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Vom Baum des Lebens essen – Franz Kafka und sein Judentum

„Ich denke mir“, schrieb Walter Benjamin, „dem würde der Schlüssel zu Kafka in die Hände fallen, der der jüdischen Theologie ihre komischen Seiten abgewönne.“ Diese Aussage überrascht sicherlich zunächst. Das Adjektiv „komisch“ wird ohnehin selten mit Franz Kafka assoziiert. Zudem ist zwar allgemein bekannt, dass Kafka aus einer israelitischen Familie stammte, doch wurde der jüdische Aspekt seiner Werke aus zwei Gründen eher vernachlässigt: Erstens wurde er als deutschsprachiger Autor meistens von Germanisten interpretiert, die Anspielungen auf jüdische Hintergründe leicht übersahen – auch wenn es einzelne Arbeiten aus der Judaistik gibt und gerade Max Brod diesen Aspekt immer wieder betonen wollte. Allerdings tritt keine der Figuren in Kafkas Werken als Jude, oder gar als gläubiger Jude auf. Zweitens beklagte Kafka selbst seine mangelhafte jüdische Bildung, weshalb man oft nachlässigerweise davon ausging, er habe von der eigenen Religion und Kultur zu wenig gewusst, als dass sie ihn hätte prägen können.

Kafkas jüdische Bildung
Kafkas eigenes Wissen über das Judentum ist somit zunächst grob zu umreißen, um Missverständnisse auszuräumen. Er war nach eigenem Verständnis stark assimiliert. Besonders in dem berühmten „Brief an den Vater“ beschreibt er seine Furcht davor, an die Torah gerufen zu werden und sich zu blamieren. Dieser Brief hat das Bild des Juden Kafka geprägt. Sein profundes Wissen über das Judentum ist jedoch in seinen Tagebüchern und Aphorismen nachzulesen. Er lernte Hebräisch, er schrieb über die jiddische Sprache, er diskutierte mit den engsten Freunden – fast durchweg ebenfalls Juden – über seine Religion. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich daraus, dass das Verständnis von Orthodoxie und Assimilation im Prag des vergangenen Jahrhunderts ein anderes als im heutigen Europa war – die Ansprüche an religiöse Bildung, Strenge und Hingabe waren deutlich höher, da sie am einflussreichen Chasidismus gemessen wurden. Die mystische Ultraorthodoxie galt als Maß dessen, was frommes Judentum sein sollte; die Großeltern der assimilierten Generation kannten noch das Leben im Ghetto, weshalb Dinge, die heute auch für fromme Juden selbstverständlich sind, damals noch als aufregend goisch galten. Kafka unterschätzte seine jüdische Bildung daher vermutlich selbst.

Er kam mit der orthodoxen Tradition in enge Berührung, nicht nur in der Familie, sondern auch durch Kontakte, die er bewusst suchte: Seine Besuche im jiddischen Theater und seine Gespräche mit chassidischen Rabbinern waren deutlich häufiger als seine Besuche zionistischer Veranstaltungen. Verblüffend deutlich tritt der Zusammenhang zwischen Judentum und Kafkas Werken jedoch hervor, wenn man berücksichtigt, zu welcher Zeit des Jahres sie geschrieben wurden: Wie Tagebuchnotizen beweisen, verfasste Kafka alle „wichtigen“ Textstellen zwischen dem Beginn des Monats Elul und dem Tag nach Yom Kippur, also in der Zeit, die für Einkehr und Buße vor dem jährlichen g’ttlichen Gerichtsurteil über den Menschen bestimmt ist! Teschuva bedeutete für ihn die schriftstellerische Auseinandersetzung mit der menschlichen Schuld; vor diesem Hintergrund ist es auch zu verstehen, wenn er vom „Schreiben als Gebet“ sprach.

