Was ist eine Mikwe?
Die Mikwe (oder Hebräisch מִקְוֶה / מקווה) ist ein Tauchbad, das nicht der Reinigung im Sinne der Hygiene dient, sondern rituellen Zwecken. Dem Untertauchen geht eine umfangreiche Körperreinigung voraus. Damit eine Mikwe die halachischen (religionsgesetzlichen) Voraussetzungen erfüllt, muss sie »lebendiges Wasser« beinhalten und eine Mindestmenge von 500 Litern.
Am Ende von Synagogenführungen werde ich oft von christlichen Besuchern gefragt, ob es im Judentum denn auch eine Taufe gebe. Das ist eine schwierige Frage, denn eine Taufe wie im Christentum, wodurch der Getaufte nach christlichem Verständnis ein Glied des Leibes Christi wird (I.Kor. 12: 13; 27), also zum Christ wird, gibt es im Judentum gewiss nicht.
Was aber machte Johannes der Täufer, von dem die Evangelien berichten, am Jordan?
Machte er Juden zu Christen? Das gewiss auch nicht. Das Christentum gab es damals noch nicht.
Bekehrte er Heiden?
Auch das nicht, denn, diejenigen, die zu ihm kamen, um getauft zu werden, waren Juden (Matth. 3: 5-7).
Was also machte er?
Er war ein Lehrer, dem daran gelegen war, Menschen von verwerflichem Tun und Leben abzubringen, sie zur Umkehr zu bewegen und dazu, sich und ihr Leben zu heiligen gemäß dem Wort des Ewigen »…Ich bin der Ewige euer G-tt. Heiligt euch und seid heilig, denn heilig bin Ich …« (III. BM. 11:44) Wenn die Menschen zur Umkehr bereit waren, dann wies er sie an, im Wasser des Jordan sich vollständig unterzutauchen und war ihnen dabei behilflich. So erfuhren sie durch das lebendige Wasser eine Läuterung. Durch dieses Untertauchen im Wasser hatten sie nun wieder rituelle Reinheit erlangt und hatten damit wieder Zugang zur Sphäre des Heiligen. Dies ist die Taufe im Judentum.
Freilich waren die meisten der Menschen, die zum Jordan kamen, keine dramatischen Sünder, die es nach Umkehr dürstete. Es waren einfache Leute, die nach einer schweren Woche sich rituell unrein fühlten und vor dem Schabbat, dem Ruhetag, wieder Reinheit vor dem Gang ins Heiligtum erlangen wollten.
Warum aber spielt rituelle Reinheit im Judentum eine so große Rolle?
Im III. Buch Moses spricht der Ewige zu den Kindern Israels
»… Ich bin der Ewige, der euch aus dem Land Ägypten heraufführt, um euch G-tt zu sein; so seiet heilig, denn heilig bin Ich.«
(III.BM. 11: 45)
Dieses Gebot zur Heiligung zu erfüllen, ist also eine wichtige Voraussetzung, um mit dem Ewigen eine Gemeinschaft eingehen zu können. Sich zu heiligen und sein Leben in Heiligkeit zu führen, ist also eine Bedingung für den Menschen, um Partner sein zu können in dem Bund, den der Ewige mit dem Menschen schloss (I.BM. 17: 7-8; II.BM. 19: 5-8 und 34: 27; V.BM. 29: 11-14).
Der hebräische Begriff für die rituelle Reinheit ist »tahor« – »טהור«, »rein«, was nur insofern etwas mit Sauberkeit zu tun hat, als die Sauberkeit ihrerseits eine Voraussetzung für die Reinheit ist. So, wie nach jüdischem Verständnis Seele und Körper eine Einheit sein müssen, damit der Mensch überhaupt sein Menschsein erfüllen kann (vgl. Psalm 115: 17-18), und einer der beiden, ohne den anderen, zu Nichts im Stande ist, so ist es auch erforderlich, dass alle Anteile des Menschen in gleicher Weise rein sind, um in Heiligkeit das Leben führen zu können.
Das Gegenteil von »rein« ist »tame« – »טמא«, »unrein«. Unreinheit ist eine alle Teile des Menschen umfassende Befleckung, die sich mit der Heiligungsbestimmung nicht verträgt und damit ein Hindernis ist für die Teilnahme an der Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft würde Schaden nehmen durch die Anwesenheit des Unreinen und die Berührung mit ihm. So muss die Gemeinschaft, in deren Mitte der Ewige Seine Wohnung genommen hat (II.BM. 29: 45-46; III.BM. 4: 1-3), wenn sie rein bleiben will, das Unreine, und damit auch den Träger der Unreinheit, aus sich heraussetzen. Der Verlust der Gemeinschaft, das Ausgeschlossen- und Einsam-Sein ist für jedes Lebewesen aber kaum erträglich und daher mit dem Leben nur schwer vereinbar.
