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Die Mikweh

Das rituelle Bad, das mit mayim chaim ["lebendiges", nicht-stehendes Wasser] gefüllt ist, hat sogar für die meisten Jüdinnen und Juden heute etwas Rätselhaftes. Denn über die Mikve spricht man nicht. Das gilt zumindest, sofern man sie erstens ausschließlich als Instrument ehelicher Reinheit versteht – und sie zweitens überwiegend mit der Frau in Verbindung bringt. Denn in tsniouth [Zurückhaltung, Verbergen] soll sich die jüdische Frau üben – dazu gehört auch, dass sie über ihre Sexualität nicht spricht. Wenn sie aber erklärt, sie gehe in die Mikve – noch dazu, wenn sie nicht verheiratet ist! – gesteht sie indirekt ein, eine solche zu haben. Daher das diskrete Schweigen über die uralte Tradition.

Die Torah ist deutlich gesprächiger. Und sie ordnete das rituelle Bad nicht nur der Frau zu, sondern vielmehr gewissen Ereignissen: Verletzungen, bestimmten Krankheiten, Geburt, dem Kontakt mit Toten. Unrein konnte man auf verschiedene Art werden. Das rabbinische Judentum hingegen war sehr auf die Regelblutung der Frau fixiert. Die Zahl der Jüdinnen, die jeden Monat die Mikve besucht, ist heute jedoch begrenzt. In der Moderne sind es oft extreme Erfahrungen, die Frauen zum ersten Mal ein Ritualbad aufsuchen lassen; die Geburt eines Kindes etwa, oder, aus traditioneller Sicht geradezu absurd, eine Scheidung. Das makaberste, aber durchaus nicht seltene Beispiel der Vergewaltigung sei auch genannt. Das Bedürfnis nach Reinigung und Reinheit ist hiernach besonders groß. Versteht man die Mikve im Sinne der Torah, so ist sie ein ursprünglich jüdisches Mittel, vielen Formen der Unreinheit zu begegnen; die enge oder doch die exklusive Verknüpfung mit der Sexualität der Frau entfällt. Es steht einer offenen Debatte um die Mikve damit halachisch nichts entgegen. Und eine solche Debatte findet längst statt, wobei allerdings die einfache Gleichung, dass sich orthodoxes und reformiertes Judentum gegenüberstehen, hier nicht funktioniert. Die Fraktionen sind feiner gestreut.

Zugegeben: Nicht wenige moderne jüdische Frauen lehnen die Mikve gänzlich ab. War es nicht zumindest auch die Unreinheit der Frau, der Zustand der nidda [Abgesonderten], der dazu führte, dass die Frau aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen wurde, nicht zur Torah gerufen werden, nicht das Rabbineramt bekleiden konnte? Und in der Tat: Die halachischen Regeln zur rituellen Unreinheit wurden stetig verschärft. Die spätere Halacha erklärte die Frau nicht nur während der Menstruation, sondern auch einen Tag davor und sieben danach für nidda. Insgesamt ist der Frau damit die Berührung mit Männern die Hälfe ihres fruchtbaren Lebens lang gänzlich verwehrt, und im streng gläubigen Milieu geht sie außerhalb der Feste auch nicht in die Synagoge. Dass sich die Weisen an sich einig waren, dass ein Sefer Torah keinen Zustand der Unreinheit erlangen konnte, wurde dabei geflissentlich ignoriert, ebenso wie die Tatsache, dass sich die Nidda-Gesetze auf den Bereich der Partnerschaft beschränken und nicht das Verhältnis Frau – Gesellschaft regeln sollten.

Was rankt sich nicht alles an Aberglaube um die Mikve! Wer nicht hingehe, werde unfruchtbar. Außerdem soll es das monatliche Bad gewesen sein, dass Juden im Mittelalter der Verfolgung preisgab: Wegen der besseren Hygiene-Standards seien sie weniger von der Pest betroffen gewesen, was sie als Verursacher derselben verdächtig machte. Die These hat nur einen Haken: Es ist nicht einmal bewiesen, dass ihre Grundlagen stimmen. Die statischen Daten über Pesterkrankungen von Juden sind dünn.

Eines steht fest: Die Mikve dient nicht der Waschung. Sie mag, darüber darf man streiten, Wurzeln im Bereich hygienischer Erwägungen gehabt haben, ebenso wie die Beschneidung. Doch sie ist seit Jahrtausenden Ausdruck des Glaubens, sie ist ein Symbol, das eine stabile Immunität gegen pragmatische Erwägungen aufweist. Es geht nicht um eine äußere Säuberung durch die Tevila [Eintauchen]. Im Gegenteil: Vor dem Untertauchen ist ein mindestens halbstündiges Bad Pflicht; das Haarewaschen, Nägelfeilen, das etwas gewöhnungsbedürftige Beschauen-Lassen durch die Balanit [die Frau, die das Untertauchen überwacht] ist Ritual im eigentlichen Sinne. Die Mikve wäscht nicht sauber, sondern rein.

In der Mikve zu baden ist nicht praktisch. Es kostet Geld, der Moment kommt immer, wenn man eigentlich gerade keine Zeit hat, und das nächste Bad ist vielleicht weit entfernt, sofern man nicht in einem Zentrum observanten Judentums lebt. Was führen also die Befürworter und Befürworterinnen der Mikve an? Warum sollte man sich dem Ritual unterwerfen? Für die Orthodoxie ist die Antwort einfach: Es ist ein Mitsva, der – unabhängig davon, dass von einer Gleichrangigkeit aller Pflichten der Torah auszugehen ist – sogar eine überragende Bedeutung beigemessen wurde.

