Creative Commons, Wochenabschnitt

Zur Haftarah Schemot

Habaim jaschresch ja’akow jaziz ufarach jisrael umal’u penej tejwel tenuwah

»Die Kommenden lässt Jakob Wurzel schlagen, es wird knospen und blühen Israel, und sie füllen die Welt mit Fruchtertrag.«

Unwillkürlich mahnt uns dies erste Wort der Haftara ‚haba’im‚ an dasselbe Wort, das unsere Sidra Schemot im ersten Verse zur Bezeichnung der nach Mizraim gekommenen Kinder Israel gebraucht. „Dies die Namen der Kinder Israel, welche nach Mizraim ‚Kommende‘, ‚haba’im‚, waren.‘
Zugleich werden wir auch daran erinnert, wie und wodurch Jakob die Kommenden Wurzel schlagen lässt, damit sie sich zum Baume ‚Israel‚ entfalten. ‚Mit Jakob kam jeder und sein Haus.‘ Indem das G’tteswort mit we’ejie schemot die Einzel- und Familiengeschichte Jakobs zur jüdischen Volksgeschichte, zur Geschichte Israels überleitet, sagt es uns, dass ein solcher überleitender Zusammenhang nur dadurch möglich sei, dass die Einzelglieder, die sich zum Volke scharen, den Familiengeist, wie er in edelster Weise im Jakobshause herrscht, in sich aufgenommen und ihn fort und fort lebendig erhalten. In der Familie liegt die Wurzel des Volkes.

Die tausend Eindrücke, die das Kind unter den Augen weiser, zielbewusster Erzieher empfängt, die Art, Freuden und Leiden zu tragen, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit zu üben, sie machen den Mann und gestalten den Charakter des Trägers seiner eigenen Volksaufgabe. Was würde Mizraim mit seiner alten Kultur, seinem Götzentum und seiner die Tempel und Häuser erfüllenden Sittenverderbnis aus diesen eingewanderten Söhnen und Töchtern Jakobs, aus diesen vogelfreien Sklaven und Sklavinnen gemacht haben, wenn diese Söhne und Töchter, trotz aller nicht spurlos vorübergehender, verderblichen Einflüsse, sich nicht vom Hause Jakobs den treuen, reinen Familiensinn bewahrt hätten, wenn sie nicht an der alten Tradition festgehalten hätten, die den unterjochten Sklaven die Grosstaten eines G’ttesfürsten meldete, der ihr Urahn gewesen, und die dieses ganze ägyptisch-jüdische Sklavengeschlecht an starker Kette über den Abgrund moralischer Verkommenheit rettend emporgehoben! Noch nie hat es eine Zeit gegeben, die für die Jakobsfamilie und ihren auf Väterüberlieferungen beruhenden G’ttesadel so schwere Gefahren geborgen wie die Zeit, in der die Israelskinder ‚haba’im‚, die nach Mizraim Kommenden waren und besonders die erste Zeit des gefährlichen Umschlages von den Brüdern des gefeierten königlichen Statthalters, des Wohltäters und Retters im Lande zu vaterlandslosen, um ihre Vergangenheit beneideten, von jeder Zukunft abgeschnittenen Sklaven des Landes und seiner g’tt- und sittenloser Bewohner. Es hat aber auch noch nie eine Zeit gegeben, in der die g’ttliche Vorsehung für die Erhaltung und das lebensvolle Einwirken der so« sehr gefährdeten Vätertradition in und auf Israels Geschlecht so wunderbar mächtig vorgesorgt hätte, wie gerade in dieser ersten Zeitperiode der ägyptischen Knechtung. Die übernatürlichen Wunder, die gegen Ende des galut mizrajim für Israel geschahen, werden vom G’ttesworte treulich berichtet und von uns, Nachkommen der wunderbar Befreiten, in jedem Jahr gefeiert. Das Wunder jedoch, das die Galutgeschichte vorbereitend sich in aller Stille vollzog, ist nur zwischen den Zeilen zu lesen und hat nicht in einer der ejdut-Bestimmungen, sondern in uns selbst sein bleibendes Denkmal. Am Ende des ersten Buches der Tora, Sefer Bereschit, wird uns nämlich mitgeteilt: ‚Und es verblieb Josef im Lande Mizraim, er und sein Vaterhaus. Und Josef lebte hundert und zehn Jahre. Da sah Josef von Efraim Kinder des dritten Geschlechts; auch Kinder Machirs, des Sohnes Menasches, wurden auf Josefs Knien geboren.‘ (l. B.M. 50:23)

