Die Übersetzung des Kitzur Schulchan Aruch von Schlomoh Ganzfried auf talmud.de
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 34. Die Vorschriften für die Mildtätigkeit
Enthält 16 Paragraphen.
§1
Es ist ein Gebot, den Armen Jisraels Almosen zu geben; so heißt es (Dewarim: 15,8): Öffnen sollst du deine Hand; und ferner steht (Wajikra: 25,36): Dass dein Bruder neben dir lebe! Wenn jemand sieht, wie ein Armer bittet, und entzieht ihm sein Auge und gibt ihm kein Almosen, übertritt er ein Verbot; denn es heißt (Dewarim: 15.7): Laß dein Herz nicht hart sein und verschließe deine Hand nicht vor deinem dürftigen Bruder. Mildtätigkeit ist ein Zeichen der Nachkommenschaft unseres Vaters Awraham; so steht (Bereschit: 19,19), denn Ich habe ihn erwählt, auf dass er seinen Kindern gebiete,… Mildtätigkeit zu üben. Und der Thron Jisraels ist auf nichts anderes gegründet und die Lehre der Wahrheit ruht auf nichts anderem als auf Mildtätigkeit; so sagt die Schrift. (Jeschajahu: 54,15): Auf Milde wirst du gegründet sein. Größer ist, wer Mildtätigkeit übt, als derjenige, der alle Opfer darbringt, wie es heißt (Mischle 21,3): Mildtätigkeit und Recht zu üben, wird vom Ewigen dem Opfer vorgezogen. Und Jisrael wird nur um der Mildtätigkeit willen erlöst; so steht (Jeschajahu: 1,27): Zion wird nur des Rechtes willen erlöst und seine Heimkehrenden wegen der Milde. Ein Mensch wird niemals durch Mildtätigkeit arm, und durch Almosengehen entsteht nichts Böses und kein Schaden; so heißt es (Jeschajahu: 32.17): Das Werk der Milde wird Frieden sein! Wer barmherzig ist, findet (im Himmel) Erbarmen; so sagt die heilige Schrift (Dewarim: 13,18): Er gibt dir Erbarmen und erbarmt sich über dich und vermehrt dich! Wer aber grausam ist, gibt Anlass, an seiner reinen Abstammung zu zweifeln. Der Heilige, gelobt sei Er, ist dem Wehklagen der Armen nahe, so steht (Ijow 34,28): Das Weheklagen der Armen vernimmt Er! Darum muss man sich vor ihrer Anklage hüten; denn mit ihnen ist ein Bund geschlossen, wie es heißt (Schemot: 22,26): Und es wird sein, wenn er zu mir ruft, erhöre ich, weil ich gnädig bin. Im [Talmud] Jeruschalmi sagen unsere Weisen seligen Angedenkens: Eine Tür, die für den Armen nicht geöffnet wird, tut sich dem Arzt auf. Der Mensch beherzige, dass er selbst jederzeit den Heiligen, gelobt sei Er, um seine Ernährung bittet, und wie er selbst fleht, der Heilige, gelobt sei Er, möge sein Seufzen und sein Gebet erhören, so achte auch er auf die Bitte der Armen. Auch nehme sich der Mensch zu Herzen, dass es ein Rad ist, das sich in der Welt dreht und schließlich er oder sein Sohn oder sein Enkel in die Lage kommen kann, Almosen annehmen zu müssen; und es komme nicht in sein Herz, zu sprechen: wie sollte ich mein Vermögen vermindern, um es Armen zu geben! Denn der Mensch muss wissen, dass das Vermögen nicht sein Eigentum, sondern nur anvertrautes Gut ist, um damit den Willen dessen zu vollziehen, der es ihm anvertraut hat; und das ist des Menschen Anteil von all seiner Mühe in dieser Welt, wie es heißt (Jeschajahu 58,8): Deine Mildtätigkeit wird vor dir hergehen; die Mildtätigkeit hält böse Verhängnisse fern und verlängert das Leben.
