Was geschieht eigentlich am Schabbat, wenn an ihm doch alles ruht?
Es gibt eine jüdische Aussage, dass der Messias dann kommen werde, wenn die ganze Welt, wenn alle Menschen den Schabbat einhalten werden.
Dann wird der Tag des Herrn anbrechen, an dem Friede herrschen wird, und alles Leid dieser Welt ein Ende gefunden haben wird.
Obzwar es nicht so aussieht, dass dieser Zustand bald eintreten wird, scheint es aber immerhin möglich zu sein, und es klingt verlockend und wünschenswert, – einerseits.
Andererseits aber klingt es so, als sei damit dann alles zu Ende, als liefen danach alle nur noch mit der Harfe in der Hand und frohlockend herum, im Zustand ewiger Glückseligkeit.
Keine Angst!
Wir wissen inzwischen, dass nach jedem Schabbat eine neue Woche beginnt, und davor eine alte zu Ende gegangen ist. Das wiederum klingt profaner als es ist. Denn die neue Woche wird anders sein als es die alte Woche war. Vielleicht nicht für alle. Für manche wird vielleicht alles so weitergehen wie bisher. Die neue Woche kann aber anders werden als es die alte Woche war.
Am Beginn der Schriftlichen Torah, das sind die Fünf Bücher Moses, wird im Schöpfungsbericht geschildert, wie G-tt Himmel und Erde, das Wasser, das Licht und alle Lebewesen erschaffen hat. Am Ende des sechsten Schöpfungstages erschuf Er den Menschen. Dann schaute Er an, was Er alles erschaffen hatte, und siehe, es war sehr gut (I.BM 1, 31). Damit hätte alles ein Ende haben können und alles ein für alle Mal so bleiben können.
Aber genau so sollte es nicht sein. Denn es heißt weiter:
„G-tt vollendete am 7. Tag Sein Werk, das Er gemacht, und hielt inne am 7. Tag von all Seinem Werk, das Er gemacht. G-tt segnete den 7. Tag und sonderte ihn ab, denn an ihm hielt Er inne von all Seinem Werk, das G-tt erschaffen hat, es fortzugestalten“
(I.BM 2, 1-3).
Auf Hebräisch sieht das so aus:
„ויברך אלהים את יום השבת ויקדש אתו כי בו שבת מכל מלאכתו אשר ברא אלהים לעשות“
In der gegebenen Übersetzung dieses Textes stoßen wir auf drei Ausdrücke, die näher zu besprechen sich lohnt:
Das erste Wort ist – „שבת“„schavath“. Von diesem Tätigkeitswort leitet sich auch der Begriff „Schabbat“ her. Es bedeutet nicht „ruhen“, wie es meist übersetzt wird; es bedeutet vielmehr „inne halten“ in einer Tätigkeit und hat im Neuhebräischen gar die Bedeutung „die Arbeit niederlegen“, d.h. „streiken“ bekommen. „Inne halten“ aber heißt, dass nur eine kurze Pause eingelegt wird in einer Tätigkeit, die man fortzusetzen gedenkt.
Der zweite Ausdruck ist – „ויקדש אתו“„wayeqadesch otho“, „Er sonderte ihn ab“, nämlich den 7. Tag. Es wird meist übersetzt mit „Er heiligte den 7. Tag“. Der Ursprung des zugrunde liegenden Wortes „קדש“ – „qadesch“ bedeutet aber „absondern“. G-tt machte also eine Unterscheidung zwischen den 6 Tagen der zurückliegenden Woche und dem 7. Tag. Dieser 7. Tag sollte ein besonderer sein, ein ganz und gar andersartiger.
Das dritte Wort schließlich ist – „לעשות“„la’assoth“; wörtlich übersetzt bedeutet es „zu machen“. Der 1925 in Berlin geborene und 1991 in Cincinnati verstorbene jüdische Liturgie-Wissenschaftler Jakob Josef Petuchowski übersetzte es mit „fortzugestalten“, eine eher ungewöhnliche, aber treffende Übertragung. Denn dieses Wort in diesem Zusammenhang zu übersetzen ist für alle Übersetzer schwierig. Einige lassen es daher einfach unübersetzt, wie z.B. die (christliche) „Einheitsübersetzung“.
Andere übersetzen es, als handele es sich nur um eine andere Wortwahl für ein zuvor verwendetes Wort. So übersetzt z.B. Martin Luther „die G-tt erschaffen und gemacht hatte“.
