹר: כִּי יִפְגָשְׁךָ עֵשָׂו אָחִי, וּשְׁאֵלְךָ לֵאמֹר: לְמִי אַתָּה? וְאָנָה תֵלֵךְ? וּלְמִי אֵלֶּה לְפָנֶיךָ?
וְאָמַרְתָּ: לְעַבְדְּךָ לְיַעֲקֹב – מִנְחָה הִוא שְׁלוּחָה, לַאדֹנִי לְעֵשָׂו; וְהִנֵּה גַם הוּא אַחֲרֵינוּ. וַיְצַו גַּם אֶת הַשֵּׁנִי, גַּם אֶת הַשְּׁלִישִׁי, גַּם אֶת כָּל הַהֹלְכִים אַחֲרֵי הָעֲדָרִים לֵאמֹר:  כַּדָּבָר הַזֶּה תְּדַבְּרוּן אֶל-עֵשָׂו, בְּמֹצַאֲכֶם אֹתוֹ.

„Und er gebot dem Ersten also: Wenn dir begegnet Esaw, mein Bruder, und dich
also fragt: Zu wem gehörst du? und wohin gehst du? und für wen sind diese vor dir? So sprichst du: Deinem Knechte, dem Jaakow; ein Geschenk ist es, gesandt an meinen Herrn, an Esaw; und siehe, er selbst ist hinter uns. Und er gebot auch dem Zweiten, auch dem Dritten, und allen, die hinter den Herden gingen, also: Mit diesen Worten sollt ihr reden zu Esaw, wenn ihr ihn treffet.“ (Genesis 32,18-20).

Was hatte es mit diesen Anweisungen auf sich? Unsere Haltung und Beziehung zur Außenwelt war schon immer ambivalenter Art, zutiefst antithetisch, was manchmal ans Paradoxe grenzte. Wir nehmen Kontakt auf zur Welt Esaus und ziehen uns gleichzeitig von ihr zurück, wir nähern und entfernen uns zugleich. Wenn der Prozess des Näherkommens beinahe vollzogen ist, treten wir sofort den schleunigen Rückzug in die Abgeschiedenheit an. Wir kooperieren mit den Mitgliedern anderer Glaubensgemeinschaften auf allen Gebieten konstruktiver menschlicher Bemühung, aber gleichzeitig mit unserer Einbindung in den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen treten wir den Rückzug an und machen alles rückgängig. Kurz, wir gehören der menschlichen Gesellschaft an und fühlen uns gleichzeitig als Fremde und Außenseiter. Wir sind als Bewohner dieser Erde in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt verwurzelt, und doch spüren wir Einsamkeit und Heimatlosigkeit, als gehörten wir woanders hin. Wir sind Realisten und Träumer, klug und praktisch auf der einen Seite, Visionäre und Idealisten auf der anderen. Wir sind am kulturellen Einsatz beteiligt und doch einer anderen Erfahrungsdimension verpflichtet. Schon unser erster Erzvater Abraham stellte sich mit den Worten vor „Ich bin bei euch ein Fremder und Ansässiger (ger ve-toschaw) – גֵר ותושב אנֹכי עִמכם17. Ist es möglich, beides gleichzeitig zu sein – ger ve-toschaw? Ist diese Definition nicht absurd? Schließlich verletzt sie das zentrale Prinzip klassischer Logik, dass ein kognitives Urteil nicht zwei einander widersprechende Begriffe enthalten darf. Und doch handelte der Jude alter Zeiten diesem altehrwürdigen Prinzip zuwider und begriff sich selbst in widersprüchlichen Kategorien. Er wusste sehr wohl, in welchen Bereichen er seinen Nachbarn seine volle Kooperation anbieten und sich als toschaw, als Einwohner, als Ansässiger verhalten konnte; und an welchem Punkt dieses Gebaren der Kooperation und des guten Willens zu enden hatte und er sich zurückziehen musste, als sei er ein ger, ein Fremder. Er wusste, an was für Vorhaben er sich nach besten Kräften beteiligen konnte, und was für Vorschläge und Angebote, er entschlossen zurückweisen musste, so anziehend und verführerisch sie auch sein mochten. Er war sich der Belange bewusst, wo er Kompromisse machen konnte, wo er nachgiebig sein durfte; und auf der anderen Seite der Prinzipien, über die nicht zu verhandeln war, und der spirituellen Güter, die verteidigt werden mussten – es koste, was es wolle. Die Trennlinie zwischen einer begrenzten Idee und einem auf Unendlichkeit beruhenden Prinzip, zwischen flüchtigen Besitztümern und ewigen Schätzen, war klar und deutlich. In seinen Anweisungen an seine Boten legte Jakob die Regeln nieder:

