Krankheit - Sterben - Tod

Was geschieht mit dem Toten? Die Beerdigung

Auch die Behandlung der Toten ist im progressiven Judentum anders als in der „Orthodoxie“. Hier ein Einschub für die, die sich über die Anführungszeichen wundern Die Benutzung des Begriffs „Orthodoxie“ ohne diese Zeichen würde bedeuten, dieser Glaubensrichtung die „richtige“ Art jüdischen Glaubens (und Handelns) zuzugestehen. Daher stehen die Begriffe „orthodox“ und „orthoprax“ in Anführungszeichen, weil ich keine bessere Definition gefunden habe, aber den Anschein des allein richtigen Glaubens und Handelns für (lediglich) einen kleinen Teil des Judentums vermeiden will.

Nach jüdischem Verständnis endet die Heiligkeit des Menschen nicht mit dem Tod, so daß aus „orthodoxer“ Sicht die Gesetze und Bräuche um Tod und Trauer den Sinn haben, die Würde des menschlichen Geistes zu stärken.

Hier muß aber festgehalten werden, daß viele der Bräuche um Tod und Trauer auf abergläubischen Vorstellungen beruhen. Nach Kolatch wird der Tote auf den Fußboden gelegt, stehendes Wasser ausgegossen, werden die Spiegel verhängt, der Leichnam nie allein gelassen, dürfen Tote weder einbalsamiert noch verbrannt werden und müssen zwingend am Tag nach ihrem Tode begraben werden. Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn die Umstände es verlangen (staatliche Gesetze, Warten auf die Ankunft näherer Verwandter), aber auch dann darf die Beerdigung maximal drei Tage hinausgeschoben werden. Diese zeitliche Beschränkung lehnt das progressive Judentum ab und verweist auf „Moed Qatan 22 a“, wo Ausnahmen von der allgemeinen Regel der frühestmöglichen Bestattung genannt werden. In jedem Fall findet aber eine Bestattung nicht am Schabbat oder an Festtagen statt, wohl aber ggf. in der „Orthodoxie“ am zweiten Tage eines Festes. Zur Begründung wird darauf verwiesen, daß das mehrtägige Auf-bahren eines Toten den Gebrauch von Würz- und Duftstoffen erfordert. Dazu wird dann festge-stellt, daß dies ein nichtjüdischer Brauch war, und daß eine Grundregel des jüdischen Lebens hieß, keine nichtjüdischen Bräuche nachzuahmen, zumal das Abbrennen von Würzstoffen eine Form des kultischen Opfers war.

Das Ausgießen von Wasser hat nach Kolatch den Sinn, die Unzufriedenheit G-ttes mit den Handlungen der Menschen anzuerkennen. Mit dem Ausgießen des Wassers und der Sitte, den Leichnam auf den Boden zu legen wird nach „orthodoxer“ Ansicht durch diese beiden symbolischen Gesten das Schöpfungswerk des zweiten und dritten Tages zunichte gemacht und zugleich als Bedingung und Grenze des menschlichen Daseins bekräftigt. Aus progressiver Sicht bleibt zum Ausgießen des Wassers festzuhalten, daß durch diesen abergläubischen Brauch verhindert werden soll, daß das Wasser durch einen hindurchziehenden Geist verunreinigt wird. Für die Sitte, die Spiegel zu verhängen, weißt Kolatch darauf hin, daß es mehrere Deutungen gibt, wohingegen das progressive Judentum feststellt, daß entweder verhindert werden soll, daß sich die Seele in einem Spiegel verfängt, „in eine Falle gelockt wird“, oder daß sich der Leichnam darin spiegelt und bald ein zweiter Tod im Haus verkündet wird. Weiter ist zum Spiegel noch anzumerken, daß es eine „moderne“ Auslegung gibt, die sich mit der menschlichen Eitelkeit befaßt und daran festhält, daß es unangemessen sei, in einen Spiegel zu schauen, wenn man gerade einen Menschen verloren hat.

Daher gelten diese Bräuche im progressiven Judentum nicht als verpflichtend. Es wird aber anerkannt, daß manche Menschen das Bedürfnis haben, zum Zeitpunkt des Todes „irgend etwas“ zu tun, um das Vakuum zu füllen und die Hilflosigkeit auszudrücken, die sie empfinden.