In Kafka ausschließlich das Jüdische sehen zu wollen, ist jedoch falsch. Dann ließe sich der Welterfolg seiner Werke, die Juden wie Nichtjuden gleichermaßen anrühren, auch schwerlich erklären. Kafka war tief religiös – Max Brod bezeichnete das Religiöse sogar als zentralen Punkt von Kafkas Schriften – doch nicht im Sinne konkreter Halacha, sondern vielmehr in der Form abstrakter Transzendenz. Seine Vorstellung von Ideen, die sich in der konkreten Welt nur in verunreinigter Form wiederfinden, und zu deren reiner Erkenntnis man nur mit viel Glück vorzudringen weiß, ist nicht nur kabbalistisch, sondern auch platonisch. Doch soll es hier nicht um die – gar nicht zu leugnenden – nichtjüdischen Einflüsse auf Kafka gehen. Auch Deutungen, die Psychologie oder Gesellschaftskritik in den Mittelpunkt stellen, sind in überreicher Anzahl vorhanden. Die Parallelen zwischen religiösen Motiven und seinen Werken sind aber ebenfalls derart eng, dass sie eine besondere Würdigung erfordern. Dabei hat Kafka ein Judentum als Grundlage nutzen können, das er erlebte: Eine folkloristisch mehr denn religiös geprägte, zwar schon mit Aufklärung durchsetzte und ironisch gebrochene, aber immer noch mystische Welt. Viele volkstümliche Elemente des Judentums wurden damals mit Selbstverständlichkeit auch in assimilierten Familien weitergeben. Die Behauptung, Kafka habe vom Judentum kaum etwas gewusst, ist somit ein Missverständnis.

Kafkas jüdische Motive
Wie bereits erwähnt, schrieb Kafka hauptsächlich in der Zeit um die Hohen Feiertage. Da er sonst nicht häufig in die Synagoge ging, kannte er nur die gedrückte, um Schuld und Urteil kreisende Liturgie und Stimmung, die durchaus nicht für das Judentum, aber speziell für diese Zeit des jüdischen Kalenders bezeichnend ist. Das Motiv des heraufziehenden Gerichts beeindruckte Kafka offenbar und animierte ihn zur schriftstellerischen Tätigkeit. Das plötzlich in den Alltag einbrechende, transzendental zu verstehende Gerichtet-Werden hat er im „Prozeß“ aufgenommen. Um zu seinem Verhandlungsort zu gelangen, muss Josef K. Treppen hinaufsteigen, sogar bis zum Dachboden, wo die Gerichtskanzlei zu finden ist – doch dies sind nur niedrige Instanzen, relativ einflusslos und schmutzig, die dortigen Verhandlungen sind vulgär. Die populäre kabbalistische Vorstellung, dass nicht nur mehrere Stufen der Reinheit bestehen, sondern auch ein recht verwirrendes System von „Kammern“ zum g’ttlichen Gericht führt, in denen Gebete – die „Eingaben“ im „Prozeß“ – verloren gehen können, spiegelt sich in den Irrgängen und Vorzimmern von Kafkas Geschichte. Gerade an Kippur fleht man, die Gebet mögen zum Himmel „aufsteigen“ – und, so war der ursprüngliche Gedankengang hinter dieser Liturgie, nicht irgendwo auf dem Weg zum Heiligen-gelobt-sei-Er „stecken bleiben“.

Auch die berühmte Türhüter-Parabel, die in den genannten Roman eingearbeitet wurde, entstammt der kabbalistischen Tradition: Laut der „Sohar“ wird die Torah – wie so häufig als Baum dargestellt – von einem Türhüter beschützt, auf dass nur der eintreten soll, der sich nicht fürchtet und würdig ist. Wenn Kafka vom „Gesetz“ spricht, ist meist die Torah gemeint. Dies gilt wohl auch für den kurzen Prosatext „Zur Frage der Gesetze“, wenn er schreibt: „Die Gesetze sind ja so alt, Jahrhunderte haben wir an ihrer Auslegung gearbeitet, auch diese Auslegung ist wohl schon Gesetz geworden, die möglichen Freiheiten bei der Auslegung bestehen zwar immer noch, sind aber sehr eingeschränkt“. Hier erscheint das Dilemma des Verhältnisses zwischen schriftlicher und der mündlicher Torah, sowie der Streit, ob eine progressive Halacha denkbar ist. Wenn im selben Text Kafka sich beschwert, eine kleine Adelsgruppe halte eigentlich unberechtigterweise die Macht über die Gesetze, wird einem jüdisch sozialisierten Leser eventuell die Korach-Geschichte ins Gedächtnis kommen. Näher liegt aber wohl der Vergleich mit der überragenden Stellung des Rabbiners in der chasidischen Gemeindestruktur. Nebn den Motiven erinnert auch die Sprache Kafkas, das schlichte, eindringliche, vokabelarm-treffende, an die großen hebräischen Texte.