כִּי יִפְגָשְׁךָ עֵשָׂו אָחִי, וּשְׁאֵלְךָ לֵאמֹר: לְמִי אַתָּה? וְאָנָה תֵלֵךְ? וּלְמִי אֵלֶּה לְפָנֶיךָ? „Wenn dir begegnet Esaw, mein Bruder, und dich also fragt: Zu wem gehörst du und wohin gehst du, und für wen sind diese vor dir?“ Mein Bruder Esau, sagte Jakob seinen Boten, wird euch drei Fragen stellen. „Zu wem gehörst du?“ – Zu wem gehörst du als metaphysisches Wesen, als Seele, als geistige Persönlichkeit? „Und wohin gehst du?“ – Wem ist dein historisches Schicksal verpflichtet? Wem hast du deine Zukunft geweiht? Was ist dein höchstes Ziel, dein endgültiges Anliegen? Wer ist dein Gott, und was ist deine Art zu leben? Diese zwei Fragen beziehen sich auf deine Identität als Angehöriger einer Bundesgemeinschaft. Allerdings, fuhr Jakob fort, wird mein Bruder Esau auch eine dritte Frage stellen: „Und für wen sind diese vor dir?“ – Bist du bereit, mit deinen Talenten, Fähigkeiten und Bemühungen zum materiellen und kulturellen Nutzen der Gesellschaft beizutragen? Bist du bereit, mir Geschenke zu geben, Ochsen, Ziegen, Kamele und Stiere? Bist du bereit, Steuern zu zahlen, das Land zu entwickeln und zu industrialisieren? Diese dritte Anfrage dreht sich um zeitliche Aspekte des Lebens. Darauf sollten Jakobs Boten positiv antworten. „Es ist ein Geschenk an meinen Herrn, sogar an Esau.“ Ja, wir sind entschlossen, an jedem bürgerlichen, wissenschaftlichen und politischen Projekt mitzuarbeiten. Wir fühlen uns verpflichtet, die Gesellschaft mit unseren kreativen Talenten zu bereichern und konstruktive, nützliche Bürger zu sein. Bezüglich der ersten zwei Fragen allerdings – zu wem gehörst du? und wohin gehst du? – befahl Jakob seinen Vertretern, negativ zu antworten, klar und deutlich, mutig und unerschrocken. Er befahl ihnen, Esau zu sagen, dass ihre Seelen, ihre Persönlichkeit, ihre metaphysische Bestimmung, ihre geistige Zukunft und heiligen Verpflichtungen allein G-tt und seinem Diener Jakob gehörten: „deinem Knechte, dem Jakob“, und keiner menschlichen Macht wird es gelingen, den ewigen Bund zwischen ihnen und G-tt zu zerreißen.

Dieses uns von Jakob überlieferte Vermächtnis ist nun im Jahre 1964 sehr aktuell geworden. Wie einst Jakob, sehen wir uns wieder einmal konfrontiert, und unser Gegenüber steht im Begriff, uns eben diese drei Fragen zu stellen: „Zu wem gehörst du? Wohin gehst du? Und für wen sind diese vor dir?“ Eine jahrtausendealte Geschichte verlangt von uns, dass wir dieser Herausforderung mutig begegnen und dieselben Antworten geben, die Jakob vor vielen tausend Jahren seinen Boten auftrug.