§2
Jeder ist verpflichtet, soweit seine Hand dazu imstande ist, Almosen zu geben, selbst ein Armer, der von Almosen lebt. Wenn er zum Beispiel selbst etwas Vermögen hat, mit dem er aber keine Geschäfte macht, so dass ihm erlaubt ist, Almosen anzunehmen, da er nicht soviel Kapital hat, um sich mit dem Gewinn zu ernähren, da er aber immerhin Gelegenheit hat, sich zu erhalten, muss er auch Almosen geben von dem, was man ihm gibt. Wenn er auch nur eine Kleinigkeit geben kann, halte er sich doch nicht davon zurück; denn das Wenige von ihm wird ihm gleich dem Vielen des Reichen angerechnet. So haben unsere Weisen seligen Angedenkens gesprochen: Es steht beim Ganzopfer von Vieh (Wajikra 1,13) »eine Feuergabe zum lieblichen Duft«, ebenso beim Ganzopfer von Geflügel (dort V. 17) »eine Feuergabe zum lieblichen Duft« und auch beim Mehlopfer (dort 2,2) »eine Feuergabe zum lieblichen Duft«, um dir zu sagen: Dasselbe wie derjenige, der viel gibt, ist derjenige, der nur wenig geben kann, nur weihe er dabei sein Herz seinem Vater im Himmel. Wer aber nur genügend zum (Über)Leben hat, braucht kein Almosen zu geben, weil die Erhaltung seiner selbst derjenigen aller anderen vorangeht.
§3
Wieviel soll man einem Armen geben? Dem Mangel entsprechend, den er leidet. Einem Armen also, der nur im Geheimen annimmt, müssen die Leute seiner Stadt alles geben, was er braucht, wie er es gewöhnt war, bevor er arm wurde. Aber einem Armen, der von Tür zu Tür geht, gibt man eine kleine Gabe, seiner Würdigkeit entsprechend; doch wenigstens gebe man ihm in jeder Stadt Brot und Speise, für zwei Mahlzeiten reichend, und eine Nachtherberge. Man ernähre und bekleide die Armen anderer Völker mit den Armen Jisraels um des Friedens willen.
§4
Wieviel gebe ein Mensch im ersten Jahre (nach seiner Verheiratung) Almosen? Den Zehnten vom Kapital. Von da an und weiter gebe er den Zehnten vom Gewinn, der ihm jedes Jahr außer dem Verbrauch seines Hauses übrig bleibt. Das ist die Eigenschaft eines Mittelmäßigen; in besonders schöner Weise erfüllt man das Gebot, wenn man im ersten Jahr ein Fünftel vom Kapital abgibt und dann in jedem Jahr ein Fünftel vom Gewinn; man verschenke aber nicht mehr als ein Fünftel, um nicht selbst dann die Menschen in Anspruch nehmen zu müssen. Aber nur alle Tage seines Lebens, für die Zeit seines Todes jedoch kann der Mensch bis zu einem Drittel seines Vermögens für die Wohltätigkeit bestimmen. Man verwende von seinem Zehnten nicht für ein frommes Werk, wie zum Beispiel für Lichter in der Synagoge oder andere fromme Werke, sondern gebe ihn den Armen. Wenn man Gelegenheit hat, ein frommes Werk zu vollbringen, Gevatter bei einer Beschneidung zu sein oder ein armes Brautpaar unter die Chuppa zu führen und dergl. oder jüdische Bücher zu kaufen, um darin zu lernen und sie anderen zu leihen, daß sie darin lernen; wenn man sonst nicht dazu imstande wäre und das fromme Werk mit seinem eigenen Vermögen nicht vollbringen würde, kann man es mit dem Zehnten machen. Wenn man jüdische Bücher mit Geld vom Zehnten kauft, muß man darauf achten, daß man sie anderen leiht; außer, wenn sie der Käufer selbst braucht, dann kommt er zuerst. Auch achte man darauf, darauf zu schreiben, daß sie von Zehntengeld herkommen, damit nicht seine Kinder nach ihm sie sich aneignen.
§5
Wer sich Verdienste erwerben will, bezwinge seinen bösen Trieb und öffne weit seine Hand, und alles, was für einen heiligen Zweck bestimmt ist, werde aus Gutem und Schönem hergestellt. Wenn jemand einen Raum zum beten baut, sei er schöner als sein Wohnhaus; gibt er einem Hungrigen zu essen, gebe er ihm vom Guten und Wohlschmeckenden auf seinem Tisch; bekleidet er einen Entblößten, bedecke er ihn mit einem schönen seiner Kleider; weiht er etwas einem heiligen Zweck, weihe er von dem Vorzüglichen seiner Güter; so heißt es (Wajikra 3,16): Alles Beste für den Ewigen!
