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Chance für die deutschsprachige Welt

Unter den ersten Rückmeldungen zur Online-Veröffentlichung der Talmud-Übersetzung war eine ausführliche Würdigung des Regierungsbeauftragten gegen Antisemitismus des Landes Baden-Württemberg , Dr. Michael Blume
Den Text geben wir natürlich gerne weiter.

Warum die Onlinepublikation des Talmud eine Chance für die deutschsprachige Welt ist

Liebes Team von talmud.de,

zu den Klischees, die meinem Stamm – den Schwaben – zugeschrieben werden, gehört die Schwierigkeit, außerhalb des Gottesdienstes irgendwen zu loben. Jahrhunderte der lutherisch-pietistischen Reformation hätten uns, so wird gesagt, zwar fleißig, gebildet und wohlhabend, aber auch wenig genussfreudig, grüblerisch und misstrauisch gemacht. Wir seien eben eines dieser Völker, die es bei der Völkerwanderung doch nicht über die Alpen geschafft hätten.

Mein erster Dank an Euch gilt dem Umstand, dass ich diesen Vorurteilen hiermit deutlich widersprechen kann: Denn ich kann, will, ja muss talmud.de aus ganzen Herzen loben. Aus Freude an der Bildung im biblischen Sinn des Wortes. Und aus der ausdrücklichen Anerkennung heraus, dass wahres Glück eher hier als in materiellem Besitz zu finden ist.

Ich entstamme einer nichtreligiösen Familie mit Wurzeln in der damaligen DDR und ließ mich erst als Erwachsener evangelisch taufen. Meine Frau Zehra ist Muslimin türkischer Herkunft. Doch ich hatte das große Glück – das ich jeder Studentin und jedem Studenten auf diesem Planeten völlig unabhängig von der Religionszugehörigkeit wünsche -, die „Weisheit des Talmud“ kennenzulernen; in meinem Fall durch das gleichnamige Buch des Holocaust-Überlebenden und Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel (1928 – 2016). Meiner Bitte, eine Neuausgabe von Wiesels bedeutenden Werken zu unterstützen, hat die Baden-Württemberg-Stiftung vor wenigen Wochen entsprochen.

Denn der bleibende Wert des Talmud für die ganze Welt besteht – so möchte ich behaupten – gerade „nicht“ nur darin, dass er üble Vorurteile des Antisemitismus widerlegen kann. Er besteht darüber hinaus darin, Menschen aller Religionen und Weltanschauungen erschließen zu können, wie Schriftreligionen immer und ausnahmsweise leben – wenn und solange sie denn leben. Der Talmud ist das älteste Dokument der Weltgeschichte, das 1. dokumentiert, dass jede Heilige Schrift immer wieder neu ausgelegt werden muss, um relevant zu bleiben und 2. das die dabei entstehende Vielfalt nicht etwa verleugnet und verschweigt, sondern feiert. Seine prägende Kraft liegt dabei nicht nur in den Inhalten, sondern schon in den verwendeten Alphabetschriften selbst – denn erst mit den Alphabeten entstanden Schriftsysteme, die von jedem Kind gelernt werden konnten. Dass der Noahsohn Schem im Talmud gerade nicht als Begründer einer angeblichen „Rasse“, sondern eines Lehrhauses in Alphabetschrift vorgestellt wird, hat mir persönlich ein tieferes Verständnis des Semitismus und des Bildungsneides im Antisemitismus eröffnet. Und ich hoffe sehr, in Zukunft daran mitwirken zu dürfen, ein tieferes Verständnis des „talmudischen“ Schem sowie seiner Brüder und Nachkommen zu erschließen. Meere des Wissens liegen noch vor uns!