Naftali Herz Tur-Sinai, geboren 1886 in Lemberg, gestorben 1973 in Jerusalem, Professor für Hebräisch an der Universität Jerusalem, übersetzte dann aber mit „das G-tt zu wirken geschaffen“.
Leopold Zunz, geboren 1794 in Detmold, gestorben 1886 in Berlin, Begründer der jüdischen literargeschichtlichen Forschung, übersetzte „das G-tt geschaffen, um es zu fertigen“. Erich Mendel, geboren 1902 in Gronau, gestorben 1988 in Philadelphia, letzter Kantor der jüdischen Gemeinde Bochum vor dem Holocaust und Begründer einer bedeutenden Sammlung synagogaler Musik, übersetzte „das G-tt geschaffen hatte, um fortzuwirken“, und Jakob Josef Petuchowski übersetzte, wie gesagt, mit „es fortzugestalten“.
Nach diesem Exkurs in die Welt der Übertragungen wiederhole ich den ganzen Satz noch einmal in der Übersetzung: „G-tt segnete den 7. Tag und sonderte ihn ab, denn an ihm hielt Er inne von all Seinem Werk, das G-tt erschaffen hat, es fortzugestalten.“
Aus dem bisher Gesagten ist zu entnehmen, dass nach sechs Tagen Schöpfungswerk G-tt inne hielt, um danach weiterzumachen. Und Er gab dem 7. Tag eine Sonderstellung zwischen dem, was davor war und dem, was danach kommen wird; Er heiligte diesen Tag, an dem Er inne hielt und nannte ihn daher „שבת“ – „Schabbat“, – das bedeutet „Inne-halten“. Dieses Wort wird ständig gebraucht. Nur einmal wird das Wort „Er ruhte“ – „וינח“) „wayanach“) tatsächlich verwendet (im II.BM 20, 8f) und einmal das Wort „Er schöpfte Atem“ („וינפש“ – „wayinafasch“), nämlich im II.BM 31, 16, wo es heißt „Er hielt inne und schöpfte Atem“.
Was G-tt für sich in Anspruch nahm, nach 6 Tagen angestrengten Schöpfens eine Pause einzulegen und Atem zu holen, das wollte Er auch dem Menschen, den Er sich zum Partner erschaffen hatte, nicht vorenthalten. Es war ein Geschenk der Liebe, dem Menschen den Schabbat zu schenken. So wird auch im Weihesegen am Beginn des Schabbats betont, dass der Ewige Seinen Schabbat in Liebe und Wohlgefallen den Menschen zum Anteil gegeben hat. Früher arbeiteten die Menschen, bis sie vor Erschöpfung tot umfielen. Auch, wenn sich die Idee des wöchentlichen Ruhetages inzwischen fast überall in der Welt durchgesetzt hat, so gibt es immer noch menschliche Gesellschaften, die den Schabbat nicht kennen. Im Japanischen gibt es ein eigenes Wort für „Tod durch Überarbeitung“. Es ist, als würde ein Mensch immer nur ausatmen, solange, bis schließlich kein Odem mehr in ihm zurückbleibt. Soweit soll es nicht kommen; deshalb ist Atemschöpfen notwendig. Und Atem schöpfen kann nur, wer inne hält. Das Ziel ist, das Leben zu bewahren. Wer aber den Schabbat nicht heiligt, ihn nicht einhält, wer nicht inne hält und Atem schöpft, der wird sein Leben verlieren. Das ist damit gemeint, wenn es im II.BM 31, 13f heißt: „Der 7. Tag aber ist ein Schabbat dem Ewigen, ein heiliges Innehalten; jeder, der an ihm Werkarbeit verrichtet, wird sein Leben verlieren.“ Was aber ist Werkarbeit ( – „מלאכה“„melakhah“)?
