Sukkot

Der Sinn der Sukkah

In Hütten sollt ihr sieben Tage wohnen,
Denn in Hütten habe Ich eure Väter wohnen lassen,
Als Ich sie aus Ägypten herausführte.
3. B.M. 23, 42. 43.

I.

Als unsere Väter aus Ägypten zogen, mussten sie vierzig Jahre lang durch eine Einöde dahinziehen, mussten im Sonnenbrand den weiten Wüstensand durchwandern und in leichtgebauten Hütten wohnen. Da grünte kein Halm, reifte keine Frucht, sprudelte kein Quell. Und Gott gab ihnen das Manna zur Speise, und aus Fels und Kiesel ließ Er das Wasser hervorrieseln, ihren Durst zu stillen. Durch diesen Leidensweg und diese Kette von Prüfungen sollte nach dem Willen des Allmächtigen sich dem Herzen des jüdischen Volkes der Gedanke unauslöschlich und unverlierbar für alle Zeiten einprägen, dass der Mensch sein Glück nicht allein zu begründen vermag, dass vielmehr Gott es ist, der uns den Tisch des Lebens deckt, Gott, der uns nährt und speist, der uns erhält und vor allen Gefahren beschützt, Er allein! Gott ist unser Schutz, das ist die erste und wichtigste Lehre der Sukkah. Spiegelt nicht den gleichen Gedanken tausendfältig die ganze jüdische Geschichte wieder? Durch eine Menschenwüste hat Gott uns geführt, in welcher feindliche Gewalten uns von allem ausgeschlossen, was das menschliche Leben verschönt und genussreich gestaltet, in welcher das Streben unserer Verfolger beständig auf das eine Ziel gerichtet war »der Namen Israels soll nicht mehr genannt werden.« Aber Gott war unser Schutz und Beistand, Er war der Fels unseres Heils, und die Wogen des Hasses brachen sich, ohne uns vernichten zu können.

Unsere heilige Religion liebt den Anschauungsunterricht. Darum gebietet sie, dass wir alljährlich für sieben Tage unser festes Haus verlassen und in einer schwachen Hütte unsern Wohnsitz aufschlagen, in welcher nur ein wenig Laub über unserem Haupte die Decke bildet. Nicht auf dein Haus vertraue, so lehrt uns die Sukkah, sondern auf Gott. Er kann dich auch in einer gebrechlichen Hütte schützen; und entzieht Er dir seinen Beistand, so hilft dir kein Haus und kein Palast, auch wenn sie noch so fest gebaut und herrlich eingerichtet sind. Warum bist du so stolz auf deinen Besitz und vergötterst deinen Reichtum, glaubst, er sei gesichert »fest wie der Erde Grund«. Ach, die jüngste Zeit mit ihren traurigen Erfahrungen hat es wieder gelehrt »nichts nützt der Reichtum am Tage des göttlichen Zornes.« Grosse Vermögen, gewonnen in jahrzehntelanger Arbeit, sind in wenigen Augenblicken verloren gegangen, in kurzer Zeit völlig entwertet worden, und wie viele mussten ihr Haus verlassen, um einer Ungewissen Zukunft entgegen zu gehen! Und bliebe auch dein Vermögen unangetastet, kann dich Gott nicht hinwegnehmen von deinem Besitze, ist unsere Gesundheit und unser Leben nicht täglich und stündlich in seiner Hand?

Sieh dir die Sukkah an, welche unsere Thora alljährlich uns zu errichten befiehlt! Für die Beschaffenheit der Wände gibt es keine Vorschrift. Sie können aus einfachen Latten bestehen oder aus Holz, sie können aus festem Stein gebaut sein oder sogar aus Metall. Aber in einem sind sie alle gleich: ein leichtes Laubdach wölbt sich über allen. So sind wir Menschen verschieden nach Reichtum und Stellung und Ansehen. Aber in einem sind wir alle gleich, Reich und Arm, Hoch und Niedrig: wir alle bedürfen des Schutzes des Allmächtigen, und ohne Ihn können wir nicht bestehen. Ist aber Gott unser einziger Schutz, so müssen wir uns fragen: Verdienen wir seinen Beistand, sind wir seiner Hilfe wert? Durch das Blätterdach sehen wir die Sterne schimmern, wie Augen des Himmels. Gott sieht uns, Gott hört uns. Sei fromm und diene Gott, dann und nur dann kannst du getrost vertrauen auf den Allmächtigen, der deine Geschicke leitet.