Wir erfahren hierdurch die sehr bedeutsame Tatsache, dass in der einen Zeitperiode sechs Generationen gleichzeitig unter den Augen Josefs, des Lieblingssohnes Jakobs, lebten. Sechs zusammenlebenden und wirkenden Geschlechtern trat die Tradition Jakobs im Beispiel gebenden Lebenslaufe des Vaters bis zum Urgroßahnen hinauf lebendig vor Augen. So konnte sich diese Tradition in diese Geschlechter tief einleben, so tief, wie dies beim sonstigen natürlichen Wechsel, beim raschen Gehen und Kommen der Geschlechter niemals hätte geschehen können. Es wird auch kurz vor Beginn der neuen mit ‚wojakom melech chadasch‘ eingeleiteten Geschichtsphase hervorgehoben: ‚Israels Söhne waren fruchtbar gewesen an zahlreichen Geburten, sie wurden in großem Übermaß viel und stark; das Land wurde ihrer voll‘ (2. B.M. l:7), wozu Raschi, die Meinung des Midrasch wiedergebend, bemerkt: schehaju joldot schischah bekeres echad. ‚Sechs lebende Generationen in einer und derselben Zeitperiode‘. G’tt gab dieser Zeit einen so fruchtbaren Schoss, damit ‚Joseph mit seinem Vaterhause‘ in Mizraim verbleiben könne, damit dieses Vaterhaus auf seine späten Enkel durch die mitlebenden Väter einwirke, damit, wenn später die großen Wunder für Israel geschehen, ein Israel da sei, das diese Wunder erlebt und würdigt. Wir stehen hier vor einem der Wunder, die sich auf G’ttes Geheiß auf-natürlich wunderbarem Wege vollziehen, und an welchen viele vorübergehen, ohne sie zu bemerken. Auch die Midrascherklärer sind an dieser Stelle vorübergeeilt, ohne den Wink des Midrasch zu beachten. Wir aber stehen an dieser Stelle voll tiefsten Dankes gegen HaSchem, der dafür gesorgt hat, dass auch auf dem fremden der Israelspflanzung feindlichen Boden in Mizraim dieses Israel sich anwurzle, dass Jakob von seinem Hause aus kraft seines traditionellen Geistes dieses kommende Israel Wurzel schlagen lasse im fremden, feindlichen Lande, dennoch in – heimatlicher Erde.