In Jesaja 66, 1 heißt es:
„Es spricht der Ewige: Der Himmel ist Mein Thron, die Erde Meiner Füße Schemel; wo ist das Haus, das ihr Mir bauen wollt, und wo der Ort für Meine Ruhestätte?“
Auch, wenn diese Frage bei Jesaja provokatorisch gemeint ist, stellt sie doch einen Zusammenhang her zwischen dem Werken G-ttes und dem Werken des Menschen. G-tt schuf Himmel und Erde, Seinen Thron und Seinen Fußschemel. Die Aufgabe der Menschen ist es, Ihm ein Heiligtum zu errichten, in dem Er Seinen Sitz in der Mitte der Menschen haben kann. In Kapitel 35 – 39 im II.BM wird geschildert, welche Fertigkeiten und Tätigkeiten für den Bau des Stiftszeltes, der Wohnung des Ewigen, und seiner Einrichtung und Geräte notwendig waren. Wie die Weisen erkannten, stellten diese Tätigkeiten das Grundmuster für alles menschliche Werken dar. Im Schabbat-Traktat der Mischnah, der so genannten Mündlichen Torah, Abschnitt VII, Satz 2, sind diese Arbeitstätigkeiten genannt, die für den Bau des Bundeszeltes erforderlich waren und mit denen der Mensch zugleich seinen Lebensunterhalt verdient, – es sind 39 Tätigkeiten.
Dazu gehören z.B. das Säen, das Ackern, Backen, Waschen, Färben, Weben, Knoten, Nähen, Schlachten (außer für Opferhandlungen), das Beschriften, Bauen, Feuer anzünden und Feuer löschen, Transportieren. Alle anderen Tätigkeiten des Broterwerbs sind davon abzuleiten. Es handelt sich insgesamt um Arbeiten, bei denen der Mensch eine Veränderung des äußeren Zustandes bewirkt.
Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Feuer anzünden zu, – es ist die einzige der 39 Tätigkeiten, die schon vor dem Beginn des Baues des Stiftszeltes am Schabbat ausdrücklich verboten wurde (im II.BM 35, 3).
All diese Arbeiten sind am Schabbat zu unterlassen, wie es heißt:
„An 6 Tagen arbeite und verrichte dein Werk. Der 7. Tag aber ist ein Innehalten dem Ewigen, deinem G-tt; verrichtet keinerlei Werk, du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd, dein Rind und dein Esel und all dein Vieh, und der Fremde, der in deinen Toren weilt, aufdass dein Knecht und deine Magd Ruhe finden wie du. Und erinnere dich daran, dass du ein Knecht warst im Lande Ägypten, und der Ewige, dein G-tt, dich von dort hat herausziehen lassen …“ (V.BM 5, 13-15).
Sechs Tage der Woche magst du ein Knecht sein und dich deinem Brotherrn unterwerfen für deinen Broterwerb. Wenn du den Schabbat heiligst, beendest du deine Alltagstätigkeit am Freitagabend, gehst ins rituelle Tauchbad, die Miqweh, als ein Untergebener und steigst aus ihm heraus als ein freier Mensch. Den siebten Tag hat dir der Ewige geschenkt, ihn zu heiligen. An diesem Tag hat dein Brotherr kein Recht über dich, auch sollst du dich nicht selbst an diesem Tag versklaven, – dein Leben steht auf dem Spiel.
Die Gefahr der Selbstversklavung droht vor allen Dingen Selbständigen, für die jeder Tag Nichtarbeiten Verdienstausfall bedeutet. Daher wird im II.BM 34, 21, auch besonders betont: „… selbst zur Zeit des Pflügens und des Erntens sollst du inne halten.“ Jeder, der weiß, worauf es beim Pflügen und Ernten darauf ankommt, kann ermessen, was diese Verpflichtung für den Landwirt bedeutet.
Wenn man also am Schabbat nicht arbeiten darf, – soll man dann nur die Hände in den Schoß legen? Im 8. Jahrhundert entstand im Judentum eine fundamentalistische Sekte, die Karäer, – die sahen das so und saßen am Schabbat hungrig in der Kälte und im Dunkeln.
Der Schabbat ist aber ein Tag der Freude, nicht der Askese. Und so fanden Juden zahllose Mittel, den Tag in Licht, in Wärme, bei guten Speisen und in geselliger Runde genießen zu können, ohne das Arbeitsverbot zu übertreten. Es wurden besondere Schabbat-Lampen konstruiert, deren Licht mindestens 24 Stunden brannte. Seitdem es elektrisches Licht gibt, behilft man sich mit Zeitschaltuhren, die zur gewünschten Zeit das Licht an oder ausschalten, – eine Tätigkeit, die dem Feuer anzünden gleich gesetzt wird, das der Mensch am Schabbat nicht aktiv betreiben sollte. Hausfrauen, die am Schabbat mit ihrer Hausarbeit gleichfalls inne halten sollten, entwickelten wunderbare Gerichte, die die ganze Schabbat-Nacht auf kleinem Feuer vor sich hin köcheln und dann zum richtigen Zeitpunkt fertig sind und wahre Delikatessen sind. Was aber ist am Schabbat, außer Sich-freuen und Beten, sonst noch nicht verboten?