II.

Die Hütte darf keine feste Wohnung sein, sonst verliert sie den Charakter der Sukkah, sie muss vielmehr einen nur vorübergehenden Aufenthalt vorstellen. Ist so die Sukkah nicht ein Bild des Lebens? Nur sieben Jahrzehnte sind nach dem bekannten Worte des Psalmisten unserem Erdenleben zugemessen. Flüchtigen Fußes gehen wir durch das Dasein. Dann aber winkt uns der Tod, und wir ziehen ein in ein höheres Leben. Diese Welt ist nur eine Halle vor der künftigen Welt. Hier sollen wir uns als gut und fromm bewähren, dann winkt uns der Lohn in der Ewigkeit. Wie wenig wird diese Lehre der Sukkah beherzigt! Wir bauen uns die Hütte unseres Lebens, als würden wir ewig auf Erden weilen. Wohl wissen wir, dass dies nicht der Fall ist »Alle wissen und sprechen mit dem Munde,« dass sie sterben werden. Kann man denn auch mit einem anderen Organe reden, als mit dem Munde? Aber wir sprechen es eben nur mit dem Munde, unser Tun jedoch entspricht nicht unseren Worten. Wir suchen Geld und Gut zu häufen, als würden wir ewig auf Erden leben, sorgen mit allem Eifer für Jahrzehnte voraus, als wüssten wir gewiss, dass wir sie erleben werden. Aber die Hauptsache vergessen wir völlig, dass dieses Leben nur ein vorübergehendes ist, und dass wir nach dem Tode werden Rechenschaft ablegen müssen über unser Wirken auf Erden. Dieses Leben wird häufig mit einem Traum verglichen. Aber dem Traum folgt das Erwachen, und für dieses Erwachen zu sorgen durch Erfüllung der göttlichen Gebote, durch fromme Werke, durch edle gute Taten, die uns einst vor den Thron Gottes begleiten sollen, daran denken wir nicht oder doch nicht genug. Sieh dir deine Sukkah an, nur einen vorübergehenden Aufenthalt stellt sie dar. So ist dein Dasein. Lebe nach Gottes Willen und tue den Menschen Gutes, so lange dir die Sonne des Lebens scheint, damit du einst geschmückt mit einem guten Namen hinübergehst in das ewige Leben.

III.

Die Hütte darf nicht niedriger sein als zehn Tefach und nicht höher als zwanzig Ellen. Eine wichtige Lebensregel liegt in dieser Vorschrift. Der Jude soll nicht auf alle Genüsse der Welt verzichten, er soll seine Lebenshütte nicht zu niedrig, er soll sie menschenwürdig bauen. Aber auch nicht allzu hoch darfst du deine Hütte aufrichten wollen. Schaue nicht neidisch auf das Haus des Nachbars, das schöner als das deine ist. Blicke auf diejenigen, die vom Glücke minder begünstigt sind als du, und sei zufrieden mit deinem Lose. Nicht Glanz und Flitter sichern dir dein Glück. Je bescheidener deine Ansprüche an das Leben sind, um so mehr Aussicht hast du, dass sie Erfüllung finden. Wie schön wäre es, wenn wir zu der einfachen Lebensart unserer Väter zurückkehren möchten. Sie machten keinen Aufwand und waren dennoch glücklich, glücklicher als ihre verwöhnten Kinder.

Ein vornehmer Römer, so erzählen uns die Weisen im Midrasch, kam einst zu Rabbi Elieser und erklärte ihm, er wolle zum Judentum übertreten. Nur störe ihn in der heiligen Schrift, die ihm im übrigen ausgezeichnet gefalle, der Satz: »Gott liebt den Fremdling, ihm Brot und Gewand zu geben.« Brot und Gewand, sprach der Römer, hat auch der Geringste von meinen Sklaven. Das Versprechen von Brot und Gewand kann mich gewiss nicht verlocken, das Judentum anzunehmen. Da sprach Rabbi Elieser zu ihm: Wenn dir dasjenige nicht genügt, um das unser Vater Jakob so herzinnig gebetet hat »Gib mir Brot zu essen und ein Gewand anzuziehen,« wenn du nicht bescheiden bist in deinen Ansprüchen an das Leben, so wäre es besser, du würdest dem Judentum fern bleiben. Jakob, unser Stammvater, sei, wie in allem, so auch in seiner Bescheidenheit unser Vorbild. Wie bald würde die Hast und Ruhelosigkeit, mit der wir durch das Leben jagen und uns selbst um die höchsten Güter des Daseins bringen, aufhören, wenn wir anspruchsloser wären und nicht einer dem andern in Reichtum und Luxus es gleich und zuvortun wollte! Einst, so sagen unsere Weisen, wird der Prophet Elia das Fläschchen mit dem Manna zurückbringen, das verloren gegangen ist. Das Manna ist das Bild der Einfachheit und Genügsamkeit. Eine Vorbedingung der Erlösung und des wahren Glückes ist Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit!

