Christentum, Interreligiöses

Zum Israel-Sonntag

Auf deine Mauern, Jeruschalajim, habe ich Wächter bestellt, den ganzen Tag und die ganze Nacht, nie sollen sie schweigen; die ihr anrufet den Ewigen, euch sei keine Rast, Und lasst ihm keine Rast, bis er aufrichtet und macht Jeruschalajim zum Ruhm auf Erden! Geschworen hat der Ewige bei seiner Rechten und dem Arme seiner Macht: Ich werde dein Korn nicht wieder deinen Feinden zur Speise geben, und Fremde dürfen nicht mehr deinen Most trinken, mit dem du dich abgemüht hast; Sonder, die jenes eingesammelt, die werden es essen und den Ewigen lobpreisen; die diesen gelesen, werden ihn in meinen heiligen Höfen trinken! – Ziehet, ziehet durch die Tore, räumet die Steine hinweg, erhebet ein Panier über die Völker! Siehe, der Ewige lässt verkünden, bis an der Erde Ende: Sprechet zu der Tochter Zions: Siehe, dein Heil ist da, siehe sein Lohn ist mit ihm und seine Vergeltung vor ihm her! Da wird man sie nennen: Heiliges Volk, von G-tt Erlöste; dich nennt man: Ersehnte, nicht verlassene Stadt! Jesaja 62:6-12 in der Übersetzung von L.H. Löwenstein und S. Bamberger

Welch ein verheißungsvoller Text, welch eine herrliche Zukunft wird da in Aussicht gestellt. Ein wahrer Triumphmarsch und mir stehen noch die Bilder von der Fußball Weltmeisterschaft vor Augen, die Autokorsos mit ihren Fahnen und Flaggen im Triumphmarsch durch die Straßen, egal ob mit deutschen oder ganz zum Schluß mit italienischen.
„Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!“ Und besser übersetz müßte es sogar heißen, richtet ein Panier auf, ein Feldzeichen, ein Zeichen des Sieges. Und so wunderbar geht es weiter, „man wird sie Heiliges Volk, Erlöste des HERRN“ nennen.
Seit langer Zeit erklingen in den Kirchen der Welt diese Worte aus dem Jesajabuch, in der Adventszeit oder in den evangelischen Kirchen am Reformationstag. Lange Zeit wurde über diese Worte gepredigt, oftmals mit einem mehr oder weniger verstecken Gefühl des Triumphes. Eins zu eins wurde und wird alles auf die Christen oder gleich auf die gesamte Kirche übertragen. Es wird unser Triumphmarsch sein, endlich werden wir, die wir soviel Entbehrungen um unseres Glaubens willen tragen müssen zu den Siegern gehören. Zwar steht dieser Tag noch aus, aber eigentlich ist es jetzt doch schon klar und wir müssen uns zwar noch gedulden, aber der Tag wird kommen.
Dieser Text erklingt aber nicht nur in den christlichen Kirchen, sondern auch in den Synagogen dieser Welt, auch hier in Kassel. Ein Wort des Trostes soll er sein, denn hinter den Juden liegt jetzt Ende August eine Zeit der Trauer, der Erinnerung an die schweren Schläge, die dieses Volk immer wieder erfahren mußte. Vor wenigen Wochen war der Trauertag Tischa be Aw, der neunte Tag des jüdischen Monats Aw, ein Tag an dem all das Leid, daß über dieses Volk hinwegzog und sich tief in seine Seele eingebrannt hat, in einem Punkt verdichtet: am 9. Aw wurde der erste Tempel in Jerusalem durch die Babylonier zerstört, am 9. Aw zerstörten römische Truppen den zweiten Tempel in Jerusalem und richteten unter den Bewohnern des Dorfes Bethar ein Gemetzel an, am 9. Aw des Jahres 1290 wurden die Juden aus England vertrieben, ebenso fast 200 Jahre später aus Spanien. Am 9. Aw begann der Erste Weltkrieg, in dem viele jüdische Soldaten in den Armeen ihrer Heimatländer kämpften und starben. Auch am 9. Aw der Jahre 1942, 43 und 44 stand eine schwarze Wolke über den Krematorien in Auschwitz.