Stellungnahme des RABBINICAL COUNCIL OF AMERICA bei DER WINTERKONFERENZ, 3.-5. FEBRUAR 1964

Erfreut nehmen wir zur Kenntnis, dass sowohl in unserem Land als auch weltweit in den letzten Jahren der Wunsch aufgekommen ist, besseres Verständnis und gegenseitigen Respekt unter den Weltreligionen zu suchen. Die derzeitige Bedrohung durch Säkularismus, Materialismus und die moderne atheistische Verneinung der Religion und religiöser Werte macht eine harmonische Beziehung zwischen den Religionen umso dringlicher. Diese Beziehung kann allerdings nur von Wert sein, wenn sie nicht mit der Einzigartigkeit jeder religiösen Gemeinschaft kollidiert, da jede religiöse Gemeinschaft eine individuelle Größe ist, die nicht mit einer Gemeinschaft verschmolzen oder gleichgesetzt werden darf, die ihrerseits einem anderen Glauben anhängt. Jede religiöse Gemeinschaft besitzt ihre innere Würde und ihren metaphysischen Wert. Ihre historische Erfahrung, ihre derzeitige Verfassung, ihre Hoffnungen und Bestrebungen im Hinblick auf die Zukunft können nur in voller geistiger Unabhängigkeit und frei von jeglicher Bezogenheit auf eine andere Glaubensgemeinschaft interpretiert werden. Jeder Vorschlag, den historischen und metahistorischen Wert einer Glaubensgemeinschaft vor dem Hintergrund eines anderen Glaubens zu betrachten, und die bloße Andeutung, eine Revision historischer Grundpositionen sei zu erwarten, sind mit den Grundsätzen von Religions- und Gewissensfreiheit unvereinbar und können nur Zwietracht und Misstrauen hervorbringen. Das ist unzumutbar für jede sich selbst respektierende Glaubensgemeinschaft, die stolz auf ihre Geschichte, aktiv und lebendig in der Gegenwart, und entschlossen ist, in der Zukunft weiter zu leben und G-tt weiterhin auf die ihr eigentümliche Weise zu dienen. Nur eine allseitige vollständige Anerkennung der einzigartigen Rolle, innewohnenden Würde und Grundrechte jeder religiösen Gemeinschaft kann dazu beitragen, den Geist der Zusammenarbeit unter den Religionen zu fördern.

Der Rabbinical Council of America hofft und betet darum, dass jegliche interreligiöse Diskussion und Aktivität sich an diese Schranken halten möge, geleitet durch das Wort des Propheten Micha (4,5): „Denn alle Völker werden einhergehen, jedes im Namen seines Gottes, wir aber werden einhergehen im Namen von HaSchem, unserem G-tt, für ewig und alle Zeit.“

Nachtrag zur Originalausgabe von „KONFRONTATION“

Der folgende Nachtrag wurde von Rabbi Soloveitchik verfasst und zusammen mit dem Aufsatz „Konfrontation“ publiziert (A Treasury of Tradition, New York: Hebrew Publishing Company, 1967, pp. 78-80.)

ÜBER INTERRELIGIÖSE BEZIEHUNGEN

Die jüdische Tradition artikuliert sich in einer Mischung aus Universalismus und Partikularismus. Einerseits sind Juden entscheidend beteiligt an Fragen, die das gemeinsame Schicksal der Menschheit betreffen. Wir sehen uns als Mitglieder der universalen Gemeinschaft und sind dafür verantwortlich, den Fortschritt in allen Bereichen zu fördern, ob wirtschaftlich, gesellschaftlich, wissenschaftlich oder ethisch. Insofern sind wir Gegner einer Philosophie des Isolationismus oder Esoterismus, die Juden als Angehörige einer kulturell abgeschlossenen Gesellschaft betrachtet.

Andererseits sind wir eine gesonderte Glaubensgemeinschaft mit einer einzigartigen Bindung, einer singulären Beziehung zu G-tt und einer ganz speziellen Lebensweise. Wir dürfen unsere Rolle als Träger einer besonderen Beziehung und Bestimmung niemals mit unserer Rolle als Mitglieder der Menschheitsfamilie verwechseln.

In Bereichen von universalem Belang ist uns der Austausch von Gedanken und Eindrücken willkommen. Kommunikation der verschiedenen Gemeinschaften untereinander ist der gemeinsamen Verständigung überaus zuträglich und kann dazu beitragen, unsere Kenntnis der uns alle betreffenden universalen Aspekte des Menschseins zu verbessern und zu vertiefen.