Alle Verbannten haben das zu spüren bekommen. Das bedeutet es, wenn schon kurz nach der Erschaffung des Menschen, den Er als Sein Ebenbild als nur Einen schuf,
»der Ewige sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch alleine sei.«
(I.BM. 2:18)
Und deswegen ermahnt der Ewige Moses und Aharon, den Priester, dafür zu sorgen und alles zu unternehmen, dass die Kinder Israels sich nicht verunreinigen, und die Gemeinschaft nicht durch Verunreinigung Schaden nehme, und sie daran stürben (III.BM. 15: 31).
Was aber kann Verunreinigung bedingen?
Die Ursachen können sehr unterschiedlich sein und ebenso unterschiedlich die notwendigen Schritte ihrer Überwindung:
- Zum Beispiel geistige oder körperliche Unfreiheit, die Abhängigkeit von fremden Interessen bedingt, so genannten »fremden Göttern«, und verhindert, das vom Ewigen gegebene Leben selbst bestimmt zu leben. Die Sklaverei in Ägypten war ein solcher Zustand; die Kinder Israels waren in Ägypten im Zustand der Unreinheit. In solchem Fall ist ein erster Schritt zur Überwindung, die Unfreiheit wahrzunehmen und dagegen aufzubegehren bis zur Erlangung der Freiheit. Das Hindurchgehen durch das Schilfmeer hatte für die Kinder Israels dann die reinigende Wirkung des Wassers.
- In die Kategorie der Fremdbestimmung gehört auch eine Lebensweise, die sich nicht nach den Weisungen der Thorah ausrichtet, weshalb z.B. auch jemand, der von einer anderen Religion zum Judentum übertreten möchte, zunächst seine Lebensweise ändern und zuletzt sich einer rituellen Reinigung im Tauchbad unterziehen muss (Rabb. Chajim haLevy Donin: »Jüdisches Leben«, Kap. 17, Verlag Morascha, Zürich, 1987).
- Auch schuldhaftes Verhalten, das zu einer Gefahr für die Gemeinschaft wird und einen Ausschluss aus ihr nach sich zieht, eine so genannte Verbannung, kann rituelle Unreinheit bedingen. Voraussetzung für eine Läuterung und Wiederaufnahme in die Gemeinschaft ist die Wahrnehmung des eigenen Fehlverhaltens, das Zugeben, das Sich-Ändern, das Wieder-gut-Machen, schließlich die Bitte um Vergebung (vgl. Mirjams Ausschluss/IV.BM. 12: 15).
- Lebenskrisen oder das Ende einer schwierigen Beziehung können den Wunsch hervorrufen, rituelle Reinheit wieder zu erlangen für einen Neuanfang.
- Schwere Erkrankungen, die für eine Gemeinschaft gefährlich werden können, z. B. ansteckende Krankheiten, bedingen rituelle Unreinheit und machen medizinische Hilfe, zugleich Isolierung bis zur Heilung, notwendig.
- Auch Zustände von seelischer oder körperlicher Verletzlichkeit, etwa Menstruation oder eine Entbindung bedingen rituelle Unreinheit, – hier im Sinne von Unberührbarkeit durch andere zugunsten einer Schonung bis zur Beendigung der Verletzlichkeit.
- Der am stärksten verunreinigende Zustand aber ist derjenige der absoluten Lebensferne, der Tod. Sosehr der Tod auch zum Leben gehört, sosehr der Kreislauf des Lebens mit Geburt, Leben, Tod und neuem Leben eben auch den Tod umfasst, so ist der Tod doch auch der Gegensatz vom Leben. Der Ewige wohnt nicht unter den Toten, und nicht die Toten preisen den Ewigen (PS 115: 17).
So kann Unreinheit also verschiedene Ursachen haben, kann durch eigene Schuld erworben werden, kann durch schicksalhafte Lebensbedingungen über einen kommen, kann durch biologische Vorgänge bedingt oder mitten aus dem Leben durch den Tod verursacht werden.