Der Talmud ist bis in seine Debatten und Geschichten hinein sich selbst reflektierende und lebensbejahende Erkenntnistheorie. Selbstverständlich bietet er eine grundlegende Chance, das Judentum besser aus sich selbst heraus zu verstehen. Aber schon Lazarus Goldschmidt – Elieser ben Gabriel – (1871 – 1950) hat den Maßstab der Gelehrsamkeit darüber hinaus gesetzt, indem er neben dem Talmud auch noch das Buch Henoch – u.a. im Kanon afrikanischer Kirchen – und den Koran übersetzte. Auch damit stand er in der Tradition großer Gelehrter wie Rabia von Basra, Maimonides oder Meister Eckhart, die bereits vor Jahrhunderten weit über das Wissen ihrer je eigenen Traditionen hinausgriffen.

So will ich auch aus meiner eigenen, beschränkten Erfahrung hinaus würdigen: talmud.de ist ein Geschenk an alle Religionen und Weltanschauungen, ja an die gesamte deutschsprachige Welt. Auch die Christin kann durch den Talmud besser verstehen, was es mit dem Leben und den Worten des Juden Jesus auf sich hat. Sie wird unter anderem erkennen, dass Jesus selbst die Heiligen Schriften nie als „Altes Testament“ bezeichnet hätte – denn nichts „veraltet“ an einer Schrift, die lebendig und vielfältig ausgelegt wird. Auch die Muslimin kann entdecken, dass der Koran direkt auch den Talmud als göttliches Wort zitiert – beispielsweise in der bekannten und zu selten reflektierten Aussage, dass jedes Menschenleben für die ganze Welt zähle. Die Humanisten können entdecken, dass religiöse Schriften nur dadurch lebendig bleiben, dass sie immer neu ausgelegt werden – und dieser Prozess auch kritisch begleitet werden muss. Und alle gemeinsam können wir alle entdecken, dass es in Bibel und Talmud sowohl bewundernswerte Frauen wie Männer gibt, die uns und unseren Nachkommen viel zu sagen haben.

Deutschlandweit begehen wir in diesem Jahr die erste urkundliche Erwähnung jüdischen Lebens nördlich der Alpen vor 1.700 Jahren. Jüdinnen und Juden haben – möglicherweise vor Christinnen und Christen – den Beweis angetreten, dass es auch nördlich der Alpen einen Fortschritt geben kann. Auch im Siegel meines Landes, das ich diesem Dankesbrief zur Veröffentlichung beilege, wird in Erinnerung an diese große und oft erschütternd schwere Geschichte die Vergangenheit mit der Hoffnung auf eine bessere, gemeinsame Zukunft verklammert.

Indem talmud.de mit der kompletten, digitalen Erschließung der Goldschmidt-Übersetzung sowie mit weiterführendem Material an die deutsch-jüdische Gelehrsamkeit anknüpft, die durch die Vertreibungen und Massenmorde der Nationalsozialisten so brutal unterbrochen wurde, symbolisiert es nicht nur einen Triumph des Lebens und Lesens über den Hass. Es verweist auch in eine denkbare Zukunft, in der jeder Mensch, der sich für wirklich gebildet hält, dazu mindestens die Grundlagen des Talmud verstanden haben müsste. Mit jeder lernwilligen Besucherin, jedem Besucher auf dieser Seite kommen wir dieser besseren, gemeinsamen Zukunft einen Schritt näher. Dafür gilt allen Mitwirkenden von Herzen mein Dank. Für mich ist talmud.de schon jetzt eine Quelle des Wissens – und der Hoffnung.

Mit Dank und Segenswünschen

Dr. Michael Blume am 05.01.2021

Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler, Buchautor, Wissenschaftsblogger. Auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden ernannten ihn Landtag und Landesregierung von Baden-Württemberg im März 2018 zum ersten, deutschen Regierungsbeauftragten gegen Antisemitismus.

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Dr. Michael Blume ist Religions- und Politikwissenschaftler, Buchautor, Wissenschaftsblogger. Auf Vorschlag der jüdischen Landesgemeinden ernannten ihn Landtag und Landesregierung von Baden-Württemberg im März 2018 zum ersten, deutschen Regierungsbeauftragten gegen Antisemitismus.