IV.

Die Hütte muss so beschaffen sein, dass in ihr mehr Schatten ist als Licht, sonst ist sie zur Benutzung ungeeignet. Eine tiefe Lehre der Erziehung liegt in dieser Bestimmung. Die meisten Eltern sind gegen ihre Kinder schwach. Sie suchen ihnen jeden Wunsch zu erfüllen und jeden Stein des Anstoßes aus ihrem Lebenswege zu entfernen. Mein Kind soll es einmal gut haben, besser als ich es hatte, so sprechen der Vater und die Mutter. Ob sie ihren Kindern damit wirklich etwas Gutes tun? Von einem missratenen Sohn des Königs David heisst es: »Sein Vater hatte ihn nie betrübt und nie zu ihm gesprochen: Warum tust du so?« Der König David hat mit seinen Erziehungsgrundsätzen kein Glück gehabt, und an diesem Sohne wenig Freude erlebt. Im Gegensatz hierzu lehrt die Heilige Schrift: »Wer die Rute zurückhält, hasst sein Kind,« und »Gut ist es für den Mann, wenn er ein Joch trägt in seiner Jugend.«

Mehr Schatten als Licht, das ist die Mahnung der Sukkah. Nicht jeder Wunsch, kaum ausgesprochen, werde den Kindern gewährt. Sonst treten sie verweichlicht und verwöhnt ein in das Leben, das den Menschen manchesmal hart anpackt, und in welchem diejenigen am besten bestehen, die von vernünftigen Erziehern von Jugend auf gelehrt worden sind, auf so manches zu verzichten, manches Begehren als unerfüllbar aufzugeben und trotzdem froh und zufrieden zu sein.

Welch vortreffliches Mittel zur Erziehung bietet die Gewöhnung an die Erfüllung der Vorschriften unserer heiligen Religion! Kinder, die gewöhnt sind, des Morgens zu beten, bevor sie ihren Hunger stillen, des Abends das Nachtgebet nicht zu vergessen, ehe sie müde ihre Ruhestätte aufsuchen, die nach Fleischspeisen mehrere Stunden warten, bevor sie Milch geniessen, die es gelernt haben, auf so manche lockende Speise zu verzichten, weil Gott sie uns verboten hat, werden später im Leben nicht leicht nach Unerlaubtem die Hand ausstrecken, denn es ist ihnen zur zweiten Natur geworden, sich zu beherrschen und zu bezwingen und ihre Begierden dem Diktate der Pflicht unterzuordnen.

Machen wir doch unsere Kinder auf die Schattenseiten des Lebens aufmerksam. Lehren wir sie, dass unter den Genüssen und den scheinbar unschuldigen Vergnügungen die Schlange der Versuchung und der Verführung lauert. Lehren wir unsere Kinder, die Sünde zu scheuen und Gott zu fürchten. Schärfen wir es ihnen ein, dass vor Gott nichts verborgen ist, und dass Er nichts vergisst, dass Er wohl ein Gott der Güte und der Barmherzigkeit ist, dass Er aber auch die Missetat straft und die Untreue ahndet, und dass jede Schuld sich rächt auf Erden!

V.

Die Hütte darf nicht mit Gegenständen bedeckt sein, die für Unreinheit empfänglich sind.