Wichtig für den Einzelnen und wichtig für die Gemeinschaft ist es, die Unreinheit zu überwinden und Reinheit wieder zu erlangen, um das Leben fortführen und an ihm wieder teilhaben zu können.
Wenn die genannten kritischen Zustände Schritt für Schritt überwunden sind, bleibt noch ein letzter Schritt, um die rituelle Reinheit wieder zu erlangen: Das Eintauchen in lebendiges Wasser. Obwohl es theoretisch auch andere Möglichkeiten zur Läuterung gibt, etwa das Feuer (IV.BM. 31: 22-23), so ist das Wasser doch die für uns Menschen zuträglichste. Und so kommt Maimonides, ein bedeutender jüdischer Religionsphilosoph, zu dem Schluss:
»Alles, was unrein geworden ist, seien es Menschen, seien es Gegenstände, … kann nur durch das Untertauchen in … Wasser wieder rein werden.«
(Abschnitt Hilkhoth miqwa’oth in: Yad ha-chazaqqah von Rav Moscheh ben Maimon, gen. Maimonides)
Es gibt Dinge, die prinzipiell nicht verunreinigt werden können. Dazu gehört die Thorah, das Wort G-ttes. Und dazu gehört das Wasser, dass der Ewige uns zufließen lässt. Der Prophet Jeremiah nennt den Ewigen den Quell des lebendigen Wassers (Jerem. 2: 13), – selbst der Tod kann das lebendige Wasser nicht verunreinigen (III.BM. 11: 36).
Durch dieses Wasser leben wir. Im Schöpfungsbericht wird erzählt, wie der Ewige Alles schuf, das Licht, die Finsternis, die Himmelskörper, Pflanzen, Tiere, den Menschen, – nur das Wasser war schon da, vor der Erschaffung der Welt, und der Geist G-ttes schwebte über dem Angesicht des Wassers (I.BM. 1: 2). Der Ewige schied das Wasser in ein oberes und ein unteres (I.BM. 1: 7).
Als dann die große Sintflut über die verderbte Menschheit gebracht wurde »brachen alle Quellen der tiefen Abgründe hervor und die Schleusen des Himmels taten sich auf, und der Regen fiel auf die Erde vierzig Tage und vierzig Nächte.« (I.BM. 7: 11-12; vgl. auch 8: 2) Dasselbe Wasser, ohne das es kein Leben geben kann, kann auch den Tod bringen (Hiob 1: 21; II.BM. 14: 22 und 28).
Ma’ayan und Mikwe
Die Menschen verstanden, wo sie das lebendige Wasser finden könnten: in dem Wasser, das aus den Quellen der Tiefe kommt und dahin fließt.
Diese Art von lebendigem Wasser wird einfach »Ma’ayan«, »Quelle« genannt.
Es sind die Bäche und Flüsse, ein See, durch den sie hindurch fließen, das mit ihnen in Verbindung stehende Grundwasser, schließlich das Meer.
Und es sind natürliche Wasseransammlungen in Gruben, in die es hinein geregnet hat oder hinein geschneit.
In diesem Fall ist es stehendes Wasser, ohne Abfluss, – es kann aber überfließen, von einer Grube in eine benachbarte.
Eine solche Wasseransammlung nennt man »Miqweh (Mikwe)« – »מקוה«, »Wasseransammlung«.
Beide Arten, die Quelle und die Wasseransammlung, sind in der Thorah genannt, und von beiden heißt es, Totes kann sie nicht verunreinigen (III.BM. 11: 36).
Im Lauf der Zeit setzte sich das Wort Mikwe im Sinne eines rituellen Tauchbades als Überbegriff für beide Arten durch, für den Ma’ayan, also die Quelle, und die Mikwe im engeren Sinne, also die Regenwasseransammlung.
Wo Flüsse, durchflossene Seen oder ein Meer sind, war und ist es für die Menschen relativ einfach, unterzutauchen. Dies erklärt auch, warum so viele Menschen, wenn sie ihrem Leben eine Wendung geben wollten, zum Jordan gingen, um dort unterzutauchen. Denn der Jordan ist ein Fluss, gehört also zur Sorte »Ma’ayan«.
Schwierig wird es, wenn der Fluss nur wenig Wasser führt, wie es in südlichen Ländern im Sommer oft der Fall ist. Schwierig wird es auch, wenn der Fluss zufriert, wie es in nördlichen Ländern im Winter geschehen kann. Und das Flusswasser lässt sich nur sehr schwer erwärmen … So spielt in anderen Gegenden, wo es kaum aus der Erde fließendes Wasser gibt, die Regenwasseransammlung eine große Rolle.