Ganz gezielt auf jüdische Vorstellungen griff Kafka in seinen Aphorismen zurück. Besonders das Bild vom Baum der Erkenntnis gestaltete er immer wieder um: Wir seien nicht nur deshalb sündig, weil wir von diesem probiert, sondern auch, weil wir vom Baum des Lebens eben noch nicht gegessen hätten. In den Prosatexten abstrahierte er die jüdische Bildersprache stärker, weshalb die Hinweise auf jüdische Mythen nicht immer offensichtlich sind. So verhält es sich auch mit seinen Frauengestalten, insbesondere denen des „Prozesses“. Das Buch enthält für Kafka ganz untypisch erotische Passagen. Dabei geht es jedoch nicht um echte Liebes-, ja nicht einmal um echte sexuelle Beziehungen. Das Weibliche wird nicht als Romanfigur, sondern als Prinzip eingeführt. Josef K. ist sich sicher, dass die Frauen (man bemerke den Plural!) bei Gericht noch am ehesten etwas für ihn erreichen könnten. Auch dies ist eine Vorstellung der Kabbala: Die Schechina als reine weibliche Kraft kann beim Gerichtsspruch der Anklage entgegengesetzt werden, auf der Anderen Seite droht das Dämonisch-Weibliche, das ebenfalls urteilsentscheidend sein kann. Einige Kafka-Interpreten wollten daher in der Figur der sinnlichen Frau des Gerichtsdieners eine Darstellung von Lilith sehen. Dies kann, bleibt zu ergänzen, auch für Leni, der begehrenswerten Haushälterin des Anwaltes Dr. Huld, gelten. Das unheilsam Verführerische wurde wirklich Lilith zugeschrieben; deren positive Reinterpretation durch den Feminismus war Kafka naturgemäß noch gänzlich fremd. Dennoch wirkt die Verbindung zunächst weit hergeholt. Erst durch die weiteren Notizen Kafkas erhärtet sich der Verdacht: Er beschreibt eine streng orthodoxe Brit Mila und spricht von den Amuletten, die das Neugeborene vor dem Einfluss von Dämonen schützen sollten. Diese enthalten, wie einigen vielleicht noch bekannt ist, den Namen Liliths. Dieser Brauch hat Kafka offenbar so stark beeindruckt, dass er ihn niederschrieb. Ob er im „Prozeß“ wirklich eine Skizze der alten mystischen Figur zeichnen wollte, ist dennoch unwahrscheinlich, zumindest ungeklärt. Die große Macht der Frauen, ihre Fähigkeit zur Reinheit, aber eben hauptsächlich ihre gefährliche Sinnlichkeit als Faktoren, mit denen man vor dem g’ttlichen Gericht zu rechnen hatte, sind zumindest kabbalistische Motive.

Auch die Übersetzung einiger von Kafka verwendeter Begriffe und Namen ins Hebräisch kann erstaunliche Ergebnisse hervorbringen: So heißt der Anwalt aus dem „Prozeß“ mit Nachnamen „Huld“ – die gängige Übersetzung für „Chesed“, die Eigenschaft, die nach chassidischer Vorstellung ein g’ttliches Gerichtsverfahren noch beeinflussen kann. Und der „Mann vom Lande“, der Zugang zum Gesetz verlangt, wird zum „Am Ha-Aretz“, eine häufige Umschreibung für jemanden, der die Torah nicht kennt. Womit die Frage, ob es sich um ein weltliches oder ein transzendentales Gesetz handelt, nach dem der Genannte strebt, von selbst beantwortet wäre.

Franz Kafka war somit in vieler Hinsicht jüdischer, als manche Leser glauben. Er war vermutlich auch jüdischer, als er selber glaubte, wenn er beklagte, er habe den „letzten Zipfel“ des davon flatternden jüdischen Gebetsschals, an den die Zionisten sich noch klammerten, nicht mehr erreichen können. Diesen Zipfel eines vom Winde verwehten Tallit der ostjüdischen Ghettos mag er tatsächlich verfehlt haben. Doch er hat etwas Erstaunlicheres erreichen können: Ihm gelang, wie einigen großen jüdischen Denkern in den Jahrhunderten zuvor, einen neuen Gebetsschal auszubreiten und den uralten Geschichten eine so moderne Wendung zu geben, dass diese ihre Bedeutung und zwingende Faszination beibehielten. Die Frage, ob man die Kabbala kennen sollte, um Kafka zu lesen, oder ob man vielmehr Kafka lesen müsse, um, wie Scholem meinte, heute einen Zugang zur Kabbala zu finden, lässt sich somit vorsichtig in letztere Richtung beantworten. Die Art, wie Franz Kafka als unstreitiges Kind seiner Zeit, als Vertreter einer modernen, aber schwer verständlichen, einer aufgeklärten, aber unübersichtlichen Welt jüdische Vorstellungen verwendete, beweist uns, dass diese nicht nur pittoresk sind: Sie bleiben auch relevant.