Nach Reinheit müssen wir Juden streben, mehr als andere Völker. Hat uns doch Gott ein hohes Ideal vorgezeichnet »Ihr sollt mir sein ein Reich von Priestern, ein heiliges Volk.« Wir wissen ja auch, dass man uns Juden mit besonders strengem Maßstab misst. Wenn ein Jude sündigt, so zürnt man der ganzen Gemeinde, und die Fehler des Einzelnen werden der Gesamtheit zur Last gelegt. Ja, noch mehr, Gott, Israel und seine Lehre bilden, nach einem bekannten Ausspruch im Sohar, eine Einheit. So wird auch, nach dem Verhalten Israels unter den Völkern, Gott und seine Lehre gewertet und beurteilt. Gibt es z. B. jüdische Wucherer, so führt das zu einer Entweihung des göttlichen Namens. Dann wird für die Vergehungen Einzelner die jüdische Religion verantwortlich gemacht, dann ist der Talmud schuld, dann taugt das jüdische Gesetzbuch, der Schulchan Aruch, nichts, und der Gott der Juden ist ein Gott der Rache! Sind wir Juden aber gewissenhaft, treu und ehrlich, edel und gut, so ist das eine Heiligung Gottes, und Gottes Namen wird durch uns gerühmt und zu Ehren gebracht.

VI.

Das Laub auf der Sukkah darf nicht mit dem Baume verbunden, es muss vielmehr abgepflückt sein.

Was ist unser? Worin besteht unser Besitz, auch wenn wir einmal von hinnen gehen? Auf diese Frage gibt das abgeschnittene Laub auf der Sukkah die Antwort. Was irdisch ist, verbunden mit der Erde, bleibt auf Erden zurück, und wer viel Geld zusammen scharrt, hat nach dem alten wahren Wort eines jüdischen Königs für Andere gesammelt. Aber was wir abgepflückt und für Höheres verwendet haben, die Stunden, die wir im Gotteshaus zugebracht, die Zeiten, die wir der Thora geweiht, die Mizwot, die wir vollbracht, die Wohltaten, die wir geübt haben, sie gehören uns in Wahrheit, sie bleiben unser Besitz, und sie gehen einst mit uns, wenn Gott uns ruft.

VII.

Eine Türe soll an der Sukkah nicht fehlen. Die Türe stellt die Verbindung dar zwischen dem Bewohner der Sukkah und der Außenwelt. Sei kein Egoist, so lehrt uns diese Vorschrift. Arbeite nicht bloss für dich und deine Familie, wirke auch für deine Nebenmenschen und betätige dich als ein nützliches Glied der menschlichen Gesamtheit. Denke an das schöne Wort des Hillel »Wenn ich nur für mich lebe, was bin ich dann?« Das höchste Glück ist, andere zu beglücken, die wahrste Freude, andere zu erfreuen. Gib den Armen, gib ihnen wieder und wieder und werde nicht müde zu geben, und das Streben, Anderen Gutes zu tun, werde dir zur zweiten Natur. Unser großer Lehrer Maimonides wirft einmal die Frage auf, was besser sei, einmal eine grosse Summe für gute Zwecke zu geben, oder die gleiche Summe in vielen kleinen Teilen. Ist es verdienstlicher und empfehlenswerter, einmal tausend Franken zu verschenken, oder tausendmal je einen Franken? Er antwortet, das letztere sei vorzuziehen, denn wer einmal sich zu einer großen Gabe aufschwingt, dessen Herz kann leicht wieder hart werden, so dass er sein Ohr ein anderes Mal dem Ruf der Not verschließt. Aber wer tausend mal gegeben hat, der wird nicht mehr aufhören zu geben, und das Wohltun wird ihm zu einer schönen Gewohnheit. Vielleicht ist dies der Sinn des Torawortes »Geben, geben sollst du, und es verdrieße dich nicht, ihm zu geben,« wie die Alten es erklären: hundertmal sollst du geben, dann wird es dir nicht mehr schwer fallen, deinem armen Bruder zu helfen.

Sukkot ist ein Fest der Freude und die Thora ermahnt uns: »Du sollst dich freuen an deinem Feste, du, dein Sohn und deine Tochter, dein Knecht und deine Magd, der Levite und der Fremdling, die Witwe und die Waise, die in deinen Toren sind.« Unsere Weisen bemerken aber hierzu so schön und sinnig, Gott spricht zu uns: »Meine Vier entsprechen deinen Vier; wenn du die Meinen erfreust, erfreue ich die Deinen.«
So wird durch das Gute, das wir Anderen erweisen, Sukkot, das Fest der Hütten, wahrhaft werden eine Zeit unserer Freude.

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Rabbiner Arthur Cohn (1862–1926) war Rabbiner von 1885 bis 1926 (orthodoxer) Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel.