Krankheit - Sterben - Tod

Zeit der Trauer

Schiwa heißt hebräisch „sieben“ und bezeichnet den Zeitraum, des ersten Stadiums und der schlimmsten Zeit der Trauer. Durch eine Auslegung des Verses Amos 8,10 gelangten die Rab-binen dazu, daß die Anfangsperiode der Trauerzeit genau so lange dauern soll wie die Feste, eben sieben Tage. Weiter wird die Dauer dieser Periode aus Genesis 50,10 abgeleitet. Josef trug nach dem Tod seines Vaters sieben Tage Trauer.

Kolatch berichtet, daß es eine alte jüdische Sitte ist, daß Nachbarn den Trauernden, die von der Beerdigung kommen, die erste vollständige Mahlzeit zubereiten. Die Bedeutung dieser Mahlzeit ergibt sich aus dem Namen „seudat hawraa“ („Stärkungsmahlzeit“ oder „Mahlzeit der Erleichterung“). Psychologisch gesehen ist sie eine große Hilfe, um den Schmerz zu lindern und den Prozeß der Erholung nach einem schweren Verlust in Gang zu setzen. Diese Mahlzeit soll Symbole des ewigen Lebens enthalten, also runde Brötchen und hartgekochte Eier. Weiter berichtet er eine andere Auslegung, nach der diese Lebensmittel deswegen serviert werden, weil sie keinen „Mund“, also keine Öffnung besitzen. Sie repräsentieren den Trauernden, der noch unter Schock steht und dessen Mund stumm verschlossen ist. Weiter können natürlich nach seinen Ausführungen auch andere Lebensmittel serviert werden, als „gebräuchlich“ bezeichnet er z. B. schwarze Oliven.

Die Trauerzeit ist in der „Orthodoxie“ streng geregelt. Trauernde sitzen auf niedrigen Schemeln oder Kissen, im Trauerhaus werden die Spiegel verhängt, eine Gedenkkerze wird angezündet, während der schiwa rasiert man sich nicht und schneidet sich auch nicht die Haare, man soll nicht baden, manche Trauernden streuen sich Sand oder Erde in die Schuhe, wenn sie das Haus verlassen, und Lederschuhe dürfen auch nicht getragen werden. Die Trauer ist am Schabbat zu unterbrechen, trotzdem sprechen die Trauernden Kaddisch, manche Trauernde machen nach dem Ende der schiwa einen Rundgang um den Häuserblock. Die Begründungen sind, sofern sie nicht evident sind, jeweils bei Kolatch nachzulesen, sollen hier aber nicht weiter ausgeführt werden.

Für Freunde, Bekannte und die Gemeinde gilt, daß den Trauernden im Lauf der ersten Woche ein Kondolenzbesuch abgestattet wird (Pflicht!), aber nicht vor dem dritten Tag nach der Beer-digung, daß dabei auf oberflächliche Gespräche verzichtet und die Trauernden auch nicht wie sonst üblich begrüßt werden. Dem Trauernden wird während der schiwa keine Alija aufgetragen.

Die Schiwa hat den Zweck, den Trauernden Trost und Hilfe anzubieten. Sie schafft den Trau-ernden eine Form, ihren Schmerz auszudrücken, ihren Verlust zu verarbeiten und gibt der Gemeinde Raum praktische und emotionale Unterstützung zu leisten.

Im Gegensatz zu der oben beschriebenen Normierung des Verhaltens, in der alle Beteiligten ihre „Rolle spielen“, steht im progressiven Judentum die „ausreichende Flexibilität, moderne Lebensbedingungen zu berücksichtigen und den eigentlichen Zweck zu erfüllen: den Trauernden zu helfen“. Es bleibt dem Einzelnen überlassen, inwieweit er bestimmte persönliche Rituale für sich beachtet. Die Gemeinde wird allerdings nicht aus ihrer Verpflichtung entlassen, sich um die Trauernden zu kümmern. Hooker weist darauf hin, daß die Trauernden selbst wissen, was ihnen Trost bringt.

Der jüdische Trauerprozeß ist eine Abfolge von bestimmten Phasen mit jeweils abnehmender Intensität. Der intensiven Trauerzeit der schiwa folgen die „scheloschim“ (dreissig“), also die restliche Zeit des ersten Monats nach der Beerdigung. In dieser Zeit nehmen Trauernde ihre Arbeit wieder auf, meiden jedoch Vergnügungsorte und planen keine Hochzeit. Nach den sche-loschim beginnt der Rest des ersten Trauerjahres, in dem es üblich ist, jede Woche im Schabbatg-ttesdienst für den Verstorbenen Kaddisch zu sagen. Eine Regelung, wie oft in dieser Zeit das Grab des Verstorbenen besucht werden soll, existiert nicht.

Für den Brauch, einen Grabstein zu setzen, der auf biblische Zeiten zurückgeführt wird, gibt es aus „orthodoxer“ Sicht zwei Gründe: zunächst als Respektsbezeichnung für die verstorbene Person, sodann aber auch als Bezeichnung eines Ortes, den die kohanim meiden müssen. Aus progressiver Sicht bleibt festzuhalten, daß die Steinsetzung das Ende der Trauerzeit markieren und den Weg zur Erneuerung des Lebens zeigen. Es ist übrigens nur ein Brauch, kein Gesetz, daß die Steinsetzung zwölf Monate nach der Beerdigung stattfinden soll.

Üblich ist es bei allen Juden, am Jahrestag des Todes, der Jahrzeit, am Abend zu Hause eine Kerze anzuzünden, außerdem kann man Kaddisch sagen und das Grab des Verstorbenen besuchen, außerdem gedenkt man der Verstorbenen im Jiskor am Jom Kippur. Zur Jahrzeit ist noch anzumerken, daß diese sich nach dem hebräischen oder dem säkularen Kalender richten kann. Zum Kaddisch der Trauernden ist anzumerken, daß es sich nicht um ein Gebet handelt, das für die Toten und ihren Übergang in das ewige Leben gesprochen wird, sondern um ein Gebet für die Lebenden, also die Trauernden, in dem diese den Wert des Lebens bekräftigen.

Abschließend weise ich noch darauf hin, daß das progressive Judentum im Gegensatz zur Orthodoxie auch Rituale für Totgeburten, Fehlgeburten und Suizide entwickelt hat.

Die Begründungen hierfür liegen auf der Hand: Kindersterblichkeit ist in unserer Zeit im Gegensatz zu früher sehr gering, auch ist die Zahl der überlebenden Kinder heute im Zeitalter der Kleinfamilien nicht mehr so groß, daß die Eltern über den Verlust eines Kindes nicht zu trauern brauchen. Heute liegt jedoch eine neue Situation vor, die andere Grundsätze verlangt.

Bei Fehlgeburten finden auch im progressiven Judentum keine Beerdigungen statt, jedoch halten einige Rabbiner auf Wunsch der Eltern einen G-ttesdienst im Haus der Eltern.

Suizid wird von Orthodoxen und progressiven Juden gleichermaßen abgelehnt, jedoch haben im progressiven Judentum die Bedürfnisse der Angehörigen eine höhere Bedeutung als in der „Orthodoxie“. Daher finden Trauerg-ttesdienste für Personen, die einen Suizid begangen haben, in der gleichen Weise statt wie bei anderen Bestattungen. Die vollständigen Trauerrituale werden beachtet, also schiwa, Jahrzeit und Steinsetzung.