Das Lernen, das Sich-befassen mit G-ttes Wort, das Nachdenken. Wenn man die Tatsache ernst nimmt, dass man am Schabbat ein freier Mensch ist, keinem menschlichen Dienstherrn untertan, dann wird man die Chance sehen, an diesem Tag über sich nachdenken zu können, über die Art, wie man sein Leben verbringt, womit man sein Brot verdient, und darüber nachdenken, was geändert werden könnte, welche Weichen zu stellen sind für eine notwendige und gewünschte Veränderung. Ein solches Nachdenken bewirkt keine äußere, aber eine innere Veränderung. Man wird in die neue Woche anders hinein gehen als man aus der alten heraus gekommen ist. Erst, wenn wir den Sklaven in uns überwinden, in unserem Denken und in der Art, wie wir uns verhalten, erst dann werden wir frei sein, auch wenn die äußeren Umstände noch nicht dazu passen. Pharao, – und wie er alle Gewaltherrscher der Welt und aller Zeiten -, fürchtete nichts so sehr, als dass seine Untertanen anfingen über ihre Situation nachzudenken. Als Moscheh und Aharon zu Pharao kamen und darum baten, die Kinder Israels für drei Tage freizugeben, damit sie G-tt opfern könnten, da antwortete er barsch:
„Die Arbeit muss diesen Menschen erschwert werden, damit sie daran zu tun haben und sich nicht an trügerische Reden kehren.“ (II.BM 5, 9)
Ein Mensch, der nach 17 Stunden schwerer Arbeit erschöpft in den Schlaf fällt, kann nicht mehr nachdenken. So sollten die Sklaven durch noch schwerere Fron am Atemholen und am Nachdenken gehindert werden. Dieses System wurde von den Nationalsozialisten unter dem Begriff „Vernichtung durch Arbeit“ dann noch perfektioniert. Allein das Atemschöpfen führt dazu, dass wir „neu beseelt“ sind im Wortsinn des hebräischen Wortes „וינפש“ – „wayinafasch“.
Wenn wir neu beseelt sind, erfüllt mit neuem Atem und neuer Kraft, wenn wir uns innerlich verändert haben, werden wir dann auch in der Lage sein, unsere äußeren Umstände zu verändern. Und dieses Neu-beseelt-sein erklärt, warum im Weihesegen für den Schabbat, im Text der Qiddusch-Zeremonie, der Schabbat einerseits als eine Erinnerung an die Geschehnisse des Schöpfungswerkes bezeichnet wird, andererseits als der Beginn aller G-ttesdienstlichen Versammlungen, eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Nur der Freie kann G-tt dienen und Ihm zu Ehren Festtage feiern; der Sklave dient nur seinem menschlichen Dienstherrn, ohne Feiertage.
Derjenige, der den Schabbat in dieser bewussten Weise begeht, der an ihm eine Veränderung erfährt, er ist in seiner alten Gestalt am Ende der vergangenen Woche gestorben, hat sein bisheriges Dasein ausgehaucht. Er ist am Schabbat in einen neuen Zustand gekommen und wird so nun in die neue Woche gehen; dieselbe Person, aber in neuer Gestalt. Eine Raupe kann niemals ein Schmetterling werden ohne durch den Zustand des Kokons gegangen zu sein, des Zustandes, in dem äußerlich sich nichts bewegt, keine Veränderung wahrzunehmen ist, in dem im Inneren aber doch alles anders wird.
Im Johannes-Evangelium heißt es: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht.“ (Joh. 12, 24) Und das gleiche Evangelium lässt Jesus am Kreuz seinen Erdenweg als Mensch beenden mit den Worten „Es ist vollbracht!“ (Joh. 9, 30) am Abend des Freitag, am Ende des 6. Tages. Am Samstag, am Schabbat, am 7. Tag, ruhte er im Grab. Da geschah äußerlich gar nichts. Am 8. Tag dann aber, am Sonntag, am 1. Tag der neuen Woche, wurde seinen Jüngerinnen und Jüngern sein neuer Zustand, zu dem er auferstanden war, Gewissheit.