Wie mächtig spricht uns nun angesichts der erwähnten historischen Tatsache unsere Haftara an, wenn sie mit den Worten beginnt: ‚Die Kommenden lässt Jakob Wurzel schlagen. Es wird knospen und blühen Israel, und sie füllen die Welt mit Fruchtertrag!‘ Mizraim, Aschur und Edom, die vom Propheten in den dem Haftarabeginne vorausgegangenen Versen apostrophiert worden, wie sind sie auf die Vernichtung dieses Israel ausgegangen! Dieser ‚kerem eherner‘ diese Edelpflanzung, die den schäumenden Trank voll Geist und Kraft spendet, sie sollte ausgerottet werden; ‚lechu wenachechidem migoj welo jisacher schem jisrael od‘. Vernichtung aus der Reihe der Völker, Verlöschung des Namens Israel, das lag in ihrem Plane, das Gesamtisrael sollte ihr Schwertschlag tödlich treffen. Doch Haschem nahm dem Schwerte seine Schärfe und dem Schlage seine Schwere. ‚Hat der Schlag seines Schlägers Israel je so getroffen, wie dieser (der Schläger) es beabsichtigte? War Israel, wenn auch seine Erschlagenen sich häuften, selbst totgeschlagen? Nein. Mit Maß hast du, o G’tt, die Sprösslinge des von dir behüteten Weinberges (s. V. 2-3) angegriffen, wenn auch der harte Wind des Ostens darüber einherfuhr‘ (V. 7-8). War es ja auch während der Wüstenwanderung Israels so, dass der Glutwind die Generation hinwegfegte, und der Nachwuchs, als Israelsspross geschont, der Zukunft erhalten blieb. So geschah es jedes Mal, wenn HaSchem die strafende Geißel über Israel schwang durch Mizraim. Aschur, Babel und Edom; ‚beschalcha‘ der Schössling trieb weiter aus der Wurzel heraus, und er entwickelte die herrlichsten Knospen und Blüten. An die Worte „jaziz ufarach israel“ knüpfen die Weisen die Bemerkung: „ejlu talmide chachamim scheossin zizin uprachim latorah“, ‚Israel knospt und blüht.‘ –
Ja wohl; die jüdischen Gelehrtenschulen in Babylonien haben der Tora Knospen und Blüten verschafft! Wenn G’tt Israel strafte, so wollte er es bessern, aber nicht vernichten. Sühnen sollte Jakob sein Vergehen, und dies war Frucht und Erfolg der Strafe, dass es die Götzenaltäre zerschmetterte und die Astarten und Sonnenbilder niederriss. – Aufgerüttelt musste Israel werden zum Bewusstsein seiner Höhe und seines Falles. Denn es gab eine Zeit, da die Feinde in der öde liegenden Stadt hausten, da die ‚zur Ernte gereifte Saatfrucht, vertrocknet, abgebrochen wurde, und die Weiber hinzukamen, um sie zum Herdfeuer anzuzünden‘. So riesengroß war der selbstsüchtige Materialismus, der ohne Verstand und ohne Gefühl für höheres Nationalinteresse bei der in Flammen aufgehenden Ernte – sich sein Süppchen kochte. ‚Drob konnte freilich sein, Jakobs, Schöpfer sich seiner nicht erbarmen und sein Bildner ihn nicht begnadigen‘, (10-11) und Israel ward der Spielball zwischen den Völkern am Euphrat und am Nil. Da waren die Zeiten für die Pul und Tiglat Pilassar und Salmanassaar und Nebukadnezar gekommen. Doch eben so sicher kam und kommt der Tag, da HaSchem die Zersprengten, in die Welt Hinausgestreuten einsammelt zu einem einheitlich ganzen Volke, die aus Aschur und die aus Mizraim, die Verlornen und Verirrten, durch G’ttes Posaunenruf herbeigeholt und zur Anbetung berufen nach dem heiligen Berge – in Jeruschalajim (12-13).

