Interreligiöses, Judentum erklärt

Hat das Judentum viele Gesichter?

Von einem der auszog das Judentum kennenzulernen…

Was ist das moderne Judentum? Was für Strömungen bestimmen die heutige Zeit? Ein Bericht von jemandem der sich auf die Suche gemacht hat

Es war einmal… ein kleiner dummer Goj. Dieser konnte eins in seinem Leben nicht leiden und das war es, dumm zu bleiben. Und so bemerkte unser kleiner Goj eines schönen Tages auch, daß das Bild, das ihm sein Religionsunterricht in der Schule vom Judentum geliefert hatte, wohl ein leicht verzerrtes Bild gewesen war. Egal ob auf Photos, in irgendwelchen Dokumentarfilmen oder in der persönlichen Begegnung, verzweifelt suchte er die alten Männer mit weißen Bärten, Peies und Streimel auf dem Kopf, die er doch aus seinem Religionsunterricht so gut kannte. Unser kleiner Goj dachte sich schon, daß da irgend etwas nicht stimmte. Sollten schließlich doch nicht alle Juden so sein? Was tun?

Was lesen ist immer gut und so suchte er ein schönes Buch, welches ihm in seiner Verwirrung weiterhelfen konnte. Das Angebot war groß, die Titel versprachen fast nichts, also mußten erstmal ein paar Kriterien her: Es sollte ein Buch von einem jüdischen Autor sein, die Binnensicht ist ja zu bevorzugen, außerdem sollte es einen guten Überblick liefern.

Da stieß unser Goj auf ein Buch zweier jüdischen Autoren, Gilbert S. Rosenthal und Walter Homolka, mit dem verheißungsvollen Titel „Das Judentum hat viele Gesichter“. Das war doch genau das was unser kleiner Goj gesucht hatte.

Und als er das Buch aufschlug und das Inhaltsverzeichnis las, da sah er alle Strömungen des modernen Judentums vertreten (Orthodoxie, Konservative, Reform-Bewegung, Rekonstruktionismus, Mystik und Chassidismus). Merkwürdig ist nur die Verteilung: während sich das Werk der Reform-Bewegung noch mit über 60 Seiten widmet, muß sich die Orthodoxie mit 28 Seiten begnügen. Sollte da doch wieder nur ein Gesicht gezeigt werden?

Leider erwies sich dies bei der Lektüre als wahr. Während die Autoren die Entwicklung der Reform-Bewegung und die dort vertretenden Vorstellungen sehr detailliert schildern und sich dabei oftmals in der historischen Darstellung wiederholen, kommt die Orthodoxie nur kurz zu Sprache, ganz zu schweigen von der Mystik und dem Chassidismus. Zum Großteil wird die Orthodoxie auch nur in ihrer Abgrenzung zur Reform-Bewegung dargestellt.

Bereits der Beginn des Buches setzt ein mit den Anfänger der Reform-Bewegung in Deutschland im 19. Jahrhundert, ihrem Konflikt mit den orthodoxen Vertretern und der Weiterentwicklung in den USA und nicht mit einem, wenigstens kurzen, Abriß der Entwicklung vor 1800. Dies geschieht in wenigen Sätzen sozusagen nebenbei. Außerdem beschleicht unserm kleinen Goj bei der Lektüre leider das Gefühl, daß es teilweise an der Neutralität mangelt, die für eine gerechte Darstellung der einzelnen Strömungen notwendig wäre.

Sehr verwundert hat unseren klein Goj auch, daß bestimmte Riten, die er auch von sich klar zur Reform stehenden Juden kannte, unter dem Kapitel der Orthodoxie beschrieben wurden

(z.B. Anbringen der Mesusa an den Türpfosten; Entzünden der Nerot schel shabbat durch die Frau des Hauses). Da diese religiösen Praktiken auch in den anderen Strömungen gepflegt werden, bleibt also zumindestens unklar.

Weiterhin wird auch nicht auf die Frage der Anziehungskraft der Orhodoxie eingegangen, noch auf Rückbesinnungen innerhalb der Reform-Bewegung auf alte Riten und Traditionen.

Diese werden zwar kurz erwähnt, die sich daraus ergebenden Konfliktsituationen werden aber viel zu glatt dargestellt.

Unser Goj hatte nach der Lektüre also zwar das Gefühl über die grundlegenden Vorstellungen und die Praxis innerhalb der unterschiedlichen Strömungen informiert worden zu sein (besonders die knappe Zusammenfassung im Anhang ist hier lobend zu erwähnen), aber richtig kennengelernt hatte er wieder nur schablonenhaft ein Gesicht des Judentums. Das Literaturverzeichnis war auch eher enttäuschend und wird einem umfassenden Überblick wohl nicht gerecht.

Als Nachgeschmack bleibt, daß die einzige Fußnote des gesamten Werkes auf ein Buch einers der Autoren (Rabbiner Dr. Walter Homolka) verweist. Auch weiß unser gar nicht so dummer kleiner Goj, daß das in dem Werk mehrmals erwähnte Seder-ha Tefillot in Deutschland ebbend von Rabbiner Dr. Homolka herausgegeben wird. Allerdings lernt man Rabbiner Dr. Homolka auch dank seiner Präsenz auf mehreren Photos innerhalb des Buches kennen. Das freut unsern kleinen Goj, aber weitersuchen nach einer guten Darstellung des Judentums wird er trotzdem.

Rosenthal, Gilbert S. und Homolka, Walter. Das Judentum hat viele Gesichter. Darmstadt, 1999.