Gegenüber all diesem Leid sollen diese Worte das Volk Israel trösten und zu aller erst das Volk Israel, damals in der schweren Zeit nach dem Exil in Babel und heute angesichts einer Geschichte der Unterdrückung, Verfolgung und Ermordung. Denn es ist das Volk Israel gemeint, wenn hier von dem „heiligen Volk“, „den Erlösten des HERRN“ die Rede ist, denn G-tt hat zu aller erst Israel zu seinem Volk erwählt.
Wir Christen können diese Worte der Erwählung Israels durch G-tt nicht einfach eins zu eins auf uns übertragen, uns wie selbstverständlich an die Stelle Israels setzen, Israel aberkennen, daß es das Volk G-ttes ist und bleibt. Aber genau dies ist seit dem Beginn der Christenheit immer wieder geschehen und gerade am heutigen Sonntag, dem sogenannten Israelsonntag ist dieser Irrweg oftmals besonders deutlich geworden. Dort Israel und damit die Juden als das Volk des alten Bundes, die Jesus nicht als den verheißenen Messias anerkannt haben, ihn sogar an das Kreuz gebracht haben, die G-tt daher verworfen hat, hier die Christen als das neue, das wahre Volk G-ttes, strahlend und als Siegerin wie es so bildhaft an mittelalterlichen Kirchen zu sehen ist: Hier die strahlende Statue der Ecclesia, der Kirche mit Krone und Siegesfahne, dort die gedemütigte Synagoge, mit verbundenen Augen, gebrochener Lanze, abgewandt vom Ort des Heils, verstoßen. Blutig und grausam sind die Folgen dieses Weges für Israel gewesen, nirgends sicher vor Verfolgung, Erpressung und Mord.
Erst langsam besinnen sich Christen, Kirche und Theologie eines neuen Weges und wir stehen erst am Anfang dieses Weges. Alte Vorurteile halten sich lange und so hatte ich selber noch vor wenigen Jahren das zweifelhafte Vergnügen am Israelsonntag eine Predigt über die Ankündigung der Zerstörung des Tempels durch Jesus zu hören. Ihre Hauptaussage bestand darin, daß die Juden mehr oder weniger selber an dieser Zerstörung schuld wären und sich darin ihre Verwerfung durch G-tt gezeigt hätte. Eine Aussage, die vielen von uns doch geläufig ist, sind viele von uns doch damit groß geworden, das starre, umbarmherzig gesetzliche und verblendete Judentum als schwarze Folie auf der sich um so strahlender die Botschaft der Kirche abbildet. Die Kirche als das neue, das wahre und einzige Volk G-ttes, Israel von G-tt verworfen, da es seinen Sohn verworfen hat.
Und nur langsam ist eine neue Erkenntnis gereift: Können wir einem G-tt vertrauen, einem G-tt der sein Volk, daß er erwählt hat, dem er sich offenbart hat, dem er seine Treue verheißen hat, verwirft? Wäre das nicht ein G-tt, den wir fürchten müßten, vor dem wir erstarren müßten, aus Angst, daß auch unser Maß irgendwann voll wäre und er uns seine versprochene Treue entziehen würde? Wäre das ein G-tt, dessen Verheißungen wir vertrauen, auf den wir im Leben und im Sterben hoffen könnten? Und so kann die Erkenntnis, daß G-tt sein Volk nicht verworfen hat, sondern bis heute in Treue zu ihm steht meinen Glauben stärken und trösten. Kann ich so doch glauben, daß G-tt treu zu seinen Verheißungen steht, die er uns Christen in seinem Sohn offenbart hat. So kann mein Glaube, meine Hoffnung mich tragen, da ich weiß, daß ich mich im Letzten auf G-tt verlassen kann. Und so ist mir das Volk Israel ein Zeichen für die Treue G-ttes, der sich auf seine Treue festgelegt hat, auf dessen Treue ich mich verlassen kann.