Doch auch sie ist nicht ohne Probleme.
Die Schriftliche Thorah, die die Weisungen meist nur in knapper Sprache erteilt, hält sich nicht mit Details der Ausführung auf.
Das war und ist die Aufgabe der Mündlichen Thorah, in deren Diskussionen Menschen darum ringen, zu verstehen, wie die Weisungen im täglichen Leben konkret umzusetzen sind.
So steht in der Schriftlichen Thorah über jemanden, der unrein geworden ist durch Berührung von Unreinem:
»Er wasche seine Kleider, bade in Wasser und bleibt dann noch bis zum Abend unrein«.
(III.BM. 15: 5-7)
Hat der Unrein-gewordene in seiner Nähe einen Fluss, so ist alles recht unkompliziert.
Lebt er aber in einem wasserarmen Land, dessen Flusstäler meist ausgetrocknet sind, ist er auf eine Regenwasseransammlung angewiesen, die ihm das völlige Untertauchen im Wasser ermöglicht. Denn dies ist immer gemeint, wenn die Thorah davon spricht, dass einer »sich bade« (Angabe von Rav Yonah haKohen (John Cohn) in »Mischnajot, Teil IV/Toharoth; Verlag Victor Goldschmidt, Basel, 1968). So galt es zu klären, wie eine Regenwasseransammlung beschaffen sein muss, um ein sinnvolles Untertauchen möglich zu machen.
Hierüber geben Traktate der Mündlichen Thorah, der so genannten »Mischnah«, Auskunft, die im Talmud dann noch weiter ausgeführt und in späteren Codices, v.a. im »Schulchan Aruch«, in Gebrauchsanweisungen und Handreichungen umgesetzt wurden.
Es zeigte sich, dass eine Mikwe im engeren Sinn, also eine Regenwasseransammlung, folgende Bedingungen erfüllen muss: Um für eine Läuterung tauglich zu sein, muss sie mindestens 40 Se’ah, das sind etwa 532 Liter (1 Se’ah (altisraelisches Hohlmaß) ~ 13,3 l) Regen- oder Schneeschmelzwasser enthalten, das unmittelbar vom Himmel in das Becken geflossen ist.
Einer stehenden Person sollte dieses Wasser bis 3 Handbreit oberhalb des Nabels reichen, damit sie sich im Stehen vollkommen untertauchen kann. Ist nur wenig Wasser vorhanden, ist Untertauchen auch im Sitzen oder gar im Liegen statthaft.
Das Becken muss wasserdicht sein, das Wasser darin also stehen.
Hätte das Becken Risse, könnte das Wasser entweichen und würde dadurch zu einem fließenden Wasser. Was für eine Quelle Bedingung ist, nämlich fließendes Wasser, würde eine Wasseransammlung untauglich machen. Umgekehrt ist ein Fluss als Tauchbad ungeeignet, der fast nur aus vom Himmel gekommenem Schneeschmelzwasser besteht (Schulchan Aruch, Jore de’a, §201, 2).
Es würde die vom Ewigen bestimmte Scheidung zwischen den Wassern aufheben.
Eine Sonderform stellen Grundwasser-gefüllte Mikwen dar, die als Himmelswasser-Mikwen gelten, es sei den, sie befinden sich in unmittelbarer Nähe zu einem Fluss und zeigen mit ihm korrespondierende, wechselnde Wasserstände, – dann gelten sie als Ma’ayan.
Zur Läuterung völlig untauglich ist vom Menschen geschöpftes Wasser, also Wasser, das mit einem Schöpfgefäß in das Becken gegeben wird. Es ist kein Wasser direkt vom Himmel. Nur wenn die Mindestmenge von 40 Se’ah an Regenwasser sich in der Mikwe bereits befinden, darf geschöpftes Wasser hinzu gegeben werden, etwa erwärmtes Wasser.
Früher waren Menschen offenbar an härtere Lebensbedingungen gewöhnt. In ihrer Glaubenstreue hackten sie auch zugefrorene Flüsse auf, um darin unterzutauchen.
Seit etwa 300 Jahren sind die Anforderungen an Komfort gestiegen. Da Regenwasser-Mikwen leichter auf die Bedürfnisse moderner Menschen hergerichtet werden können, werden sie in den meisten Jüdischen Gemeinden gegenüber den Quellwasser-Mikwen bevorzugt, und erst seither gibt es auch so genannte Warmwasser-Mikwen.
