Talmud

Die talmudische Hermeneutik

Die talmudische Hermeneutik

Die Regeln, nach denen das mündlich überlieferte Religionsgesetz aus den Worten der Schrift, geschieht, heißen Middot (»Maßstäbe«, »Richtlinien«).

Am bekanntesten sind die dreizehn Middot (Schelosch essre middot) des Rabbi Ismael (Jischmael), die im täglichen Morgengebet (Schacharit) Aufnahme gefunden haben. Unter diesen sind die wichtigsten und am meisten angewandten die auch in Hillels sieben Middot enthaltenen ersten sechs:
1. Kal wechomer (»Leichtes und Schweres«), der Schluss a minori ad maius oder umgekehrt, der durch Aufdeckung eines logischen Fehlers in der Schlussfolgerung angefochten werden kann.
Beispiel Pessachim 6, 2:
Wenn das Schlachten (Schechita) am Schabbat, das doch sonst von der Tora aus verboten ist, beim Pessachopfer gestattet ist, müssten doch vorbereitende Handlungen, die auch sonst nur rabbinisch untersagt sind, erst recht erlaubt sein.
Widerlegung: das Schlachten darf erst am Nachmittage des 14. Nissan erfolgen, die Vorbereitungen konnten vor Eintritt des Schabbat getroffen werden.

2. Gesera schawa (»die gleiche Bewandtnis«), urspr. der Analogieschluss.
So nach Beza 1, 6 im Munde der Schüler Schammajs:
Die Hebe vom Brote (challa) ist gleich der vom Getreide eine Abgabe an den Priester. Wie man diese am Feiertage nicht überreichen darf, so auch nicht jene.
Widerlegung: Der Vergleich hinkt; denn diese darf ja am Feiertage gar nicht abgehoben werden, wohl aber jene.
Aus der sachlichen Vergleichung ergab sich dann die Wortvergleichung, wenn es darauf ankam, den Sinn eines missverständlichen Ausdrucks klarzustellen.
So wird Menachot 37b durch Vergleichung der Stelle:
Ihr sollt euch um eines Toten willen keine Glatze zwischen den Augen machen (Deut. 14,1), der Nachweis geführt, dass auch heim Gebot der Tefillin (das. 6, 8) »zwischen den Augen« nicht wörtlich zu nehmen, sondern die behaarte Stelle über der Mitte der Stirne gemeint ist.
Aus dieser Wortvergleichung entwickelt sich zuletzt die mnemotechnische Verwertung des gleichen oder ähnlichen Ausdrucks, zumal wenn er unnötig erscheint, nicht etwa zur Erschließung einer neuen Satzung, sondern lediglich zur Anknüpfung einer bereits überlieferten.
Wenn es z. B. Deut. 27, 14 heißt:
Die Leviten sollen anheben und sprechen, und dieselbe Wortverbindung (in) 25, 9 und 26, 5 wiederkehrt, so bietet dieses überflüssige »anheben« Gelegenheit, dem Schüler einzuprägen, dass ebenso wie die Leviten heim Betreten des gelobten Landes Segen und Fluch in der heiligen Sprache verkündeten, auch an den beiden vorangehenden Stellen die mit dem gleichen Pleonasmus eingeleiteten Worte hehr. gesprochen werden müssen (Sotah 7, 3-4).

3. Binjan aw (»Ausbau eines Grundsatzes«), die Erhebung einer an einem oder an mehreren Beispielen veranschaulichten Vorschrift zu einem allgemeinen gültigen Gesetz. Z.B. Deut. 22, l0: Pflüge nicht mit Ochs und Esel zusammen.
Das Verbot beschränkt sich weder aufs Pflügen, noch auf die genannten Zugtiere; es ist vielmehr sinngemäß auf jedes Zusammenspannen zweier Tiere von verschiedener Art auszudehnen.
Das wäre ein Binjan aw aus einem Schriftvers. Ein Binjan aw aus mehreren Versen ist z.B. Ex. 21, 33-22, 5. Dort wird die Haftpflicht für einen, wenn auch nur mittelbar, schuldhaft herbeigeführten Schaden an vier verschiedenen Beispielen beleuchtet, durch welche die Ersatzpflicht zu allgemeiner Geltung gebracht wird ohne Rücksicht auf den besonderen Fall, oh nun der Schaden durch Fahrlässigkeit, wie bei der unbedeckten Grube, oder durch Unachtsamkeit, wie beim Feuer, verursacht wurde, durch den Mutwillen eines Tieres, wie beim stößigen Ochsen, oder durch dessen natürliche Triebe wie heim Abweiden und Zertreten fremder Felder.

4. Kelal ufrat (»Umfassendes und Einzelnes«). Wenn auf einen weiteren Begriff engere folgen, wird jener durch diese einge­schränkt. Daher ist nicht mit jedem Verwandten die Ehe verboten, wie man ohne Kenntnis dieser Regel irrtümlich aus Lev. 18, 6 schließen möchte, sondern nur mit den in den folgenden Versen einzeln aufgezählten Angehörigen.