Was aber hat es mit dem 8. Tag auf sich? Für Christen ist der 8. Tag, also der Sonntag, seither der Tag der Auferstehung, der Tag des Neubeginns. Viele Taufkapellen haben einen 8-eckigen Grundriss. Dieser 8. Tag ist ein uraltes jüdisches Symbol für den neuen Zustand, mit dem, nach dem Untergang des alten Zustandes und nach dem dazwischen liegenden Schabbat, das Leben in neuer Form nun weitergeht.
Am Abend des achten Tages kehrte die Taube zurück mit dem Ölblatt im Schnabel, die Noach nach dem Ende der Sintflut ausgesandt hatte (I.BM 8, 11), die der bisherigen Welt ein Ende bereitet hatte. Sechs Tage dauerte der Auszug der Kinder Israels aus Ägypten; am 7. Tag sahen sie Ägypten tot am Meeresufer, – das war ihr bisheriges Dasein -; am achten Tag begann ihr Weg durch die Wüste; sie waren nunmehr Freie. Das Laubhüttenfest im Herbst dauert 7 Tage, wie die 7 Tage der Woche.
An ihm wird der Wüstenwanderung gedacht, die an der Grenze zum Gelobten Land, am Jordan, endete. Bis dahin waren alle, die noch Sklaven in Ägypten gewesen waren, gestorben; eine neue Generation lebte, die keine Sklavenseele mehr hatte. Das dann unmittelbar nach dem Laubhüttenfest folgende, letzte Fest des jüdischen Festjahreskreises ist das Fest des 8. Tages, Schemini Atzereth, das Fest, das den Zustand nach dem Ende der 7 Tage beschreibt und feiert. An diesem Tag liegt die Wüstenwanderung bereits hinter den Kindern Israels. Auf die Jordanüberquerung folgte das Seßhaftwerden im Land der Verheißung. So wird es in der Torah und in dem nachfolgenden Buch Josua (Yehoschua) beschrieben.
Die Wanderung ist der Weg, auf dem wir uns heute noch befinden. Es ist unser Leben. Das verheißene Land ist der Zustand der Vollkommenheit, den wir erreichen wollen, aber noch nicht erreicht haben. So können wir am Fest des 8. Tages das Erreichen zwar feiern, müssen uns aber eingestehen, dass dieses Ereignis selbst für uns noch in der Zukunft liegt. Hätten wir das verheißene Land schon erreicht, wären wir alle Weise und Vollkommene, dann könnten wir mit dem Lesen der Torah aufhören. Denn die Torah beschreibt unser jetziges Wandern und zeigt uns den Weg. So aber, weil wir eben doch noch nicht angekommen sind, müssen wir erneut mit der Torah-Lesung beginnen. Daher ist das Fest des 8. Tages das Fest, an dem die alte Jahreslesung der Torah beendet wird und zugleich die neue Jahreslesung begonnen wird, an dem der Jahresfestkreis zu Ende geht und zugleich ein neuer beginnt. Es ist die jüdische Form des in Zyklen sich entwickelnden Lebens.
Warum aber ist der 8. Tag überhaupt notwendig? Warum kann nicht alles am 7. Tag mit dem großen und endgültigen Ausruhen enden? War doch die Schöpfung am Ende des 6. Tages „sehr gut“, wie es ausdrücklich heißt?!
Das Besondere der Welt, in der wir leben, ist, dass es eine Welt des Lebens ist, dass der Ewige in der Schöpfung dieser Erde nicht nur Gase, Mineralien und Eis geschaffen hat, wie auf anderen Gestirnen, sondern Leben in vielfältiger Form. Das Eigentümliche des Lebens ist die fortwährende Veränderung. Leben bleibt nur Leben, wenn es immer wieder vergeht, sich verändert und neu ersteht. Natürlich war die Welt vollkommen und sehr gut am Ende des 6. Schöpfungstages, – aber nur für den Moment. Das Schöpfungswerk war fürs erste vollbracht, aber nicht beendet. Wäre die Schöpfung so geblieben, wie sie war, – sie wäre in Schönheit erstarrt und museal geworden, ähnlich einem ausgestopften Pfau.
Es ist die Besonderheit des 7. Tages, des Schabbats, dem Leben neue Impulse zu geben. Deshalb heißt es: „G-tt segnete den 7. Tag und sonderte ihn ab, denn an ihm hielt Er inne von all Seinem Werk, das G-tt erschaffen hat, es fortzugestalten.“ (I.BM 2, 1-3), – und deshalb wird auch nach dem weltweiten Schabbat am Tag des Herrn wieder eine neue, gewiss interessante Welt beginnen, solange es Leben auf dieser Erde geben wird.