Zur Erwärmung des Wassers wurden verschiedene Techniken entwickelt.
Heutige Mikwen in Städten bieten neben zeitgemäßen hygienischen Standards immer auch die Annehmlichkeit erwärmten Wassers1Georg Heuberger (Hrsg.): »Mikwe: Geschichte und Architektur jüdischer Ritualbäder in Deutschland; eine Ausstellung des jüdischen Museums Frankfurt am Main 1992«, Jüdisches Museum, Frankfurt/M., 1992.
Das Untertauchen
Wie geht das Untertauchen nun aber konkret vor sich?
Aus Gründen der Keuschheit ist die Mikwe zu bestimmten Zeiten für Frauen, zu anderen Zeiten für Männer geöffnet.
Männliche Personen für Männer, weibliche Personen für Frauen sind anwesend um zu helfen, Anweisungen und Ratschläge zu geben. Voraussetzung für das gültige Eintauchen in lebendes Wasser ist, dass alles Trennende entfernt wird.
Dazu gehören Schmutz, Schminke, Nagellack, Schmuck, Körperersatzteile, die abgelegt, bzw. in einem voraus gehenden Säuberungsbad, für das man sich Zeit nehmen sollte, entfernt werden müssen2Schulchan Aruch, Jore de’a, §198, 1.
Ist dies geschehen, betritt man den eigentlichen Mikwe-Raum, entkleidet sich, geht meist einige Stufen hinab zum Wasser, steigt ins Wasser hinein und taucht ein erstes Mal vollständig unter.
Dann richtet man sich auf, spricht den Segensspruch über das Untertauchen (» … ’al ha-tevilah«) und taucht hernach ein zweites Mal vollständig unter.
In Fällen einfacher Unreinheit genügt dies zur Wiedererlangung ritueller Reinheit, etwa wenn ein Mensch etwas Unreines berührt hatte.
Es gibt aber Fälle von Unreinheit, bei denen das Untertauchen alleine doch nicht ausreicht:
- Fälle von schwerer Krankheit etwa, nach deren Ausheilung noch eine Karenzzeit von 7 Tagen vor dem Untertauchen eingehalten werden muss und dann, am 8. Tag, ein Sühneopfer und ein Ganzopfer darzubringen ist (III.BM. 15: 3 und 19; vgl. dazu jedoch: III.BM. 14: 2f). – Um einem Menschen wieder zu ritueller Reinheit zu verhelfen, der die besonders schwere Verunreinigung durch die Berührung eines toten Menschen erlitten hat, ist es notwendig, ihn am 3. Tag und am 7. Tag mit der in lebendigem Wasser gelösten Asche zu besprengen, die von einer vollkommen roten, fehlerlosen, noch unter kein Joch gespannten Kuh stammt, die als Sündopfer dargebracht worden war. Am 7. Tag wäscht der Verunreinigte hernach seine Kleider, taucht in lebendigem Wasser unter und ist am Abend dann wieder rein 3IV.BM. 19: 19 und 31: 19. Zur Bedeutung der Roten Kuh: Eliahu Kitov: »Das Jüdische Jahr«, Bd. I (Adar), Verlag Morascha, Zürich, 1984. Einst frug mich ein jüdischer Totengräber, wie er aus seiner Unreinheit wieder herauskomme, da doch der Tempel nicht mehr stehe und es die Asche der Roten Kuh nicht mehr gebe. Tatsächlich wurden all die Opfervorschriften niemals aufgehoben, nur ausgesetzt, da wir sie nicht mehr durchführen können.
Doch schon zur Zeit als der Erste Tempel noch stand, erkannte der Prophet Hoschea’ (Hosea), dass es dem Ewigen letztlich nicht um Tieropfer geht, vielmehr um Liebe und G-tterkenntnis, auch dass ein Gebet Tieropfer ersetzen kann (Hosea 6: 6 und 14: 3). Unter anderem half dies unseren Weisen nach der Zerstörung des Tempels, zu verstehen, dass Gebet und Meditation an die Stelle der tatsächlich durchgeführten Tieropfer zu treten vermögen 4vgl. Psalm 141: 2 und Sifre Deuteronomium § 41.
