Purim

Purim-Vincenz in Frankfurt am Main

Fettmilch-Aufstand

Anfang des 17. Jahrhunderts brach in Frankfurt am Main infolge politischer und religiöser Gegnerschaft großer Gruppen der Bürgerschaft gegen den hauptsächlich von den Patriziern beherrschten Stadtrat ein Aufstand aus, die genannt nach dem Namen eines ihrer Führer, des Vincenz Fettmilch bez. Wird und in ihrem Verlaufe bald einschneidende Folgen für das Schicksal der Juden in Frankfurt hatte.

Den äußeren Anlass zum Ausbruch der Revolte bot die für Mitte Mai 1612 in Frankfurt angesetzte Krönung des Kaisers Mathias. Als nämlich die Bürgermeister nach einer Bestimmung der Goldenen Bulle die Zünfte aufforderten, für den Schutz der in der Stadt versammelten Fürsten zu sorgen, stellten jene in einer dem Rat überreichten Schrift drei Gegenforderungen, darunter die Verringerung der Zahl der Juden, die gesetzliche Herabsetzung des Zinsfußes für von Juden gewährte Darlehen von 12 auf 8% mit rückwirkender Kraft und die Verpflichtung der Juden den aus dem bisherigen höheren Zinssatz erzielten Mehrgewinn nachträglich herauszugeben.
Als der Rat seine Entscheidung bis nach der Krönung verschob, wandten sich die Stände an den Kaiser selbst, worauf der Rat dem Kaiser eine Gegenschrift überreichte, in der er unter anderem auch die Beschwerden der Stände gegen die Juden widerlegte und darstellte, dass zur Annahme der bezüglich der Juden gestellten Forderungen kein Grund vorliege. Diese wurden denn auch abgelehnt. Die Aufständischen bildeten nun einen von Fettmilch geführten »Ausschuss«, rotteten sich mehrfach gegen den Stadtrat zusammen und forderten in einer neuen Denkschrift gegen den Rat erneut die Entfernung der Juden aus der Stadt.
Auf eine weitere Beschwerdeschrift über die »Schandtaten« der Juden antworteten diese mit zwei leidenschaftslos geschriebenen umfangreichen Verteidigungsschriften.
Inzwischen war der alte Ausschuss der Zünfte abgesetzt und durch einen neuen ersetzt worden, in dem die radikalen Elemente Fettmilchs nicht vertreten waren. Dieser Ausschuss schloss mit den Kommissaren des Kaisers einen »Bürgervertrag«, in dem u. a. die Zahl der Juden gesetzlich festgelegt und der Zinssatz für Darlehen auf 8% verringert wurde. Doch rissen die radikalen Elemente unter Fettmilchs und des Anwalts Nikolaus Weitz Führung die Macht im »Ausschuss« bald wieder an sich und forderten jetzt (1613) erneut die »Moderation« der Juden, das heißt die Verringerung ihrer Zahl: alle Juden, die weniger als 15000 Gulden Vermögen besaßen, sollten die Stadt sofort verlassen. Da Kaiser Matthias sich auf Seiten der Juden stellte, griffen Fettmilch und sein Anhang zur Gewalt, und am 22. Aug. 1614 wurde, während die Juden im Bethause versammelt waren, das Juden-Viertel überfallen. Nach einer umfangreichen Plünderung des ganzen Ghettos und Verwüstung der Synagoge wurden zwei Tage später die von Fettmilch auf dem Friedhofe zusammengetriebenen und bewachten Juden, 1380 Personen, unter Zurücklassung aller ihrer Habe aus der Stadt getrieben. Die vertriebenen Juden fanden in den benachbarten Ortschaften (Offenbach, Hanau und anderswo) Aufnahme.
Noch eine ganze Zeit lang konnten Fettmilch und seine Rotten den Rat der Stadt terrorisieren, sodass dieser trotz der über Fettmilch und andere verhängten Reichsacht nichts für die Juden tun und die Befehle des Kaisers zur Restituierung der Juden nicht durchsetzen konnte.
Erst am 28. Februar (nach einer jüdischen Quelle am 10. März = 20. Adar) 1616 wurden die vertriebenen Frankfurter Juden von den Kommissarien von Kurmainz und Darmstadt feierlich in ihre Wohnungen zurückgebracht. Fettmilch — der »neue Haman« — wurde am selben Tage, mit fünf anderen Rädelsführern hingerichtet, sein Haus geschleift und seine Familie in die Verbannung gejagt. Der Stadt legte der Kaiser einen Schadenersatz für die an den Juden verübten Plünderungen auf. Die jüdische Gemeinde in Frankfurt beging den Tag der Rückkehr, den 20. Adar, zum dauernden Andenken als Festtag (Purim-Vincenz oder Purim-Vintz). Die Ereignisse jener Zeit sind von jüdischen Seite in dem von einem Zeitgenossen, Abraham Helen, verfassten Vincenzlied in hebräischer und jüdisch-deutscher Sprache dargestellt.
Purim-Vincenz wird heute in Frankfurt am Main anscheinend nicht mehr begangen.

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Rabbiner Dr. Arnold Tänzer wurde am 30. Januar 1871 in Bratislava geboren, er war von 1910—14 Redakteur der »Israelitischen Wochenschrift«, Verfasser von »Judentum und Entwicklungslehre« (Berlin 1903); »Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg« (Meran 1905); »Die Mischehe in Religion, Geschichte und Statistik der Juden« (Berlin 1913); »Geschichte der Juden in Brest Litowsk« (Berlin 1918); »Die Geschichte der Juden in Jebenhausen und Göppingen« (1927) und anderer Werke. Er starb am 26. Februar 1937 in Göppingen.