Nochmals geht der Prophet (in einem Teile des 28. Kapitels) mit der stolzen Krone Schomron, ihrem verräterischen Könige Hosia und ihren üppigen Bewohnern zu Gerichte. Der König suchte gegen den Assyrerkönig, der bereits zwei Stämme Israels gefangen weggeführt hatte, in Diplomatenkünsten sein Heil. Er schloss mit dem Ägypterkönig Tho ein geheimes Bündnis, während er öffentlich Salmanassaar seinen Tribut entrichtete. Dabei sank das Volk von Stufe zu Stufe tiefer in den Pfuhl der Genussucht und taumelte seinem nationalen Untergange entgegen. Erschütternd wirkt der höhnische Zuruf dieser ‚Trunkenen in Efraim“, mit dem sie dem Propheten Jeschajahu begegnen: ‚Wen will er Weisheit lehren? und wem Erkenntnis predigen? Den von der Milch Entwöhnten, den von der Mutterbrust Genommenen? denn da heißt es Gebot auf Gebot…‘ (9-10): Zaw lezaw zaw lezaw kaw lekaw kaw lekaw se’er scham se’er scham. So bringen die Trunkenen lallend ihren Hohn des Gesetzes und des Propheten hervor! Und der Prophet schleudert den Übermütigen, denen Wein und Größendünkel zu Kopf gestiegen, den Hohn mit vernichtender Schärfe zurück. Ihr Grossen, Reichen! die ihr mit eurem Könige auf der Schaukelpolitik zwischen Mizraim und Aschur euch himmelhoch zu schwingen, die ihr eine maßgebende Rolle zu spielen vermeint, wo ihr doch nur der zeitweilige Spielball zwischen den beiden Mächten seid, ihr stachelt das Volk zur Auflehnung und Bewaffnung und ersäufet des Volkes ernstes Erwägen in Wein; ihr verstümmelt Israels Volksgedanken, sein Hoffen und Erinnern bis auf den heiligen Laut seiner Sprache, indem Ihr G’ttes Lehre, Gebot und Satzung mit dem Lallen des Trunkenen zaw lezaw zaw lezaw kaw lekaw kaw lekaw nennet. – Nun wohl, G’tt schickt euch zur Strafe ein anderes Lallen, ein für euch Sünder unverständlich sprechendes Volk kommt, um euch zu züchtigen. ‚Ja, durch Leute stammelnder Lippe und durch eine fremde Zunge wird HaSchem reden zu diesem Volke – der zu ihnen sprach: das bringt die Ruhe und das dieErquickung; gönnet dem Ermüdeten Ruhe! Aber sie wollten nicht hören. Drum wird das Wort Haschems ihnen sein: Gebot auf Gebot, zaw lezaw zaw lezaw kaw lekaw kaw lekaw… auf dass sie gehen und rückwärts straucheln und zu Schaden kommen und sich verstricken und gefangen werden.‘ (11-14). Nicht ohne Grund ist diese dem 28. Kapitel entnommene Strafrede an die trunkenen Grossen Efraims unserer Haftara einverleibt. Im vorigen Kapitel war es die gedankenlose Indolenz der Menge, die sich zu einem erhebenden Israelbewusstsein nicht aufraffen kann, die von heute auf morgen – ein Dasein ohne Würde und ohne Ideal dahinlebt, und die auf alle hohen Israelsverheissungen verzichtend nur daran denkt, ihre gemeinen Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Diese Menge ist zu entartet, um von sich selbst, und zu g’ttlos, um von G’tt, vom G’tte Israels Hilfe zu erhoffen.

In diesem 28. Kapitel sind es, wie wir gesehen, die Stolzen, Grossen, die in ihrer Überhebung sich stark genug dünken, durch geschickte zweideutige, politische Manipulationen den Fall ihres Volkes abzuwenden, und die im Vorgefühl ihres Triumphes die beste Zeit und edelste Kraft in Schlemmerei vergeuden. – Beides, die elende Gesinnungslosigkeit von unten, und die stolze Selbstüberschätzung von oben, verurteilt das Prophetenwort. Hilfe ist bei HaSchem allein und im innigen Anschlüsse an die erhabenen reinen Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts, wie sie sich aus dem von G’tt begnadeten Familienleben der Urahnen heraus entwickeln, für ein in HaSchem und in diesen Familientraditionen wurzelndes Israel. ‚Isch ubejto ba’u‘ steht an der Spitze der das ägyptische Galut schildernden Sidra und ist für diese Galutnacht der Leuchtstern geblieben. An dieses ‚Jakobshaus‘ knüpft unsere Haftara die trostreiche Schlussverheißung des Propheten, an dies Haus, dessen erster Gründer, Abraham, HaSchem als seinen Erlöser feierte, und das fort und fort nur von HaSchem Erlösung zu hoffen hat:

‚Darum spricht also HaSchem zum Hause Jakob, er, der Abraham erlöste: Jakob wird dann nicht mehr zu Schanden und sein Gesicht nicht mehr erblassen. – Sondern, wenn seine Kinder in ihrer Mitte sehen das Werk meiner Hände, werden sie meinen Namen heiligen und heilig halten Jakobs Heiligen, und Ehrfurcht bezeugen dem G’tte Israels!‘ (Kap. 29: 22-23)