Doch auch im Reformjudentum, sogar in radikal-liberalen Kreisen hat die Mikve leidenschaftliche Anhängerinnen. Ein feministischer Zweig amerikanischer Jüdinnen sieht darin ein Frauenritual, das gemeinsam begangen wird. In den USA erinnert mancherorts nur wenig an die traditionelle Zweckmäßigkeit, ja Schäbigkeit der europäischen Ritualbäder. Im Gegenteil, hier entstanden ganze Wellness-Center, in denen der Mikve-Gang eher ein spielerisches Element auf dem Weg zum Wohlfühl-Erlebnis ist. Auch unverheiratete und geschiedene Frauen finden sich hier ein – was aus orthodoxer Sicht unnötig ist, solange davon ausgegangen wird, dass diese Frauen keine sexuellen Kontakte haben. Doch kann man davon ausgehen? Nur in seltenen Fällen. Es soll in der Postmoderne ja sogar Fälle von Frauen geben, die Kinder bekommen, obwohl sie keine Ketuba besitzen. Was dann? Ist die Chuppa [Hochzeitsbaldachim, also die religiöse Eheschließung] eine Voraussetzung für die Mikve? Keineswegs. Die Torah geht nicht davon aus, und schon die Tatsache, dass jede Konversion in der Mikve endet, die zwingenderweise vor der religiösen Vermählung stattfindet, beweist das Gegenteil. Und so gibt es durchaus Stimmen aus der Orthodoxie, die das rituelle Bad auch Unverheirateten empfehlen. Die dogmatische Begründung ist schlüssig: Die Tevila ist ein Gebot aus der Torah und damit unumstößlich. Alles andere ist Beiwerk des rabbinischen Judentums.

Solche neumodischen Überlegungen sind in den gut besuchten Mikvaot der traditionellen Observanz jedoch undenkbar. Wer etwa die Mikve République in Paris besucht, eine Einrichtung der rechts von der Einheitsgemeinde stehenden Communauté Israélite Orthodoxe, wird von der beruhigenden Gewissheit umfangen, dass man hier jeder Reform abhold ist. Eine resolute Balanit vermittelt sogleich das unmissverständliche Gefühl, dass hier nicht experimentiert wird. Ein separater Gang führt in den Trakt für Männer. Die Frauen bekommen im Wartezimmer koscheren Pulverkaffee und führen lebhafte Gespräche über die Lebensqualität in Toulouse, die mageren Hebräischkenntnisse der Kinder des Nachbarn oder das Gebähren im allgemeinen. An der Pinnwand wird auf zwei wesentliche Dinge aufmerksam gemacht: Jeden Mittwoch findet ein Perücken-Frisierkurs statt, und wer noch nicht zu Hause gebadet hat, kommt mit einer Dusche nicht weg, sondern muss ein teureres Badezimmer anmieten. Die Gazette, die hier ausliegt, heißt Eschet Chail [die tugendhafte Frau], und es versteht sich, dass dieses Blatt nicht an vorderster Front für die Liberalisierung des Judentums kämpft. Im Wartezimmer sitzen Jüdinnen mit Kopftüchern, Hüten, Perücken und langen Röcken, aber auch Frauen im Hosenanzug, die Aktentasche neben sich. Denn diese Mikve steht jeder halachischen Jüdin offen, nicht jede Frau hier ist Mitglied einer orthodoxen Gemeinde.

Denn nicht mehr jede Synagoge leistet sich die eigene Mikve. Andere Bedürfnisse stehen im Vordergrund: Der Kinderunterricht, Grundsatzdebatten um die Zukunft des Judentums, die Eingliederung neuer Einwanderer aus Osteuropa, soziale Probleme der Gemeindemitglieder, kulturelle Aktivität, um in der Gesellschaft sichtbarer zu werden. Jahrhundertlang jedoch galt das Ritualbad als voranging vor dem Bau eines Gemeindezentrums. Und so ist die archäologische Gleichung einfach: Dort, wo Juden gewohnt haben, wird man Reste einer Mikve finden. Diese schlichte Erkenntnis kam spät; Überraschungsfunde gibt es immer wieder. Das traditionelle Bad liegt naturgemäß tief im Erdreich, da es meist ins Grundwasser hineingebaut wurde. Vielerorts wurden die mittelalterlichen Bäder einfach zugeschüttert und vergessen. Daher sind viele Bauwerke erhalten, selbst im von der Pogromnacht verwüsteten Deutschland. Und so ist es denn mitten in Köln, dass, überdacht von einem spitzen Glasdach, eine Mikve zu besichtigen ist: Eine der schönsten, mit Rundbogenfenstern verziert, und eine der ältesten.

Man geht davon aus, dass dies eines der ältesten jüdischen Bauwerke außerhalb Israels ist. Die Mikve ist vielleicht unser einziges vorsynagogales Erbe, das beinahe unverändert überlebte. Grund dieser Stabilität ist die Schlichtheit der Handlung. Und so ist jede Tevila auch ein Eintauchen in unsere Geschichte.