5. Perat uchelal (»Einzelnes und Umfassendes«). Wenn auf einige engere Begriffe ein weiterer folgt (wie z. B. im letzten der Zehn Gebote: die Frau deines Nebenmenschen, seinen Knecht, seine Magd, seinen Ochsen, seinen Esel und alles, was deinem Nächsten gehört), so werden jene durch diesen erweitert.

6. Kelal uferat uchelal (»Umfassendes, Einzelnes und Umfassendes«). Stehen engere Begriffe zwischen zwei weiteren, so sind diese nach jenen zu beurteilen. Wenn es daher vom Erlös des zweiten Zehnten (Ma‘aser) in Deut. 14, 26 heißt: du kannst das Geld für alles ausgeben, was dein Herz begehrt, für Rind- und Kleinvieh, für jungen und alten Wein und für alles, was du magst, so ist man allerdings nicht gerade auf die genannten Dinge angewiesen, aber es müssen doch gleich ihnen Nahrungsmittel aus dem Tier- und Pflanzenreich sein.

Die übrigen 7 Middot sind von geringerer Bedeutung, da sie nur selten vorkommen. Sie lauten:

7. die Regeln 4-6 finden keine Anwendung, wenn der umfassende Ausdruck zum Verständnis des engeren oder dieser zur Erklärung des weiteren Begriffes unentbehrlich ist.

8. Wird in einem umfassenden Gesetz ein inbegriffener Punkt maßgebend hervorgehoben, so ist er nicht nur für sich, sondern für den ganzen Umfang des Gesetzes maßgebend.

9. Wenn aus allgemeiner Verordnung ein Teil mit einer besonderen Forderung von gleicher Art herausgehoben wird, so geschieht es in mildernder Absicht niemals in verschärfender.

10. Wenn aus allgemeiner Verordnung ein Teil mit einer besonderen Forderung von ungleicher Art herausgehoben wird, so geschieht es bald in erleichterndem, bald in erschwerendem Sinne.

11. Tritt ein Einzelfall durch eine Sonderbestimmung aus dem Rahmen eines ihn ein­schließenden Gesetzes, so kann man ihn nicht wieder einfügen, sofern ihn nicht die Schrift ausdrücklich dem Rahmen wieder einfügt.

12. Unklare Ausdrücke sind aus dem Vorangehenden oder dem Nachfolgenden zu erklären.

13. Die Lösung eines Widerspruches zwischen zwei Schriftstellen ist in einer dritten zu suchen.

Am seltensten ist naturgemäß die Anwendung der am Schluss stehenden dreizehnten Regel über die Antinomie oder den Widerspruch zwischen zwei Gesetzesstellen, der mit Hilfe einer dritten kritisch zu überwinden ist.
Wenn z.B. in Num. 35, 4 von tausend Ellen die Rede ist, die den Leviten rings um ihre Städte als Trift zu gewähren sind, im folgenden Verse aber zweitausend Ellen nach jeder Himmelsrich­tung zugemessen werden, so bietet nach Rabbi Akiba (Sota 5, 3) das Verbot, am Schabbat den Wohnort zu verlassen (Ex. 16, 29 ); die Lösung.
Die zweitausend Ellen beziehen sich nicht mehr auf die Weideplätze, sondern auf die Schabbatgrenze (Techum), die jedem Orte außerhalb seines Weichbildes nach Ost und West, nach Süd und Nord bewilligt wird.
In ähnlicher Weise löst. Rabbi Akiba (Mechilta zu Bo, 4) auch den Widerspruch zwischen Ex. 12, 5 (Von Lämmern und Ziegen sollt ihr das Pessachopfer nehmen) und Deut. 16, 2 (Schlachte deinem Gotte ein Pessachopfer, Kleinvieh oder Rindvieh) durch Hinweis auf Ex. 12, 21. Siehe auch Mechilta dort 8, wo der Widerspruch zwischen Ex. 12, 15 (Sieben Tage sollt ihr Mazzot essen) und Deut. 16, 8 (Sechs Tage sollst du Mazzot essen) mit Hilfe von Lev. 23, 14 ausgeglichen wird: Sieben Tage von altem, sechs von neuem Getreide.

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Rabbiner Prof. Baneth wurde 1855 in Liptó-Szent-Miklós (Ungarn) geboren. Er studierte zunächst am Rabbinerseminar (unter Dr. Israel Hildesheimer) in Berlin, wechselte dann an die Universität und promoviert 1881 in Leipzig. 1882 ging er als Rabbiner nach Krotoschin. 1895 wurde er Professor für Talmud an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Prof, Baneth starb am 8. August 1930 in Berlin.