In den letzten Jahren sind, erfreulicherweise, wieder Synagogen in Deutschland eröffnet worden. Vielerorts sprach man von einer »jüdischen Renaissance« in Deutschland. [Eine Liste der Synagogeneröffnungen in den letzten Jahren findet man hier.]
Ist aber die Synagoge das wichtigste Gebäude einer jüdischen Gemeinde?
Die Antwort auf diese Frage mag verwundern, denn sie ist es nicht.
Bevor wir also einen genauen Blick auf die Synagoge werfen, sollten wir uns bewusst machen, welchen Stellenwert sie tatsächlich im jüdischen Leben einnimmt – oder besser – einnehmen sollte.
Da das gelebte Judentum zu Hause und in der Familie an erster Stelle steht, hat auch der Bau einer Mikwe, also des rituellen Tauchbades, Vorrang vor dem Bau einer Synagoge. Um die Errichtung einer Mikwe bezahlen zu können, darf die Gemeinde sogar eine Synagoge oder eine Torahrolle verkaufen. So schreibt es jedenfalls der Talmud (Megilla 27a). Heute sind Mikwa’ot häufig Bestandteil des Synagogenkomplexes – jedenfalls dort, wo sich viele religiöse Familien finden.
Weil aber jüdisches Leben gerade zuhause stattfindet, können Juden ihre täglichen Gebete auch dort sprechen. Wer allein betet, kann dies nahezu überall tun, sogar draußen, wenn er unterwegs ist. Die Halachah, das jüdische Religionsgesetz, berücksichtigt viele Situationen und Gegebenheiten. Sie gibt Hinweise darauf, wie man den idealen Ort fürs Beten finden kann. Wer beispielsweise kein festes Dach über dem Kopf hat, sollte sich unter einen Baum stellen. Innerhalb einer jüdischen »Infrastruktur« spricht man die Gebete vorzugsweise in einer Synagoge, gemeinsam mit einem »Minjan« מניין. Das ist die Gemeinschaft mit mindestens neun anderen Betern. Damit wird das private Gebet zu einem »öffentlichen«. Ein Gebet in der »Öffentlichkeit« erlaubt es beispielsweise, dass die Torah gelesen wird. Für diejenigen, die in der Nähe wohnen, sollte die Synagoge der zentrale Anlaufpunkt für Beter sein. Sie wäre dann der Ort, an dem man die gemeinsamen Gebete spricht, auch dann, wenn es dort überhaupt keinen Minjan gibt, so sagt es jedenfalls der Talmud (Berachot 6a).
Die Erwähnung im Talmud gibt uns nicht nur einen Hinweis darauf, wie wir mit der Synagoge umzugehen haben, sondern auch, dass er diese Einrichtung überhaupt kennt. Im Talmud ist die Einrichtung des »Bejt Haknesset« בית הכנסת (wörtlich: Haus der Versammlung) als Ort des gemeinsamen Gebets jedermann geläufig und eingeführt. Wann genau die Synagoge Synagoge wurde, ist de facto nämlich unbekannt.
Spätestens in der babylonischen Gefangenschaft scheint man spezielle Räume für das gemeinsame Gebet genutzt zu haben. Auch wenn Jesaja ein »Bejt Tefilah« בית תפילה, ein Haus des Gebets, kennt und der Prophet Jeremias (39,8) ein »Bejt ha’am« für Versammlungen nennt, so scheint es sich nicht um Räume für Gebete gehandelt zu haben wie es heute die Synagoge ist. Der Talmud warnt sogar ausdrücklich davor, die Synagoge »Bejt ha’am« zu nennen (Schabbat 32a). Sie ist nicht irgendein – möglicherweise gar säkularer – Ort der Versammlung. Vielleicht deshalb, weil diese hebräische Bezeichnung auch so verstanden werden könnte, dass die Synagoge lediglich das Haus sei, in dem sich eine Gemeinde oder eine Gruppe von Menschen versammelt. Dies gilt insbesondere auch für das »Bejt Haknesset«. Dieses »Bejt Haknesset« soll eher dem Gebet und dem Studium dienen. Gerade auch durch das Studium der Texte des Judentums und die lebendige Auseinandersetzung mit ihnen, wird eine Verbindung aus der Vergangenheit mit der Gegenwart geknüpft.
Gesichert ist: Bereits als der (zweite) Tempel noch stand, fanden Opferritus und Gebete in den Synagogen zugleich statt (Mischnah Jomah 7,1). Innerhalb des Landes Israel und außerhalb. Im Land Israel hatten Berufsgruppen jeweils ihre eigene Synagoge. Auf dem Land lagen Synagogen nicht immer in Dörfern, sondern oft zwischen mehreren, um für mehr Menschen erreichbar zu sein. Der Talmud hebt den nicht-säkularen Charakter hervor und nennt die Synagoge auch »Mikdasch me’at« (ein kleiner Tempel) (Talmud Megilla 29a).
