Purim

Bis man nicht mehr zu unterscheiden weiß… betrunken an Purim

Eine Vorschrift von Purim ist sogar in der nichtjüdischen Welt recht bekannt: Man solle an diesem Tag trinken, bis man nicht mehr unterscheiden kann zwischen »Verflucht sei Haman« und »Gesegnet sei Mordechaj«. Diese Mitzwah, religiöse Pflicht, wird auch als »ad lo jada« bezeichnet. Wörtlich übersetzt: »bis man nicht mehr weiß«.
Und tatsächlich!
Der Satzteil stammt aus dem Talmud. Dort sagt Rabba, dass man sich betrinken soll, »ad lo jada« – »bis man nicht mehr weiß« 1Megilla 7b.
Gemeint ist: bis man nicht mehr zwischen »Verflucht sei Haman« und »Gesegnet sei Mordechai« unterscheiden kann.

Weniger bekannt, ist, wie die Geschichte im Talmud weitergeht:
Rabba und Rabbi Sei’ra aßen gemeinsam das Mahl an Purim und schauten, wie es ja gefordert wird, sehr tief in die Becher.
Beide waren betrunken. Plötzlich steht Rabba auf und tötet Rabbi Sei’ra – ein tragischer Unfall durch Trunkenheit.
Nüchtern dann sieht das auch Rabba so und bereut seine Tat zutiefst. Er betet um das Erbarmen HaSchems, und tatsächlich wird Rabbi Sei’ra wieder lebendig.
Im folgenden Jahr dann lud Rabba Rabbi Sei’ra wieder zu sich ein, um Purim zu feiern. Doch diesmal lehnte Se’ira ab – mit dem Hinweis, dass man nicht immer Wunder erwarten könnte.

Die Geschichte scheint zum verantwortungsvollen Konsum zu ermahnen. Tatsächlich wird der Aufruf zu Alkoholgenuss und Zügellosigkeit später von den Rabbinern etwas kritischer betrachtet. Zumindest der Schulchan Aruch 2Orach Chajim 695,2 beschreibt, dass man an Purim etwas trinken und dann direkt ins Bett gehen sollte – offenbar, weil man so viel trinkt, dass man davon müde wird. Und wenn man dann schlafe, könne man nicht mehr zwischen Haman und Mordechaj unterscheiden.

In dem halachischen Werk Magen Awraham, einem Kommentar zum Schulchan Aruch von Rabbiner Awraham Gombiner (1635–1682), wird der Auftrag, so viel zu trinken, bis man zwischen beiden nicht mehr unterscheiden könne, etwas relativiert: Man solle so viel trinken, bis man die Zahlenwerte der beiden Sätze nicht mehr addieren könne.
Da im Hebräischen jeder Buchstabe einer Zahl entspricht, kann man für jedes Wort und jeden Satz einen Zahlenwert errechnen.
Rabbiner Gombiner relativiert also und sagt, es reiche aus, bis man nicht mehr vernünftig addieren könne. Es mag an Purim liegen, aber skurrilerweise ist der Zahlenwert von »Verflucht sei Haman« ebenso groß wie der von »Gesegnet sei Mordechai«, nämlich 502.

Im Mittelalter kam dann ein weiteres Element hinzu: die Verkleidung. Bei der Begründung berief man sich offenbar auch auf das Buch Esther, wo es heißt: »Aber es geschah umgekehrt« (9,1). So wurde es auch Brauch, dass Frauen Männerkleidung tragen und Männer Frauenkleidung – was sonst nicht erlaubt ist. Der Schulchan Aruch beschreibt das bunte Treiben 3Orach Chajim 696,7 und sieht keinen Grund, es zu verbieten.

Aber die Herkunft des Brauchs ist unklar. Rabbiner Schlomoh Efraim aus Luntschitz (1550–1619), der Rabbiner in Prag war, fragt in einem seiner Werke 4Olelot Efraim 309 etwas polemisch: »Welche Quelle können sie für diesen falschen Brauch angeben?«

Spätestens seit dem Jahr 1912 sind beide Bräuche, der Alkoholgenuss und das Verkleiden, miteinander verschmolzen. Damals gab es in Tel Aviv das erste »Ad‐lo‐jada«, einen bunten Purimumzug mit Kostümen, Musik, Motivwagen, Tanz und natürlich mit etwas Alkohol. Das war die Begründung eines vollkommen neuen Brauchs.
Nun konnte und kann man Purim ganz offen und in Freiheit feiern – unter dem Namen der bekannten Wendung »Ad lo jada«.

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    Orach Chajim 695,2
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    Orach Chajim 696,7
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    Olelot Efraim 309