So liest man an einem der Vorbereitungs-Schabbat vor dem Pessachfest, an dem jeder den Auszug aus Ägypten nachvollziehen soll, als sei er selbst dabei gewesen, die Bestimmungen über die Rote Kuh, denn der Zustand in Ägypten war ein Zustand des Todes für die Kinder Israels. Die Meditation über die Rote Kuh bereitet die Reinigung vor, das Aufsuchen der Mikwe am Vorabend vor dem Pessachfest stellt die rituelle Reinheit dann wieder her.
In diesem Sinn geht man auch vor anderen Festtagen in die Mikwe, insbesondere vor Schabbat-Beginn.
Denn die Dienstbarkeit gegenüber unserem menschlichen Dienstherrn unter der Woche ähnelt dem Zustand in Ägypten. - Ein besonderer Fall biologisch bedingter und wiederkehrender Unreinheit ist die Menstruation der Frau. Im III. Buch Moses heißt es ausdrücklich: »Einer Frau in ihrer unreinen Absonderung darfst du dich nicht nahen und ihre Blöße aufdecken« (III.BM. 18: 19).
Hier haben wir eine Situation, in der ein Mensch nicht krank ist, aber sich in einem verletzlichen Zustand befindet, in dem er vor Zugriff geschützt werden muss. Das klappt bei vielen Männern nur, indem man ihnen erklärt, ihre Frauen seien in diesem Zustand unrein und daher für sie verboten. Und es ist einem Mann in dieser Zeit verboten, seine Frau auch nur berühren. Unsere Weisen weiteten diesen, zum Schutz der Frau bestimmten Erlass, aus, indem sie zu angenommenen 5 Tagen Menstruation noch 7 Tage Karenzzeit hinzufügten, damit also eine 12-tägige Enthaltsamkeit zwischen Mann und Frau bewirkten, an deren Ende die Frau in die Mikwe geht und nun rituell wieder rein ist, ihrem Mann also nicht mehr verboten ist und nun bereit ist zur Vereinigung mit ihm.
Sie erkannten, dass dieser Wechsel zwischen Enthaltsamkeit und sexueller Aktivität eine außerordentliche Dynamik in die Beziehung zwischen den Eheleuten bringt, die zugleich der Erfüllung des ersten Gebotes der Thorah dient, sich zu Vermehren (I.BM. 1: 28).
Denn nach dem 12. Zyklustag hat die Frau Ihre fruchtbarste Zeit, und Mann und Frau freuen sich aufeinander. Das Ausleben von Sexualität in ritueller Reinheit gilt im Judentum als etwas G-ttgefälliges. - Eine andere besondere Situation ist gegeben, wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt 5III. BM. 12: 1-8; »Code of Jewish Family Purity« von Rabbi Elijohu Blasz, Committee For the Preservation of Jewish Familiy Purity, Monsey/N. Y., 1982/83.
Mit dem Einsetzen der Wehen wird sie für ihren Mann zur Unberührbaren. Bei Entbindung von einem Mädchen bleibt sie mindestens 14 Tage für ihn unberührbar, dann kann sie ins Tauchbad gehen und wird rein. Die Thorah schreibt hernach noch eine Zeitspanne von 66 Tagen vor, in der die Wöchnerin nicht ins Heiligtum kommen und Geweihtes nicht berühren darf.
In einer Zeit, als es noch keine Mutterschutz-Gesetze gab, hatte diese Karenzzeit auch die Funktion des Schutzes der Wöchnerin vor harter Arbeit und behielt diese Funktion später auch in der christlichen Gesellschaft (de.wikipedia.org/wiki/Muttersegen).Hernach ist ein Ganzopfer und ein Sühneopfer zu leisten, das waren zur Zeit des Tempels ein Schaf und eine Taube, bei armen Leuten zwei Tauben. Bei der Entbindung von einem Jungen verkürzt sich die Zeit der Unberührbarkeit der Wöchnerin gemäß der Thorah auf mindestens 7 Tage, um ihr die Möglichkeit der Teilnahme an der Beschneidung des Sohnes am 8. Tag zu geben. Nach rabbinischen Vorschriften bleibt sie jedoch mindestens 12 Tage unberührbar bis sie durch das Tauchbad wieder rein wird. In diesem Fall folgt eine 33-tägige Karenzzeit bis die Frau das Heiligtum wieder betreten darf, um die vorgeschriebenen Opfer darzubringen. Wenn der Junge das erste Kind der Frau ist, muss er vor der Opfergabe noch als Erstgeborener dieser Frau mit Hilfe eines Kohen, eines Nachfahren eines Priesters, ausgelöst werden, was ab dem 31. Lebenstag möglich ist (IV.BM. 18: 15f).