In den Bereichen von Glauben und Religionsgesetz, religiöser Lehre und Ritual sind Juden zu allen Zeiten eine Gemeinschaft gewesen, die sich ausschließlich durch gesonderte Interessen, Ideale und Verpflichtungen leiten ließ. Unsere Liebe und Hingabe zu G-tt sind persönlich und zeugen von einer intimen Beziehung, die mit Menschen, deren eigene Beziehung zu G-tt durch andere historische Ereignisse und unter anderen Bedingungen geformt wurde, nicht zu diskutieren ist. Diskussion ist nicht das geeignete Mittel zur Erhebung oder Heiligung dieser Gefühle.

Von daher sind wir gegen jede Art von öffentlicher Debatte, Dialog oder Tagung, wo doktrinäre, dogmatische oder rituelle Aspekte unseres Glaubens „ähnlichen“ Aspekten einer anderen Glaubensgemeinschaft gegenübergestellt werden sollen. Unser Glaube an unseren Schöpfer und unsere Verpflichtung ihm gegenüber sind von ganz besonderer Art, und wir werden in Dialogen, die sich um solche „privaten“ Dinge drehen, worin sich unsere persönliche Beziehung zum G-tt Israels äußert, unseren Glauben nicht in Frage stellen, verteidigen, entschuldigen, analysieren oder rationalisieren. Wir nehmen an, dass Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften in Bezug auf ihre individuellen religiösen Verpflichtungen ähnlich empfinden.

Somit lehnen wir es ab, über folgende Themen zu disputieren:

Jüdischer Monotheismus und die christliche Lehre von der Dreieinigkeit;

die messianische Idee in Judentum und Christentum;

die jüdische Einstellung zu Jesus;

das Konzept des G-ttesbundes in Judentum und Christentum;

die katholische Messe und der jüdische Gebetsgottesdienst;

der Heilige Geist und die prophetische Inspiration;

Jesaja und das Christentum;

der Priester und der Rabbiner;

Opfer und Eucharistie;

Kirche und Synagoge – ihre Heiligkeit, metaphysische Natur, u. dgl.

An diesen Punkten ist kein gemeinsames Verständnis möglich, denn Jude und Christ operieren mit unterschiedlichen Begriffen und bewegen sich in unvereinbaren Referenz- und Evaluationsrahmen.

Sobald wir uns allerdings aus der privaten Welt des Glaubens in die öffentliche Welt humanitärer und kultureller Bestrebungen begeben, ist Kommunikation zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften wünschenswert und sogar unabdingbar. Wir sind bereit, Zwiesprache aufzunehmen über Themen wie Krieg und Frieden, Armut, Freiheit, die moralischen Werte des Menschen, die Bedrohung durch den Säkularismus, Technologie und menschliche Werte, Bürgerrechte, usw., in denen es um geistig-religiöse Aspekte unserer Zivilisation geht. Innerhalb dieser Bereiche wird die Diskussion selbstverständlich im Rahmen unserer religiösen Anschauungen und Terminologie stattfinden.

Jüdische Rabbiner und christliche Geistliche können über soziokulturelle und moralische Probleme nicht als Soziologen, Historiker oder kulturelle Ethiker in agnostischen oder säkularen Begriffen sprechen. Als Männer G-ttes haben wir Gedanken, Gefühle, Auffassungen und Ausdrucksweisen, die von religiöser Weltsicht geprägt sind. Wir definieren Ideen in religiösen Kategorien und drücken unsere Gefühle in einer eigentümlichen Sprache aus, die einem säkularen Menschen häufig unverständlich wäre. In Diskussionen verwenden wir den religiösen Maßstab und religiöse Sprache. Wir beurteilen den Menschen als G-ttes Ebenbild. Wir definieren moralisches Handeln als einen Akt von Imitatio Dei [Nachahmung G-ttes], usw. Kurz, selbst unser Dialog auf sozio-humanitärer Ebene gründet unweigerlich in universalen religiösen Kategorien und Werten. Diese Begriffe und Werte sind zwar religiöser Natur und biblischen Ursprungs, repräsentieren aber doch das Universale und Öffentliche der Religion – nicht das Individuelle und Private.

Noch einmal: Wir sind bereit, über universale religiöse Probleme zu diskutieren. Wir werden uns jeglichem Versuch widersetzen, über unsere private, individuelle religiöse Bindung zu disputieren.

Veröffentlichung der Übersetzung mit freundlicher Erlaubnis von Rabbiner Haym Soloveitchik


  1. *Ursprünglich englisch in der Zeitschrift Tradition 6 (1964), H. 2, S. 5-28; übersetzt von Konstantin Silov, sprachlich überarbeitet von Dr. Dafna Mach, Jerusalem.