Dies zeigt sich auch in den wichtigsten baulichen Elementen einer jeden Synagoge. Man wird einen Torahschrank finden, erhöhtes Pult für die Torahlesung, die Bimah und meist auch ein Ner Tamid, ein ewiges Licht.
Wie wir gesehen haben, ist die öffentliche Lesung aus der Torah nur dann möglich, wenn ein Minjan zusammenkommt. Dann bildet die Lesung aus der Torah ein wichtiges Element des jüdischen Gebets. Erst die »Anwesenheit« einer Torahrolle vervollständigt eine Synagoge. Diese Lesung findet auf einem erhöhten Podest oder Pult statt, auf das man regelrecht hinaufsteigen muss. Diese Erhöhung wird heute »Bimah« בימה genannt. Dieses Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Podium« oder »Kanzel«. Die Idee, die Torah von einem erhöhten Platz aus vorzutragen, findet man schon im Tanach, der hebräischen Bibel. Im Buch Nechemia (8,2) wird erzählt, wie Esra die Torah vom Morgen bis zum Mittag auf einem erhöhten Podest vorlas. In traditionellen Synagogen findet man die Bimah in der Mitte der Synagoge. Dort ist sie auch das bestimmende architektonische Element. Im Laufe der Zeit wurde dies sogar zur religiösen Vorschrift. Maimonides, genannt Rambam (etwa 1135– 1204), bestimmt in seinen »Hilchot Tefilla – Vorschriften des Gebets« (11,3), dass die Bimah in der Mitte der Synagoge stehen muss, damit jeder die Torahlesung deutlich hören kann.
Rabbiner Mosche Isserles (1520–1572), genannt Rema, bezieht sich in seinem Kommentar zum halachischen Werk »Schulchan Aruch« (Orach Chajim 150,5) darauf. Er gibt vor, dass die Bimah in die Mitte einer Synagoge gehört.

Was das mit dem Tempel zu tun hat?
Der Begriff »Bimah« stammt aus der Mischnah. Im Traktat Sota (7,8) ist »Bimah« ein erhöhtes Podest im Hof des Tempels. Darauf saß der König und las nach dem Schabbatjahr aus dem 5. Buch Mose.
Rabbiner Mosche Schreiber, genannt Chatam Sofer (1762–1839), schrieb, für ihn repräsentiere die Bimah den Altar im Tempel, der auf dem Innenhof des Tempels stand und zwar genau in der Mitte. Die Synagoge sei ja ein »kleiner Tempel.«

In nahezu allen Synagogen steht auf der Seite des Raumes, die Richtung Jerusalem zeigt, der Torahschrank, der »Aron haKodesch« ארון קודש. In ihm werden die Torahrollen der Synagoge aufbewahrt und zur Lesung während der Gebete ausgehoben. Auch der Torahschrank ist häufig etwas erhöht.
In der Nähe des »Aron haKodesch« findet man häufig ein kleines Licht. In einigen Synagogen ist es elektrisch, in anderen eine Öllampe. In einigen ist es ein kleines rotes Licht, in anderen hängt das Licht an Ketten von der Decke.
Dieses kleine Licht brennt immer – auch, wenn niemand in der Synagoge ist. Deshalb wird es »Ner Tamid« genannt, auf Deutsch: »immerwährendes Licht«.
Das Ner Tamid leitet sich vom ewigen Licht im Jerusalemer Tempel ab. Ein ewiges Licht wird bereits für das tragbare Stifts‐ oder Bundeszelt geboten (2. Buch Mose 27,20 und 4. Buch Mose 24,2). Im Jerusalemer Tempel brannte das »westliche Licht« (Ner ha’marawi) fortwährend als mittleres Licht zwischen den sechs Armen des siebenarmigen Leuchters (Menachot 86b).
Weil die Synagoge heute als »kleines Heiligtum« (Mikdasch me’at) gilt, wurde das Ner Tamid übernommen (Talmud Megilla 29a). Es steht in gleicher räumlicher Nähe zum Aron haKodesch (Toraschrein) wie damals die Menora zur Bundeslade und ist ein schönes Bild für die ewige Anwesenheit G’ttes unter seinem Volk. Der Blick auf die Flamme könnte dies bewusst machen. Deshalb schaltet man das Licht auch nicht nach Belieben ein oder aus.
In der halachischen Literatur begegnet man dem Ner Tamid allerdings nicht durchgängig. Es wird nach der talmudischen Diskussion um das ewige Licht im Tempel erst im 15. Jahrhundert diskutiert: Da beschäftigt sich in seinen Responsen der deutsche Rabbiner Israel Isserlein (1390–1460) damit.
Unklar ist, ob das Ner Tamid ursprünglich vielleicht doch einen praktischen Nutzen hatte und nicht von Anfang an als Symbol für die Anwesenheit G’ttes diente. Es könnte sich mit dem Ewigen Licht so verhalten haben wie mit den beiden Schabbatkerzen. Die hatten anfangs einen rein praktischen Nutzen: Sie sollten sicherstellen, dass man nach Eingang des Schabbats nicht im Dunkeln sitzen musste.