Dieser Vorgang ist im Lukas-Evangelium in Bezug auf den Erstgeborenen Marias recht genau beschrieben:
»Und als 8 Tage um waren und man das Kind beschneiden musste, gab man ihm den Namen Jesus …« (Luk. 2: 21).
Nach dem gregorianischen Kalender ist das der 1. Januar, der früher den Namen »Fest des allerheiligsten Namens Jesu« trug.
Im Lukas-Evangelium heißt es dann weiter: »Und als die Tage ihrer Reinigung nach dem Gesetz Mose um waren, brachten sie ihn nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen wie geschrieben steht im Gesetz des Herrn ‚Alles Männliche, das zuerst den Mutterschoß durchbricht, soll dem Herrn geheiligt heißen’ (II.BM. 13: 2; 13: 15), und um das Opfer darzubringen, wie es gesagt ist im Gesetz des Herrn ‚ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben’ (III.BM. 12: 6- 8).
Diese Ereignisse, nämlich die Auslösung Jesus’ und Marias Sühneopferdarbringung, wurden in der römisch-katholischen Kirche am 2. Februar, gefeiert, 40 Tage nach Weihnachten, unter dem Namen »Fest Mariä Reinigung oder Lichtmeß«. 6Aus: »Das vollständige Römische Messbuch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Messbuch von Anselm Schott O.S.B.; Herder Verlagsbuchhandlung Freiburg i.Br., 1937; S. 75 und S. 788 Es mag befremdlich erscheinen, dass eine Frau, die entbunden hat, ein Sühneopfer darbringen soll.
Nach jüdischem Verständnis hat die Frau weder in Sünde empfangen, noch in Sünde ihr Kind zur Welt gebracht. Im I. Buch Moses wird berichtet, dass es im Garten Eden den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gab, von dem zu essen der Ewige dem ersten Menschenpaar verboten hatte (I.BM. 2: 17). Doch sie aßen davon. Für die Frau war die Folge davon, dass sie seither unter Schmerzen Kinder zur Welt bringt, und für den Mann, dass um seinetwillen die Erde verflucht wurde und er sich seither mit Schmerzen von ihr ernährt (I.BM. 3: 16-17). Es ist nicht eine ererbte Sünde, die uns von Geburt an anhafte.
Nach jüdischer Auffassung wird der Mensch mit reiner Seele geboren (bT, Berachoth 60b). Es sind vielmehr die Folgen der Handlungen unserer Ureltern und Vorfahren, die zu einer Zerrüttung der Schöpfung führten, die bis heute noch nicht behoben ist.
Die Welt wieder zu heilen, sie zu reparieren, sie von ihrer Verfluchung zu erlösen, ist eines der großen Anliegen des Judentums, das jeden Einzelnen aufruft, durch sein Verhalten sich daran zu beteiligen.
Der hebräische Ausdruck dafür ist »Tikkun ’olam« – »תקון עולם«, »Reparatur der Welt«.
Am Ende jedes G-ttesdienstes wird das Lied »’Alejnu« – »עלינו«, »Es ist an uns …« zur Verherrlichung des Ewigen gesungen, in dem es heißt »Deshalb hoffen wir … die Welt zu vervollkommnen als Reich des Allmächtigen …«, womit dieser Gedanke zum Ausdruck gebracht wird (»Siddur Schma Kolenu«, Verlag Morascha, Zürich, 1997.)Und in diesem Sinn bringt die Frau, die unter Schmerzen ihr Kind zur Welt gebracht hat, ein Sühneopfer dar, ihre Sühne für die von Menschen zu verantwortende Zerrüttung der Welt. Der Gedanke der Unberührbarkeit der Frau nach der Geburt eines Kindes mit der nachfolgenden Karenzzeit und der Sühnegabe erhielt sich, wenn auch in abgewandelter Form, durch die Jahrhunderte hindurch auch im Christentum. Im Römischen Katholizismus war es üblich, dass eine Frau sich nach der Entbindung noch eine Zeit lang vom Kirchgang zu enthalten hatte und vor dem Wieder-Betreten der Kirche sich erst noch einer Reinigung und Entsühnung zu unterziehen hatte. Die Zeremonie wird im Rituale Romanum seit 1614 zwar unter der Bezeichnung »Segnung der Mutter nach der Geburt« geführt, wurde aber noch bis zum II. Vatikanischen Konzil in den 1960-iger Jahren im Sinne eines älteren Verständnisses als so genannte »Aussegnung« durchgeführt:
Die Wöchnerin kniete an der Schwelle zur Kirche, eine brennende Kerze in der Hand. Der Priester kam aus dem Kircheninnern zu ihr heraus, besprengte sie mit Weihwasser, übertrug ihr den so genannten »Muttersegen« und führte sie dann erst in die Kirche zurück, wo sie eine Opfergabe darbrachte. Ähnliche Riten gab es auch im protestantischen Christentum, die dort als »Einsegnung« bezeichnet wurden. (de.wikipedia.org außerdem: Pius Parsch: »Laien-Rituale. Das Buch des Lebens«, Volksliturgischer Verlag, Wien, 1939)
Heute
Während die traditionellen Formen religiösen Lebens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts für die meisten Menschen selbstverständlich waren, ist seither eine spürbare Entfremdung eingetreten, sowohl bei Juden als auch bei Christen.