    Anm.d.Üb.: aus den Tiefen, vgl. Psalm 130,1.↩︎

  2. Während der biblische Ausdruck נפש חיה (nefesch chaya – eine lebende Seele) den natürlichen Menschen bezeichnet, bezieht sich Onkelos’ [aramäische Übersetzung] רוח ממללא (ruach memalela – ein sprechender Geist) auf ein typologisch höheres Niveau.↩︎

  3. Maimonides übertrug die Begriffe Gut und Böse (טוב ורעtov ve-ra) ins Ästhetische: „angenehm und unangenehm“. Indem der paradiesische Mensch das göttliche Gebot verletzte und vom Baum der Erkenntnis aß, hob er das Ethische auf und ersetzte es durch das ästhetische Erlebnis (Führer der Unschlüssigen, I, 2).↩︎

  4. Genesis 2,16↩︎

  5. Siehe Führer der Unschlüssigen, I, 63↩︎

  6. Genesis 2,18↩︎

  7. Vokabeln wie das lateinische objectus, von objicere, ‚entgegenwerfen’, das deutsche Wort Gegenstand, das etwas Gegenüberstehendes bezeichnet, und das hebräische Wort für Gegenstand, chefetz (vom Verb chafetz=begehren) mit der Konnotation von ‘etwas besitzen, das intensiv begehrt wird, aber nicht immer erreichbar ist’ sind recht bezeichnend für die Art von Spannung, die mit der logischen Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkennbaren Objekt einhergeht.↩︎

  8. Die Spannung in der Subjekt-Objekt-Beziehung ist nicht das Resultat von Sünde, sondern von Unstimmigkeiten zwischen den Standpunkten der konfrontierten Parteien. Die Haltung des Menschen ist Herrschaft und deren Ausübung, während die ‚Haltung’ der objektiven Ordnung die Unbeweglichkeit, das Fehlen von Reaktion ist. Das erkennbare Objekt weigert sich, dem Subjekt zu willfahren. Die Sünde des Menschen resultierte nicht in Spannung und Widerstand – diese Zustände gab es bereits vor der Verbannung des Menschen aus dem Paradies – sondern in einem Wandel von Spannung zu Frustration, von kreativer und erfolgreicher Tätigkeit zu Niederlage. Indem Er dem Menschen diesen metaphysischen Fluch auferlegte, verfügte G-tt, dass jener trotz all seiner glorreichen Errungenschaften am Ende doch von Tod und Unwissenheit besiegt werden würde. Das Judentum glaubt nicht, dass dem Menschen sein kühner Versuch, das mysterium magnum [das große Geheimnis] des Seins zu enträtseln und die Natur in ihrer Ganzheit zu beherrschen, je gelingen wird. Die kognitiven und technologischen Entwicklungen des Menschen, so das Judentum, haben nur in begrenzten Bereichen des Daseins eine Chance auf Erfolg. קוץ ודרדר תצמיח לך, „Dornen und Disteln lasse [der Acker] dir hervorsprießen“ (Genesis 3,18).↩︎

  9. Genesis 2,19-20↩︎

  10. Genesis 2,20↩︎

  11. Siehe Nachmanides zu Genesis 2,9.↩︎

  12. Anm.d.Üb: Die Beziehung und Bedeutung dieser zwei gegensätzlichen Rollen wird in Rabbi Soloveitchiks Abhandlung The Lonely Man of Faith ausführlich behandelt.↩︎

  13. Genesis 2,18.22↩︎

  14. Die Interpretation von kenegdo als „entgegengesetzt“, „gegeneinander” wurde von den talmudischen Weisen angenommen. Siehe Yevamot 63a.↩︎

  15. Genesis 1:28↩︎

  16. Der Ausdruck „säkulare Ordnung“ wird hier im umgangssprachlichen Sinne verwendet. Für den Gläubigen ist dieser Begriff unzutreffend. G-tt beansprucht den ganzen Menschen, nicht nur einen Teil von ihm, und was immer Er als Ordnung innerhalb des Schöpfungswerkes eingesetzt hat, ist heilig.↩︎

  17. Genesis 23,4↩︎