Ha'asinu

Zum Wochenabschnitt Ha’asinu

Diese Woche in der Tora (Dt. 32,1-32,52):

Weltgeschichte von ihren Anfängen bis zum Ende in kurzer Gedichtform, nochmalige Ermahnung des Volkes, Vorschau auf Moschehs Tod.

Rosch Haschana
G~ttesherrschaft und -furcht

Rav Asri’el Ari’el

„Heute ist der Geburtstag der Welt, heute wird die ganze Menschheit gerichtet“ (Mussafgebet von Rosch Haschana). Heute ist der Geburtstag der Welt, der sie zu periodischer Ablegung von Rechenschaft verpflichtet. Kann sie ihre Erschaffung rechtfertigen? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Rabbiner Elijahu David Rabinowitsch-Teomim (der „Aderet“, u.a. Oberrabbiner von Jerusalem, Schwiegervater von Rabbiner A.J.Kuk) schrieb Folgendes über seinen Geburtstag: „Am Wochenfest wurde ich geboren, am Tage, als unsere heilige Tora gegeben wurde. Allerdings sah ich mich jedes Jahr vor, mir diese Sache nicht in Erinnerung zu rufen, denn es hätte mir Traurigkeit und Herzensschmerz verursacht, denn ich wusste, bei meinen vielen Sünden hätte ich keinen Grund zur Freude gehabt, und bei einem wie mir hätten [die talmudischen Weisen] sicher gesagt: ‚Es wäre besser für ihn, wenn er nicht erschaffen worden wäre'“.

Der Aderet hatte dabei folgende Talmudstelle im Sinn: „…und kamen überein, dass es für den Menschen zwar besser wäre, nicht erschaffen worden zu sein, nachdem er aber erschaffen worden ist, untersuche er seine Handlungen; manche lesen: erwäge er seine Handlungen“ (Eruwin 13b).

Wir stehen vor vollendeten Tatsachen. Die Welt wurde geschaffen, und der Mensch wurde geschaffen. Vielleicht ist es nicht „besser für ihn“, aber sicher ist es gut. Und da wir nun geschaffen wurden, sollten wir uns selbst prüfen, inwieweit wir unsere Aufgabe erfüllen, um auf dem Wege zum Hause G~ttes voranzukommen, zu einer Welt, die nur noch gut ist.

Wie halte es der Mensch nun mit dieser Rechenschaftsablegung? Der Mensch neigt doch von Natur aus dazu, seine Handlungen zu rechtfertigen. Und auch wenn der Einzelne manchmal zu Selbstkritik fähig ist – wie stelle das die ganze Menschheit an? Sie kann sich doch nicht selber richten, außer durch ihre allgemein akzeptierten Grundwerte und Moralvorstellungen. Wenn aber diese Konventionen selber reparaturbedürftig sind, wie kann sie dann wissen, wobei sie sich bessern soll? Woher weiß sie überhaupt, wonach sie streben soll?

Zu diesem Zweck gibt es einen Begriff, der für den Menschen, der sich die demokratische Kultur zueigen gemacht hat, und mehr noch – die post-moderne, schwer zu verdauen ist: die „Königsherrschaft G~ttes“. Wie sollte sich der Mensch über die Königsherrschaft G~ttes freuen? Freut er sich denn über den Rückschritt und den Verlust seiner Unabhängigkeit? Jauchzt er über die Rückkehr unter ein äußeres Joch? Ist er zu dem Gefühl bereit, als ob ein Würgeschlips seine Freiheit beengte?

Im Sozialkundeunterricht lernten wir von der Gewaltenteilung bei den Herrschaftssystemen in Legislative (Gesetzgebung), Judikative (Rechtsprechung) und Exekutive (Vollziehung). Die Entwicklung der Wissenschaften erweiterte die Autonomie des Menschen. Es scheint, als ob die Technologie die Gewalt der Vollziehung G~tt entrissen hat; als ob die menschlichen Konventionen über Werte und Moralvorstellungen die göttlichen Gesetze verdrängten; als ob die moderne Justiz an die Stelle G~ttes Rechtsprechung trat. Wohin wird uns das alles führen? Ist der Mensch im Jahre 5768 wirklich der Herr über sein physisches, moralisches und geistiges Schicksal? Ist er wirklich ein besserer Mensch? Und glücklicher?

Trotz allem fühlt sich der Mensch hilflos gegenüber den Naturgewalten, gegenüber dem Terror, gegenüber korrupter Herrschaft und Rechtsprechung, über das Sprießen von menschheitsbedrohlichen Ideologien, wobei das Grundprinzip des Pluralismus dagegen zu kämpfen verbietet, gegenüber dem Gefühl der Entfremdung, der Einsamkeit, der Bedeutungslosigkeit, dem Verlust des sicheren Bodens unter jeder Moralvorstellung. Wenn alles vom Menschen bestimmt wird, wenn alles relativ ist, wenn die Welt mit nichts Kontakt hat, das über sie hinaus geht – wie kann man da festlegen, was wirklich gut und moralisch ist? Wohin treibt unsere Welt? In welche Richtung geht der Fortschritt? Gibt es irgendeinen Maßstab zur Bewertung des Fortschritts? Und wohin strebt der Mensch als Individuum? Voller widersprüchlicher Wünsche weiß er selber nicht, was er von sich will. Er verfügt über keinen einzigen absoluten Maßstab zur Bestimmung von Gut und Böse.

Darum freuen wir uns, die göttliche Königsherrschaft auf uns zu nehmen.

„Darum hoffen wir zu dir, G~tt unser G~tt, bald die Verherrlichung deiner unwiderstehlichen Macht anzuschauen…“, „regiere über die ganze Welt in Herrlichkeit, erhebe dich über die ganze Erde in deiner Würde“. Die göttlichen Werte, die absoluten Werte, die wirkliche Wahrheit – sie alle müssen erscheinen; Mildtätigkeit und Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden, Ehrlichkeit und Weisheit, Mitgefühl und Liebe, Mut und Barmherzigkeit. Dahin muss die ganze Menschheit gebracht werden, alle Nationen, alle Kulturen, und jeder einzelne Mensch auf dieser Erde. „..dass erkennen und wissen alle Bewohner der Menschenwelt, dass dir jedes Knie sich beugt, jede Zunge schwört. Vor dir, G~tt unser G~tt, werden sie knieen und hinfallen, der Ehre deines Namens die Würde zollen“ (Alenu leschabeach).

An Rosch Haschana öffnen wir uns für das Jenseitige der Welt, jenseits der Menschheit. Ganz bewusst schränken wir unsere persönliche Unabhängigkeit ein, unser Ego, und erkennen an, dass es ein größeres Gutes gibt, etwas Absolutes, höher als alles, was wir selbst zu schaffen vermögen. Genau dann sind wir empfänglich für die Königsherrschaft G~ttes. Diese Offenheit gegenüber der Herrschaft G~ttes über uns, gegenüber dem höchsten und unendlichen göttlichen Guten – das ist es, was man „Himmelsfurcht“ nennt. Diese Offenheit gibt der Welt und dem Menschen die Bedeutung ihrer Existenz, die Richtung für ihre Bestrebungen. „..denn dein ist die Herrschaft, und in alle Ewigkeit hin wirst du in Herrlichkeit regieren“.

Das ist unser Standpunkt vor G~tt am Geburtstag der Welt, am Tag, an dem die ganze Menschheit gerichtet wird.

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