Rein praktisch betrachtet, erfüllt das Ner Tamid die Forderung, dass es in der Synagoge niemals dunkel sein darf. Das beschreibt jedenfalls Maimonides in seinen Hilchot Tefilla (11,5). Ähnlich sieht es Josef Karo (1488–1575). Er schreibt in seinem Schulchan Aruch (Orach Chajim 151,9): Eine Synagoge müsse immer gut ausgeleuchtet sein.
Das entspräche der besonderen Ehre, die man der Synagoge entgegenbringt. Das geht sogar so weit, dass es laut Josef Karo erlaubt ist, am Feiertag Kerzen in der Synagoge anzuzünden (Orach Chajim 514,5).
Daraus könnte man nun schlussfolgern: Am Tag, wenn die Sonne durch die Fenster scheint, ist es doch hell in der Synagoge. Dann bräuchte man eigentlich kein zusätzliches Licht, und das Ner Tamid könnte pausieren.
Aber: Auch wenn der Ursprung des Ner Tamid im Ungewissen liegt und vielleicht nicht den hat, den wir ihm zuweisen, ist es doch zu einem Brauch in allen Synagogen geworden, und den kann man nicht einfach so ändern.
Bimah und Aron haKodesch bilden die zwei Pole, zwischen denen sich das jüdische Gebet abspielt. Mit dem Aufkommen der jüdischen Reformbewegung, wanderte die Bimah nach vorne zum Torahschrank.
Alle Beter sollten nach vorne schauen. Ganz klar orientierte man sich an der Einrichtung von Kirchen. Das Gebet wurde vorne durchgeführt und wurde »förmlicher«. Auch heute findet man in orthodox orientierten Gemeinden in Deutschland Mischformen. Einige bedienen sich der traditionellen Raumaufteilung, andere haben eine klare Reformeinrichtung, aber einen orthodoxen Ritus. Dies betrifft oft Synagogen, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Sehr stark vereinfacht dargestellt, kann man sagen, dass die Gemeinden nach dem Krieg sich aus wenigen deutschen Juden zusammensetzen, die häufig durch das liberale Judentum geprägt waren und durch viele sogenannte »Displaced Persons« aus Osteuropa. Diese wurden meist in einem orthodoxen Judentum sozialisiert und prägten in den Nachkriegsjahren vor allem das religiöse Leben. Die »alteingesessenen« Juden kümmerten sich um Verwaltung und Kontakte zu den Behörden und oft auch um den Bau einer neuen Synagoge.
So kam es, dass mancherorts Synagogen mit einer Raumaufteilung einer klassischen Reformsynagoge für orthodoxe Beter entstanden, wie etwa in Dortmund (1956), Essen (1959), Düsseldorf (1958). Viele später gebaute Synagogen, wie Mannheim (1987), Recklinghausen (1997) und Bochum (2008) nahmen den traditionellen Faden wieder auf, während es wenige Gemeinden gab, die bei der Reformaufteilung blieben, wie Herford (2010) und Gelsenkirchen (2008).

Ein heikles, Thema, ist die Trennung von Frauen und Männern in den Synagogen. In vielen Synagogen sitzen Frauen getrennt von den Männern. In einigen Synagogen sitzen sie auf einer Empore über den Männern, in anderen sitzen Frauen auf einer Seite, Männer auf der anderen. Im schlechtesten Fall sitzen Frauen ganz hinten in Synagogenräumen. In einigen Fällen gibt es, zusätzlichen zur räumlichen Trennung, auch einen Sichtschutz, der »Mechitzah« genannt wird.
Alles andere – etwa, in welchem Stil die Synagoge errichtet wird, obliegt dem Geschmack und den Vorlieben der Zeit. Es gab zahlreiche Synagogen im »maurischen« Stil, um eine Eigenständigkeit zu demonstrieren, es gab gar eine Synagoge im Bauhaus-Stil in Plauen (1930) und im Mittelalter natürlich Synagogen in den vorherrschenden architektonischen Stilen.
Wir haben gesehen, dass die Synagoge heute tatsächlich in ihrem Aufbau ein »kleiner Tempel« ist und die Erinnerung an das große Vorbild aufrechterhält und zugleich ganz praktische Funktionen damit erfüllt. Das Gebet zwischen den zwei Polen Torahschrank und Bimah findet buchstäblich »in« der Gemeinde statt, während das Gebet mit dem Blick nach vorn eher einen passiven Charakter fördern kann.
Heute sind Gemeindezentren und Synagogen oft der erste Kontakt derjenigen, die sich wieder mit der Religion ihrer Eltern und Großeltern beschäftigen und nicht nur das Zentrum derjenigen, die aus einem religiösen Elternhaus stammen. Wenn auch die Nachfrage nach Mikwa’ot steigt, wird das ein Zeichen sein, dass auch vermehrt Judentum aktiv gelebt wird. Das wäre dann die vielbeschworene »Renaissance« jüdischen Lebens in Deutschland, die sich durch gelebtes Judentum in den Familien zeigt.