Viele Christen stoßen sich an dieser Aussage, sehen in ihr eine Gefahr für ihren Glauben denn warum sollten die Menschen dann noch an Jesus Christus als den Sohn G-ttes glauben, gelten dann anscheinend die Aussagen des Neuen Testamentes, daß Jesus der Weg und die Wahrheit ist, nicht mehr. Und heißt es nicht „Niemand kommt zum Vater denn durch mich?“. Wird dies alles nicht damit für falsch erklärt, das Zentrale des christlichen Glaubens preisgegeben, daß nur in Christus der Weg zu G-tt zu finden ist?
Der bedeutende jüdische Gelehrte Franz Rosenzweig stand in einem engen brieflichen Kontakt zu einem Cousin. Dieser zweifelte viele Jahre an seinem jüdischen Glauben und konvertierte schließlich zum Christentum. Ihm erschien das Christentum als der einzig gangbare Weg um zu dem G-tt seiner Mütter und Väter zurück zu finden. Rosenzweig akzeptierte diesen Weg seines Cousins. In einem Brief an Rosenzweig erwähnte er, daß Jesus spricht: „Niemand kommt zum Vater, denn durch mich.“ Rosenzweig antwortete, daß dies für die Juden ja wohl nicht gelten könnte, denn schließlich wäre sie schon längst beim Vater. Eine Sichtweise, die uns helfen kann, die Bedeutung Christi für die Welt und die bleibende Erwählung Israels zusammen zu sehen und zu denken.
Dies zu akzeptieren fällt vielen Christen auch heute noch schwer, erscheint es ihnen doch als Rückstufung ihres Glaubens, aber genau das will es nicht sein. Begreifen wir es doch als wunderbares Geschenk, daß uns Menschen aus den nichtjüdischen Völkern G-tt durch Christus, der als Sohn Israels Mensch geworden ist, hineingerufen hat in seine Verheißungen, in seine Treue. Durch seinen Sohn hat sich G-tt nicht nur uns Menschen aus den Völkern offenbart, sondern verweist uns an seine Geschichte mit seinem Volk. Begreifen wir die unüberwindbare Trennung zwischen Juden und Christen nicht als tiefsitzenden Stachel, sondern als ein Geheimnis G-ttes und verlassen wir uns auf seine Verheißung, daß Juden und Christen auf dem Weg zu ihm sind.
Wenn dies unseren Glauben bestimmt und nicht ein Gefühl des Triumphes gegenüber des Judentums. Wenn Israel nicht mehr die dunkle Folie ist auf dem sich die christliche Botschaft scharf abzeichnet, sondern sie bestimmt ist von dem Glauben an den G-tt, der seinem Volk und den Christen seine Treue verheißen hat, so müssen auch neue Schritte in dem Verhältnis von Juden und Christen gegangen werden.
An welchen Leitlinien auf christlicher Seite sollte sich eine neu Bestimmung der Verhältnisse, der Versuch eines echten Gespräches orientieren? Hierzu zum Abschluß einige Überlegungen:
Begehen wir nicht dem Fehler von dem einen Extrem in das andere umzuschlagen. Auf der jüdischen Seite gibt es den Satz „Früher haben uns die Christen mit der Hand erstickt, heute tun sie es mit ihrer Umarmung.“ Knapp 1500 Jahre der Schuld der Christen gegenüber den Juden können, gerade hier in Deutschland, nicht in einer Generation ungeschehen gemacht werden. Behutsamkeit ist erforderlich, Geduld, und ein gutes Zuhören. Auf jüdischer Seite stört es niemanden, wenn wir Christen uns zu unserem Glauben bekennen, eher im Gegenteil, man mag nicht die Weichspülchristen, die sich erst einmal für ihren Glauben stundenlang entschuldigen. Dies Bekenntnis kann aber nicht eine herabstufende Sicht auf die Juden beinhalten. Es darf ihm keine Missionsabsicht gegenüber der jüdischen Seite innewohnen, soll ein ehrliches und aufrichtiges Gespräch möglich sein.
Wir müssen unsere Augen öffnen, um die Wurzeln unseres Glaubens, unseres G-ttesdienstes im Judentum zu sehen, aber auch, daß sich die Wege getrennt haben. Wir müssen unsere Augen öffnen für die christlichen Traditionen, die durch einen Antijudaismus geprägt sind oder zu diesem führen können.
Beachten wir, daß das Volk Israel, die Juden nicht gleich der Staat Israel ist. Deutsche Juden wollen mit uns deutschen Christen über die Möglichkeiten der Verständigung und Zusammenarbeit hier in Deutschland sprechen und diskutieren und nicht als Anlaufstelle dienen für das all das, was man zu der Politik des Staates Israel immer schon mal sagen wollte. Hüten wir uns in unserer Meinung zum Konflikt im Nahen Osten vor vorschnellen Urteilen und davor in alte, sich immer noch zäh haltende Antisemitismen zu verfallen. Die Erfahrung der letzten Jahre lehrt, daß der Grat zwischen der berechtigten und ausgewogenen Kritik an der Politik Israels und antisemitischer Haltung, die sich als Kritik am Vorgehen des Staates Israels tarnt, schmal ist und in den letzten Wochen angesichts des Kampfes der israelischen Armee und der Hisbollah anscheinend immer schmaler geworden ist, jedenfalls wenn man sich in Internetforen und Leserbriefen umschaut.
Wir stehen ganz am Anfang dieses Dialoges und zu einem Anfang jeder menschlichen Beziehung gehört, daß man sich kennenlernt, dem anderen sorgsam zuhört, offen für ihn ist. Aber auch, daß man sich seines eigenen Glaubens, der eigenen Tradition sicher ist.
Daß dieser Dialog gelingen mag, das schenke der G-tt, der sich Israel in der Tora gezeigt hat, der sich uns Menschen aus den Völkern in seinem Sohn Jesus Christus gezeigt hat, der treu zu seinen Verheißungen steht, auf den Juden und Christen hoffen und in dessen Auftrag sie diese Welt zu einer besseren machen sollen.

Kategorie: Christentum, Interreligiöses

von

Avatar

Sven Pernak ist evangelischer Theologe, er schreibt auf talmud.de über die "Aussensicht" auf das Judentum und das jüdisch-christliche Verhältnis.