§6
Was jemand für seine großen Söhne oder Töchter, zu deren Ernährung er rechtlich nicht mehr verpflichtet ist, (die über sechs Jahre alt sind) gibt, um die Söhne Thora lernen zu lassen und die Töchter fromm zu erziehen, ebenso, was jemand seinem Vater an Geschenken gibt, (wenn er ihn nur mit seinem Almosengeld ernähren kann) und diese sind darauf angewiesen, so gehört dies zur Wohltätigkeit (zum Zehnten). Und nicht das allein, sondern er muss sie sogar anderen vorziehen, selbst, wenn es nicht gerade sein Sohn oder sein Vater ist, sondern ein anderer Verwandte, so geht er jedem anderen Menschen voran. Die Armen seines Hauses kommen vor den Armen seiner Stadt und die Armen seiner Stadt vor den Armen einer anderen Stadt, so heißt es (Dewarim: 15,11): Deinem Bruder, deinem Armen und deinem Dürftigen in deinem Lande. Der Vorsteher der Armenkasse aber, der die Almosen verteilt, muss sich in acht nehmen, dass er nicht seinen Verwandten mehr als anderen Armen gibt.
§7
Wer einem Armen Almosen mit böser Miene im Gesicht und zur Erde gewandtem Antlitz gibt, auch wenn er ihm tausend Goldstücke gibt, so hat er sein Verdienst zunichte gemacht und verloren und das Verbot übertreten (Dewarim 15,10): Dein Herz sei nicht böse … Sondern man muss ihm mit freundlicher Miene im Gesicht und mit Freude geben und mit ihm über sein Leid traurig sein, wie Ijow gesprochen (30,25): Habe ich nicht geweint mit dem, den ein harter Tag getroffen, hat sich meine Seele nicht betrübt mit dem Dürftigen! Man spreche tröstende und aufrichtende Worte zu ihm, wie es heißt (Ijow 29,13): Das Herz der Witwe machte ich froh.
§8
Man darf einen bittenden Armen nicht leer abweisen; selbst wenn du ihm nur eine getrocknete Frucht gibst; so heißt es (Tehillim 74,21): Dass der Arme nicht beschämt umkehre! Wenn du nichts bei dir hast, was du ihm geben kannst, so besänftige ihn mit Worten. Man darf einen Armen nicht schelten oder schreiend die Stimme gegen ihn erheben, weil sein Herz zerknirscht und gedemütigt ist; und siehe, die Schrift sagt (Tehillim 51,19): Ein zerbrochenes und niedergebeugtes Herz, O G-tt, verachtest Du nicht! Wehe dem, der einen Armen beschämt; sondern man sei ihm wie ein Vater sowohl an Erbarmen als auch an sanften Worten, wie es heißt (Ijow 29.16): Ein Vater war ich den Dürftigen.
§9
Die Wohltätigkeit gehört zum Kapitel der Gelübde (siehe weiter Kap. 67,3); wenn jemand darum sagt: Siehe, mir liege ob, einen Sela als Almosen zu geben; oder: Siehe, dieser Sela sei zu einem Almosen bestimmt, muss er ihn sogleich den Armen geben; und wenn er zögert‚ übertritt er das Verbot (Dewarim 23,22): Du sollst nicht zögern; da er ihn gleich geben kann. Wenn keine Armen ihm zur Verfügung stehen, sondere er das Geld ab und lege es weg, bis er Arme findet. Wenn er in der Synagoge Almosen, die man den Händen des Vorstehers übergibt, gelobt hat, übertritt er das Verbot erst, wenn der Vorsteher von ihm einfordert; dann übertritt er es sofort; außer, wenn er weiß, dass der Vorsteher zur Zeit das Geld nicht braucht und es bei sich liegen lässt.
§10
Wenn jemand gesprochen hat: Ich will dem und dem einen Sela als Almosen geben! – so übertritt er das Verbot nicht, bis jener Arme kommt.
Es kann jeder Geld für Almosen absondern, dass es bei ihm liege, um es allmählich zu verteilen, wie es ihm gut erscheint.