Aus Paul Kirchners: Jüdisches Ceremoniell, 1734

Aus Paul Kirchners: Jüdisches Ceremoniell, 1734

Den Brauch, den Leichnam nicht allein zu lassen, deutet Kolatch heute als „den Glauben der Juden“, daß es ein Zeichen von mangelndem Respekt sei, wenn man einen Toten allein ließe. Zugleich weist er ehrlicherweise darauf hin, daß früher eine Totenwache gehalten wurde, um den Verstorbenen vor Geistern und Gespenstern zu schützen. Das progressive Judentum er-kennt den Wunsch nach einer Totenwache an, weist aber darauf hin, daß diese nicht obligato-risch ist und, wenn sie denn gehalten wird, von Verwandten oder Freunden des Toten gehalten werden sollte, nicht aber von bezahlten Fremden.

An der frühestmöglichen Beerdigung hält auch das progressive Judentum fest, das allerdings deswegen, weil es nicht sinnvoll ist, einen Toten ungebührlich lange im Haus zu behalten und weil aufgrund des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele der Körper dann nicht länger von Bedeutung ist, wenn er seine Funktion eingebüßt hat. Aus progressiver Sicht spricht aber nichts dagegen, ggf. auch mehr als drei Tage bis zu einer Beerdigung verstreichen zu lassen, wenn Hinterbliebene länger benötigen, um sich zur Beerdigung einzufinden.

Ein weiterer Unterschied zeigt sich bei der Behandlung des Leichnams gleich nach dem Tod. Für „orthodoxe“ Juden ist es nicht zulässig, daß Nichtjuden den Körper eines gestorbenen Juden berühren. Dieses Verbot geht bis in die Antike zurück und bezog sich ursprünglich auf heidnische Bräuche, den Toten zu verstümmeln und sein Blut für rituelle Zwecke zu gebrauchen. Solche Bräuche sind heute nicht mehr üblich, so daß das progressive Judentum nicht mehr daran festhält, daß ein jüdischer Körper nicht von Nichtjuden berührt werden darf. Zudem wäre es verletzend für Ärzte und Krankenhauspersonal, sie nach dem Tode eines Menschen nicht mehr als vertrauenswürdig zu behandeln. Allerdings ist in diesem Fall auch für das progressive Judentum zwingend, daß die Hände der verstorbenen Person nicht christlichem Brauch gemäß auf der Brust gekreuzt oder gefaltet werden. Die Hände der verstorbenen Person müssen seitlich am Körper anliegen.

Für das „orthopraxe“ Judentum ist die „tohora“, die rituelle Waschung der Leiche durch die „chewra kadischa“ (Begräbnisbruderschaft) obligatorisch. Das progressive Judentum empfiehlt diese Waschung, allerdings mit dem Vorbehalt, daß sie nicht erforderlich ist, wenn die Person an einer ansteckenden Krankheit gestorben ist oder dann, wenn die Ausflüsse des Körpers diejenigen gefährden könnten, die den Körper waschen.

Die Kleidung bei einer Beerdigung ist schwarz oder zumindestens dunkel. Das ist eine alte jüdische Tradition, die bis in die talmudische Zeit zurückreicht (Schabat 114a, Joma 39b), also keine Nachahmung christlicher Bräuche. Da das progressive Judentum die Unterscheidung zwischen „Kohanim“, „Leviim“ und „Am Israel“ aufgehoben hat, ist es selbstverständlich, daß auch ein kohen an jeder Beerdigung teilnehmen kann, wenn er es wünscht, und nicht auf die nächs-ten Familienangehörigen beschränkt bleibt. Er muß sich also nicht in beträchtlicher Entfernung von der Stelle aufhalten, wo die Feier stattfindet. Zu Kleidung ist noch anzumerken, daß die „keria“, das Einreißen der Kleidung n progressiven Zeremonien unüblich geworden ist, weil es für viele Menschen kein angemessener Ausdruck ihrer Trauer ist. Kolatch befaßt sich hingegen noch bei sechs Fragen (von neunzig) mit der keria.

