Zu Hoschannah Rabbah, den siebten Tag Sukkot gibt es einen alten aschkenasischen Brauch. Er ist längst vergessen, aber im Minhagim Buch, welches Jitzchak von Tyrnau (lebte im 14. Jahrhundert) zugeschrieben wird, findet man diesen noch.
Der jiddische Text zu diesem Brauch lautet:
Hoschannah Rabbah ist der siebente Tag von Sukkot
An allen anderen Tagen steht geschrieben KeMischpat und bei dem siebenten Tag steht KeMischpatam, damit man weiß, dass HaKadosch baruchHu an Rosch haSchanah gerichtet hat und geurteilt hat an Jom Kippur. Das weiß man durch den Mond. Derjenige, der seinen Schatten nicht sieht, bleibt nicht leben im selben Jahr, denn an Hoschanah Rabbah wird der Regen gerichtet: Wird es regnen oder nicht.
Darum erfährt man in dieser Nacht, wieviele Leute im kommenden Jahr zu ernähren sind.
Viele kleiden sich in ein Leinentuch und gehen dorthin, wo der Mond scheint. Dort legen sie das Leinentuch ab, so dass sie nackt bleiben und breiten ihre Glieder ganz aus. Fehlt ihnen der Kopf, dann wird es um ihren Kopf gehen, fehlt ihnen ein Finger, dann wird es um Verwandte gehen. Fehlt der Schatten der rechten Hand so ist es ein Zeichen für den Sohn, fehlt die linke Hand ist ein Zeichen für die Tochter. Wisse aber, dass der Schatten den man im Mondlicht sieht, nicht der richtige Schatten ist, sondern es ist der Schatten vom Schatten. Wenn genau hinsieht auf den Schatten von Menschen, so sieht man den Schatten den der richtigen Schatten umgibt.
Wir lernen in der Gemarah, dass einer der über Land zieht und will wissen ob er zurückkehren wird, oder nicht, der soll nach seinem Schatten sehen. Sieht er den Schatten vom Schatten so kehrt er wohlbehalten wieder Heim. Man rät davon ab, damit die Person nicht vollständig den Mut für Unternehmungen verliert.
Der Text zeigt, dass der unbekannte Illustrator nicht etwa unaufmerksam war, sondern viel eher, dass er den Minhag so beschreibt, wie man ihn sich vorgestellt hat:
Wer in der Nacht von Hoschannah Rabbah nach draußen geht und seinen Schatten im Mondlicht betrachtet, weiß, welches Schicksal ihn im neuen Jahr, welches mit Rosch haSchanah gerade begonnen hat, ereilen wird.
Wird sein Schatten vollständig gezeigt, dann wird er leben. Wird sein Schatten jedoch ohne Kopf gezeigt, dann wird er sterben.
»Minhag haZel« heißt dieser unheimliche Brauch – »Minhag des Schattens«.
Schon im 12. Jahrhundert stoßen wir auf einen Satz, der mit dem Minhag haZel in Verbindung steht. Eleasar ben Jehuda aus Mainz (1176–1238) berichtet in seiner Zusammenfassung von Halachot, bezeichnet als HaRokeach 1Daf 221, dass an Rosch HaSchanah das Schicksal des Menschen beschlossen und an Jom Kippur besiegelt wird – und dass dies an einem Schatten an Hoschana Rabba sichtbar wird.
Der Prozess gegen den Menschen wird also zwischen Rosch HaSchanah und Jom Kippur geführt, und laut Eleasar ben Jehuda kann man seinen Ausgang an Hoschana Rabba »sehen«.
Der Brauch ist aber noch älter. Es klingt darin eine Praxis an, die schon zu rabbinischen Zeiten bekannt war. Bereits Rabbi Ammi sagt im Talmud 2Horajot 12a, dass jemand, der auf eine Reise geht und wissen möchte, ob er auch zurückkehren wird, in ein dunkles Haus gehen soll. Sieht er seinen Schatten, dann wird er auch sicher zurückkehren.
Rabbi Ammi rät übrigens davon ab, dieser Praxis nachzugehen, damit die Person nicht vollständig den Mut für Unternehmungen verliert.
Das spiegelt ein Konzept wider, welches hinter Hoschannah Rabbah steht.
Der Schatten ist ein Symbol.
Wenn in der Tora über die Bewohner des »Landes« gesprochen wird und die Angst, die die Kinder Israels vor ihnen hatten, heißt es: »Gewichen ist ihr Schatten von ihnen und mit uns ist Haschem; fürchtet sie nicht«34. Buch Mose 14,9. Das kann zum einen so gemeint sein, wie es sich der Verfasser des Minhogim-Buches gedacht hat, oder so, dass die Bewohner des Landes keinen Schutz mehr genießen.
Die Psalmen (Tehillim) helfen bei der Interpretation weiter.
Es heißt dort: »Haschem ist dein Hüter, Haschem ist dein Schatten über deiner rechten Hand.«
Der »Schatten« G-ttes ist ein Bereich, in dem man Schutz erwarten kann.
Es geht also um den Schutz G’ttes, der hier in den Überlieferungen »sichtbar« wird.
Eine Frage ist in diesem Zusammenhang erlaubt:
Wird man schon an Jom Kippur in das »Buch des Lebens« eingeschrieben?
Ist das Urteil tatsächlich schon gesprochen? V
ielleicht noch nicht.
In der Mischna4Rosch Haschana 1,2 wird bestimmt, dass Sukkot das Fest ist, an dem alle »nach dem Wasser« gerichtet werden.
Dabei geht es um die Wasserzuteilung für die Welt und möglicherweise auch darum, welches Geschöpf im kommenden Jahr kein Wasser benötigen wird.
Dies erklärt zugleich, warum wir in den Gebeten von Sukkot so häufig dem Regen und dem Wasser begegnen. Also besteht hier eine Verbindung zu den Hohen Feiertagen, die nicht ganz abgeschlossen sind. Denn der Mensch hat noch die Möglichkeit, ein schlechtes Urteil abzuwenden.
Diese Vorstellung hat auch im Zohar ihren Niederschlag gefunden 5Wa’jechi 12a. Hier steht, dass das himmlische Urteil erst an Hoschannah Rabbah besiegelt wird.
Aus diesem Grund trägt der Vorbeter in einigen Gemeinden am siebten Sukkottag weiße Kleidung, genau wie an Jom Kippur, und vielleicht erklärt sich dadurch auch, dass es Brauch geworden ist, in der Nacht von Hoschana Rabba lange Tora zu lernen und sich engagiert zu zeigen.
Der Brauch des kopflosen Schattens ist mehr als eine Gruselgeschichte:
Er zeigt die Verbindung des letzten Sukkot-Tages zu Rosch Haschana und Jom Kippur auf. Wer den Brauch von nun an kennt, wird, obwohl er ihn vielleicht für unsinnig hält, möglicherweise an Hoschannah Rabbah nicht nur zufällig einen Blick auf den Schatten des eigenen Körpers im Mondlicht werfen.
- 1Daf 221
- 2Horajot 12a
- 34. Buch Mose 14,9
- 4Rosch Haschana 1,2
- 5Wa’jechi 12a