§11
Wer andere beeinflusst, dass sie Almosen geben, und sie dazu veranlasst, dessen Lohn ist größer als der Lohn dessen, der gibt; so heißt es (Jeschajahu 32,17): Das Werk (die Veranlassung) der Wohltätigkeit wird Frieden sein. Und von den Vorstehern der Armenkasse und dergl., die Almosen erheben, sagt die Schrift (Daniel: 12,3): Die die Gemeinde zur Frömmigkeit führen, werden gleich Sternen strahlen. Wenn die Armen einen Vorsteher der Armenkasse (ohne Grund) lästern, achte er nicht darauf; denn dadurch wird sein Verdienst noch größer sein.
§12
Die höchste Stufe, über die nichts geht unter den Stufen der Wohltätigkeit, ist, wenn jemand die Hand eines verarmenden Israeliten, dessen Unterhalt wankt, stützt, bevor er ganz verarmt ist, indem er ihm eine würdige Gabe in ehrenvoller Weise übergibt oder ihm Geld leiht oder mit ihm gemeinsame Geschäfte macht oder ihm irgendeinen Handel oder Arbeit verschafft, um ihn zu stützen, dass er nicht die Menschen in Anspruch zu nehmen braucht; darauf heißt es (Wajikra 25,35): Stütze ihn, das heißt, halte ihn fest, dass er nicht falle!
§13
Man achte darauf, Almosen so geheim wie möglich zu geben. Wenn man sie in der Weise geben kann, dass man selbst nicht weiß, wem man sie gibt, und auch der Arme nicht weiß, von wem er sie empfangen hat, so ist das sehr gut. Jedenfalls rühme sich der Mensch nicht ob der Almosen, die er gibt. Wenn man aber einen Gegenstand der Wohltätigkeit weiht, darf man seinen Namen darauf schreiben, damit er ihm zum Andenken gereiche; es ist sogar recht, so zu tun.
§14
Besonders muss man einen armen Torahgelehrten berücksichtigen, ihm seiner Würde entsprechend zu geben; wenn er nicht annehmen will, bemühe man sich, für ihn Geschäfte zu machen, indem man ihm Ware billig verkauft oder ihm seine Ware für einen höheren Preis abkauft; wenn er versteht, sich mit Handel zu beschäftigen, leihe man ihm Geld, dass er damit Geschäfte machen kann. Unsere Lehrer sel. And. haben gesagt (Pessachim 53b): Wer einem Torahgelehrten Ware zur Verfügung stellt, wird einst das Glück haben, in der himmlischen Jeschiwa sitzen zu dürfen. Ferner haben sie gesagt (Berachot 34b): Alle Propheten haben nur für den prophezeit‚ der für einen Toragelehrten Geschäfte macht und seine Tochter mit einem Toragelehrten verheiratet.
§15
Jederzeit halte sich der Mensch dem Almosennehmen fern und quäle sich lieber mühevoll durch, um nicht die Menschen in Anspruch nehmen zu müssen; so haben unsere Lehrer sel. And. geboten (Schabbat 118a): Fähre dich lieber am Schabbat (in Kleidung und Kost) nicht besser als an Wochentagen, nur nimm Menschen nicht in Anspruch. Selbst ein angesehener Gelehrter, der arm geworden, ergreife lieber ein Handwerk, sogar ein verachtetes Handwerk, und nehme die Menschen nicht in Anspruch.
§16
Wer nicht nötig hat, Almosen zu nehmen, und die Menschen betrügt und doch nimmt, stirbt nicht, ohne auf die Menschen angewiesen gewesen zu sein. Wer wiederum nötig hätte, zu nehmen, und nicht leben kann, ohne zu nehmen, zum Beispiel ein Greis oder ein Kranker oder ein von Schmerzen Heimgesuchten und hoffärtig ist und nicht nimmt, der vergießt Blut und verschuldet sein Leben, und von seinem Schmerz hat er nur Vergehungen und Sünden. Wer aber nehmen müsste und sich quält, sich knapp ernährt und ein entbehrungsreiches Leben führt, um der Gemeinde nicht zur Last zu fallen, stirbt nicht, ehe er andere ernährt hat, und von ihm sagt der Schriftvers (Jirmijahu 17,7): Gesegnet der Mann, der auf den Ewigen vertraut….