Früher galt der Bau einer Mikwe als für die rituelle Reinheit der Gemeinde wichtiger als der Bau einer Synagoge.
Und das Sich-Benetzen oder Besprengt-Werden mit geweihtem Wasser war für die meisten Christen bei zahlreichen Anlässen eine Selbstverständlichkeit. Das hat sich geändert.
Viele meinen, wenn sie sich ausgiebig geduscht haben, nun wären sie rein. Der Prophet Jeremiah gab aber schon damals zu bedenken:
»Auch wenn du dich mit Lauge wäschst und nähmest noch soviel Seife dazu, so bleibt doch als Befleckung dein Vergehen vor Meinem Angesicht, Wort G-ttes, des Herrn« (Jerem. 2: 22).
Dies ist eine schreckliche Gewissheit für Menschen, die sich einer seelischen oder körperlichen Beschmutzung im rituellen Sinn bewusst werden. Sie leiden oft sosehr darunter, dass sie in fortwährendem Waschzwang sich immer wieder von der Befleckung zu reinigen versuchen, oft, bis sie ganz wund sind. Solchen Menschen hilft eine Dusche nicht. Das Bewusstsein, mit dem Spender des Lebens über das unmittelbar von Ihm erhaltene Wasser in Beziehung treten zu können und hierdurch Reinheit wieder zu erlangen, ist für solche Menschen ein möglicher Trost.
In unserer schnelllebigen Lebensweise fehlt uns oft die Zeit, oder genauer: die innere Ruhe, um uns auf so etwas einzulassen.
Wer nimmt sich noch die Zeit für ein Bad? Die Dusche muss reichen. Und doch sehnen wir uns auch heute nach Möglichkeiten und Wegen, mit uns selbst, und auch mit unserem Schöpfer ins Reine zu kommen.
Viele Wellness-Center greifen dieses Bedürfnis auf. Der Gang in eine Mikwe kann zu einem Meditationsereignis werden, wenn ich mir Zeit, Ruhe und Bereitschaft dazu mitnehme. Die Vorbereitung vor dem Eintauchen und schließlich das Eintauchen selbst können uns auch im 21. Jahrhundert eine Hilfe sein, uns auf die essentiellen Dinge in unserem Leben zurückzubesinnen.
- 1Georg Heuberger (Hrsg.): »Mikwe: Geschichte und Architektur jüdischer Ritualbäder in Deutschland; eine Ausstellung des jüdischen Museums Frankfurt am Main 1992«, Jüdisches Museum, Frankfurt/M., 1992
- 2Schulchan Aruch, Jore de’a, §198, 1
- 3IV.BM. 19: 19 und 31: 19. Zur Bedeutung der Roten Kuh: Eliahu Kitov: »Das Jüdische Jahr«, Bd. I (Adar), Verlag Morascha, Zürich, 1984
- 4vgl. Psalm 141: 2 und Sifre Deuteronomium § 41
- 5III. BM. 12: 1-8; »Code of Jewish Family Purity« von Rabbi Elijohu Blasz, Committee For the Preservation of Jewish Familiy Purity, Monsey/N. Y., 1982/83
- 6Aus: »Das vollständige Römische Messbuch mit allgemeinen und besonderen Einführungen im Anschluß an das Messbuch von Anselm Schott O.S.B.; Herder Verlagsbuchhandlung Freiburg i.Br., 1937; S. 75 und S. 788