Der Beerdigungsg-ttesdienst ist kurz und schlicht. Er besteht aus einigen Gebeten und Psal-men, die zu dem Anlaß passen. Die Realität der menschlichen Situation und die Hilfsbedürftig-keit des Menschen wird akzeptiert, ebenso der Schmerz der Trauernden berücksichtigt. Neben den üblichen Gebeten fügen einige Rabbiner einen Text, einen Gedicht oder einen Prosatext ein, der der verstorbenen Person besonders wichtig war, zu ihr paßt oder auch von ihr verfaßt wurde. Dadurch wird zunächst einmal der G-ttesdienst persönlicher, weiter kann die Suche nach geeignetem Material für die Trauernden hilfreich sein. Im Gegensatz zu „orthodoxen“ Gemeinden findet der G-ttesdienst sowohl in Hebräisch als auch in der jeweiligen Landessprache statt, Männer und Frauen werden nicht voneinander getrennt und insbesondere werden Frauen nicht daran gehindert, an der Beerdigung teilzunehmen.

Ein weiterer Unterschied, der hier erwähnt, aber nicht vertieft werden soll, ist der Umstand, daß in progressiven Gemeinden stets eine Traueransprache über die verstorbene Person gehalten wird. Wegen der Unterschiede verweise ich auf Romain/Homolka, S. 80.

Beschlossen wird der G-ttesdienst mit dem Kaddisch, rezitiert von dem nächsten Angehörigen der verstorbenen Person. Da im progressiven Judentum die Gleichheit der Geschlechter geachtet wird, ist es also nicht ungewöhnlich, wenn eine Frau oder Tochter Kaddisch sagt. Zur Erinnerung: im „orthodoxen“ Judentum wird Kaddisch gewöhnlich nicht von einer Frau gesprochen, so daß es vorkommen kann, daß ein Mann das Kaddisch sagt, der gar nicht zu der trauernden Familie gehört. Selbstverständlich ist im progressiven Judentum ein Minjan (in der Definition „zehn erwachsene Männer“) wegen der Gleichheit der Geschlechter nicht erforderlich.

Die letzte Handlung für alle, die an der Beerdigung teilnahmen, auch hier wieder einschließlich der Frauen, ist es, dabei zu helfen, das Grab mit Erde zu füllen. Homolka weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß dies zunächst ein Zeichen des Respekts vor dem Toten ist, zugleich aber auch ein sehr wichtiger Abschnitt im Trauerprozeß.

Beim Verlassen des Friedhofs ist es möglich, aber nicht zwingend erforderlich, sich die Hände zu waschen. Für diesen Brauch geben Romain/Homolka und Kolatch natürlich wieder unterschiedliche Deutungen an, die jeder gern nachlesen kann.

Unterschiedliche Standpunkte gibt es natürlich auch wieder zur Frage, ob man Blumen zu einem Begräbnis schicken oder diese zu einem Begräbnis mitnehmen soll. Ich halte die Behandlung dieser Frage an dieser Stelle aber nicht für sinnvoll, zumal es auch bei den progressiven Gemeinden unterschiedliche Handhabungen gibt, also keinen „gefestigten progressiven Brauch“.

Ebenfalls nur kurz will ich auf die Frage „Beerdigung oder Feuerbestattung“ eingehen. Wer hier näher interessiert ist, sei auf Romain/Homolka S. 83 – 85 und auf den Kolatch verwiesen. Ich will hier nur die Quintessenz der Ausführungen wiedergeben. Danach handelt es sich bei dieser Frage um eine Angelegenheit, in der die Wünsche des Verstorbenen vollständig geachtet werden sollten, so daß es ein Grundsatz von progressiven Synagogen ist, die Einäscherung als legitime Alternative zu betrachten, die in der Entscheidung jedes Einzelnen liegt.

Zusammenfassend kann man sagen, daß in der „Orthodoxie“ eine Menge von Ge- und Verboten existiert, die auch die kleinste Kleinigkeit regelt, bis hin zu der Frage, an welche Seite der Kleidung für welchen Verwandten die keria anzubringen ist, während das progressive Judentum bei der Behandlung der Fragen um Tod, Trauer und Beerdigung auf den Willen des Verstorbenen und die Möglichkeiten und den Willen der Hinterbliebenen abstellt. Alles ist möglich, was hilft, mit der Trauer fertig zu werden, aber nichts ist zwingend vorgeschrieben.