Alles jüdische Leben zirkelt um die Offenbarung. Ihren Sinn zu ergründen, ihr Wort einzubauen in das Leben, dem Wort Gestaltung zu geben in Tat und Erfüllung, das ist durch alle Generationen jüdischen Seins die Arbeit der Führer und die Arbeit und Kraft der Massen, die um ihre Sendung wissen wollen und in ihrem Sondersein Ziel und Inhalt zu finden sich mühen. Immer wieder aber lockt der Vorgang der Offenbarung selbst die Phantasie, so stark auch das Denken vom Inhalt der Offenbarung angezogen wird. Man weiß im tiefsten, dass dieser Vorgang sich mit den Sinnen angepassten Mitteln der Sprache nicht darstellen, geschweige denn erschöpfen lässt, dass das Wort hier ohnmächtig bleibt, ja, dass es eigentlich gar nicht statthaft ist, die Offenbarung Gottes mit den Mitteln menschlicher Ausdrucksweise sich begreiflich zu machen; und doch lockt und lockt es, sich auszumalen, wie Gott sich offenbart hat, wie er Israel erwählt, wie und was er zu ihm sprach, ehe die große Verkündigung anhob. Die Aggadah ist voll von solchen Versuchen das Unbegreifliche in Begreifliches zu wandeln, das Unaussprechbare auszusprechen.
Wenn man ihre Stimmen liest, muss man wissen, dass es den Sprechern selbst bewusst war, wie wenig wörtlich man das Wort nehmen darf, dass sie selbst das Wort nur prägten, um seinem Sinn Ausdruck zu verleihen, dass es ihnen darauf ankam, aus diesem Sinn Verständnis für die Einzigartigkeit und das Zwingende der Offenbarung am Sinai zu wecken. „Es sagte Rabbi Simon ben Lakisch: eine Vertragsbedingung stellte der Heilige, gelobt sei er, mit seinem Schöpfungswerk, er sprach zu ihm: wenn Israel die Thora annehmen wird, dann wirst auch du Bestand haben; wenn nicht, so stürze Ich die Welt ins Chaos zurück“ (Schabbath 88a)
In der naiven Sprache des Midrasch wird hier ein Gedanke von gewaltiger Wucht in das Denken des Lesers oder Hörers eingepflanzt, der Gedanke von der unauflöslichen Verbindung der Welt in ihrem Naturhaften, in ihrem Geschaffensein, ihrer Geschöpflichkeit mit der vom Menschen her zu lösenden Aufgabe der Verwirklichung einer sittlichen Welt. Mehr noch als nur Verbindung, die Abhängigkeit des Naturhaften vom Sittlichen, die Zweitrangigkeit des Biologischen gegenüber der Erstrangigkeit des Geistigen und Sittlichen kommt hier zu klassischem Ausdruck. Um mit Worten heutiger theologischer Diskussion zu reden, die Schöpfungsordnungen werden nicht als letztes Wort der göttlichen Schöpfung hingestellt, als absolut in ihrem Wert; sie werden dem sittlichen Gedanken, der sittlichen Zielsetzung der Thora unterstellt. Die Welt ist geschaffen um der Verwirklichung der über das Biologische hinausgehenden sittlichen Aufgaben willen, und sie hat nur um derentwillen und von ihnen her ein Daseinsrecht.
Israel selbst fällt in diesem Aggadahwort die Rolle eines ersten Empfängers zu, mehr aber auch nicht. Feststellung der geschichtlichen Tatsache, dass Israel in der Welt jener Tage der Einzige war, der für den Sinn der Offenbarung aufgeschlossen war und sie darum annahm. Und Ausdruck der Gewissheit, dass wenn immer jener Sinn vergessen wird, die Welt außerhalb des Chaos bleibt, solange Israel wenigstens an der Offenbarung festhält und sie nicht preisgibt.
Ungeheure Verantwortung, die damit auf Israel gelegt ist!
Welcher heroische Entschluss, sie zu tragen! Aber hängt es denn von Israel ab, hing es von ihm ab, ob es den Auftrag übernehmen will, ob es der Sendung gehorchen will?
Eine andere Aggadah von der Offenbarung am Sinai scheint dem zu widersprechen: (Schabbath 88a) „Es sagte Raw Awdimi bar Chama bar Chassa: Gott stülpte über Israel den Berg gleich einem Kessel und sprach zu ihm: nehmt ihr die Thora an, gut, weigert ihr euch – dann ist hier sofort euer Grab.“
Ein merkwürdiges Wort. Zunächst sträubt man sich gegen solch einen Ausspruch. Wo ist der freie Wille? Wo bleibt hier Israels Verdienst um die Ausbreitung des Gotteswortes? Vielleicht ist das im tiefsten der Sinn und die Absicht dieses Midraschs. In Wahrheit, es gibt kein Verdienst Israels, wie irgendeines Volkes, irgendeines Menschen. Allesamt sind wir von Gott Geführte; wohl dem, der um diese Führung weiß und willig und freudig sich ihr anvertraut, nicht erst zu ihr gezwungen werden muss. Mensch oder Volk, ein jedes wird von Gott geführt und dahin geleitet, wohin Gott es setzen will, wo er ihm seine Arbeit zuweist, und es hat keine Wahl, denn in dieser Sendung ruht sein Sein; fügt es sich nicht, verliert es Sinn und Recht seines Seins.
Wo aber bleibt die Freiheit des Willens? Unlösbares Rätsel der menschlichen Existenz. Der Rabbi, der jenen Ausspruch tat, überließ das Sinnen darüber den Philosophen. Und er selbst begnügte sieh damit: zu sagen, dass Sendung und Aufgabe immer ein Muss ist, dass sie wie ein Zwang zu den Menschen kommen, dem man nicht entrinnen kann, es sei denn, man gebe sein Leben verloren. Wenn der Einzelne in Israel sich dieser Sendung entziehen will, er meint, er könne wollen, und doch bleibt er der Sendung verhaftet und wird in sie hineingezwungen.
Gemeinschaft, das ist der letzte Sinn dieses Midraschs, ist nicht, wie ein Jahrhundert dachte, nur vom Willen des Einzelnen abhängig. Gemeinschaft ist ein Zwingendes, das den Einzelnen packt und ihn hineinreißt in Zusammenhänge, die Herr über ihn sind, denen er sich nicht entwinden kann. Gemeinschaft ist nicht eine Sammlung von Atomen, die zueinander streben, sondern ein Vorhandenes, Geschaffenes, Geschicktes, zu dem man gehört, in dem der Grundstock des Lebens ist und ohne das man dem Tod und der Vernichtung anheimgegeben ist. Wie aber soll man denn die Kraft haben, um das Recht der Gemeinschaft zu wissen, wie die Kraft haben, der Sendung sich anzugeloben und die ungeheure Verantwortung zu tragen? Hat denn jeder die Kraft dazu? Sie ist das Gewaltigste, erfordert ein tiefes Wissen um die Untergründe und Hintergründe allen menschlichen Seins, des persönlichen und des gemeinschaftlichen, hat jedermann dazu die Kraft, kann man sie jedem zutrauen? Antwort darauf gibt wiederum ein Midraschwort: „Komm und erkenne, wie Gottes Stimme sich erging. Sie kam zu jedem in Israel nach dem Maße seiner Kraft, zu den Alten nach ihrer Kraft, zu den Jungen nach ihrem Vermögen, zu den Kindern nach ihren Möglichkeiten, zu den Frauen nach der Art ihrer Kräfte, und zu Mose auch entsprechend seiner Kraft.“ (Schemoth rabbah V, 9) Wir haben hier den Ausdruck des gläubigen Vertrauens, dass Gott niemand über seine Kraft zumutet, niemand mehr Last der Verantwortung auf die Welt auflädt, als er tragen kann, dass niemand von der Sendung erdrückt wird. Die ewige Wahrheit ist hier kundgetan, dass zwar niemand die Fülle des Ganzen zu ergründen vermag, niemand alle Seiten der göttlichen Mitteilung zu erfassen imstande ist, dass es aber jedermann gegeben und jedermann möglich ist, einen Teil des Ganzen zu ergründen, dass jedermann das erfassen kann, was gerade zu ihm spricht, und dass etwas zu jedermann dringt. Und niemand trägt das Ganze der, sonst untragbaren, Verantwortung, jeder trägt nur seinen Teil, den Teil, den er aus seiner Fassungskraft versteht. Und dieses Teilchen, das zu einem dringt, um das er sich müht, ist für ihn dem Ganzen gleich; es ist, als ob er damit Träger des Ganzen geworden wäre, so wie am Sinai auch jeder nur den Teil erfasste, der ihm gemäß war, und doch damit Träger des Ganzen wurde. Wo aber hört man die Stimme des sich offenbarenden Gottes? Von woher ertönt sie? Wo muss man sein, um sie am deutlichsten zu vernehmen? Wiederum antwortet darauf ein Midrasch. (Schemoth rabbah V, 9) „Als der Heilige, gelobt sei er, am Sinai die Thora gab, tat er mit seiner Stimme Israel Wunder über Wunder kund. Wie das? Der Heilige, gelobt sei er, sprach, und die Stimme fuhr aus und fuhr durch die ganze Welt, und Israel hörte die Stimme von überall her. Sie kam zu ihm von Süden her, alles lief dorthin, um die Stimme aufzunehmen, da sprang sie um, und es war, als käme sie von Norden. Alles lief dorthin, da war die Stimme im Osten. -Man lief nach Osten, und wieder veränderte die Stimme ihre Richtung und kam nun von Westen. Man drängte sich zum Westen, da sprang die Stimme um, und sie erklang vom Himmel her. Alles schaute zum Himmel auf, wieder erfuhr die Stimme eine andere Richtung, und nun kam sie von der Erde her. Da sprachen die Israeliten einer zum andern: die Weisheit, von woher findet man sie? und wo ist der Ort der Einsicht (Hiob 28 12)?“ Kann man es plastischer, kindlicher und zugleich tiefer aussprechen, dass Gottes Stimme von überall her zu uns tönt, dass der Mensch nicht hierhin und dorthin zu laufen braucht, sie besser zu hören, dass sie ihn an jeglichem Ort anspricht?
Die ganze Welt der Schauplatz der Offenbarung, kein Fleckchen, das nicht von ihr durchhallt ist, überall ertönt vernehmlich ihr Laut, zu jedermann vermag er zu dringen, „voll ist die ganze Erde Seiner Erscheinung“.
Veröffentlicht am 8. Dezember 2013 – 5 Tevet 5774