Für seine Annäherung an die Muslime in Deutschland erhielt Rabbiner Henry G. Brandt (Augsburg) im Jahr 2006 den Muhammad-Nafi-Tschelebi-Preis. Der emeritierte Landesrabbiner von Westfalen-Lippe ist der erste Jude überhaupt, der von einer islamischen Institution geehrt wird – leider ist das Thema aber bisher nicht im Gemeindealltag angekommen, obwohl doch Juden und Muslime ähnliche Probleme haben, wenn sie als Minderheit ihre Religion auch leben wollen. Das beginnt beispielsweise bei einem generellen Unverständnis denjenigen Religionen gegenüber, die sich nicht auf die Freizeit beschränken, sondern eine Art zu leben sind (nicht von ungefähr kommt „Halachah“ von „holech –gehen“). Dieses Unverständnis schimmert beispielsweise durch, wenn behauptet wird, die Frauen könnten ja daheim das Kopftuch tragen. Am 13. November wird der ehemalige Landesrabbiner von Westfalen-Lippe für seine Annäherung an die Muslime in Deutschland geehrt. Brandt habe sich „in besonderer Weise für die Verständigung zwischen Juden in Moslems eingesetzt“, begründet die Jury die Auszeichnung.
Auch die essentiellen Probleme werden geteilt, etwa wie der Umgang mit den Speisegesetzen (das Problem der Schächtung sollte hier gemeinsam geklärt werden oder den Bekleidungsvorschriften, denn auch orthodoxe jüdische Frauen tragen das Kopftuch (siehe den Artikel von Dr. Michael Rosenkranz). Überall dort, wo der jüdische observante (ganz gleich ob orthodox, konservativ oder liberal) Mensch auf Reibungen mit der Majoritätsgesellschaft stößt, steht er in der Regel nicht allein (Speisegesetze, das Begehen von Feiertagen, die Mitwirkung an „Weihnachtsfeiern“ etc.). Zu einem großen Teil stoßen Muslime auf die gleichen Probleme, auch wenn die Bevölkerung den beiden Gruppen mit anderen „Vorzeichen“ begegnet. Das gemeinsame Angehen von konkreten Projekten könnte ein Spalt sein, der die Tür für eine tiefergehende Beziehung öffnet, später dann auch im Austausch religiöser Gedanken.Das Zusammentreffen von Rosch haSchanah und des Beginns des muslimischen Fastenmonats Ramadan (das Jahr 5766 (2006) fällt erneut mit Ramadan zusammen) wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich mit der religiösen Wurzel eines vermeintlichen Konflikts zu befassen, denn anders als man denken würde, haben unsere Weisen den Streit zwischen Abraham, Sarah, Hagar und Jischmael als beendet erklärt (der ja als Beginn einer „schlechten“ Beziehung schlechthin gilt):
An Rosch haSchanah (und am Schabbat Wa’jera), lesen wir im Torah-Abschnitt (1.Mose 21:1-21:34) die Geschichte über die Vertreibung von Hagar aus dem Zelt Abrahams durch Sarah. Hagar setzt sich unter einen Busch in der Wüste um zu sterben. HaSchem selbst sorgt sich dann um Hagar (durch einen Engel) und fordert sie auf, zurückzugehen.
Es wird ihr prophezeit, dass ihr Sohn Jischmael Vater einer großen Nation sein wird. Jischmaels Halbbruder Jitzchak wird der Vorfahre des jüdischen Volkes und Jischmael der Vater der arabischen Völker (so sieht es die Tradition).
Ein nicht gerade hoffnungsvoller Beginn für die jüdisch-muslimischen Beziehungen?
Nicht unbedingt! Jischmael geht nach Mizrajim (Ägypten) aber wenig später heißt es in der Torah, dass er zur Beisetzung seines Vaters Abraham zur Höhle von Machpela kommt, um diese mit seinem (Halb-) Bruder durchzuführen. Ein gemeinsamer Verlust führt die beiden Brüder zusammen- sie haben die gleiche Herkunft.
Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks merkte in einer Draschah zum Schabbat „Chaje Sarah“ an, dass einige Weise klare Hinweise erkannt hätten, die anmerken, dass Jischmael und Jitzchak sich schon vor dem Tod ihres Vaters versöhnt hätten:
Der erste Hinweis: Der Ort von dem Jitzchak kommt, wenn Rebekka ihn erblickt: Beer lachaj Roi. Die Torah nennt diesen Ort nur ein einziges Mal zuvor (1. Mose 16:14). Es ist der Ort, an dem Hagar den Engel trifft und ihr aufträgt, ihren Sohn Jischmael zu nennen. Der Ort wird also mit Jischmael assoziiert. Warum ist Jitzchak dorthin gegangen? Um sich mit seinem Bruder zu versöhnen.
Der zweite Hinweis: Abrahams Wiederheirat! Wer könnte wohl Keturah sein? Die Weisen sagten, es sei Hagar, denn es ist ja nicht unüblich, dass Personen in der Torah mehr als einen Namen hätten. Jitro hatte sogar sieben Namen. Abraham selber wollte Jischmael und Hagar auch nicht wegschicken (1.Mose 21:11). Nach dem Tode Sarahs kehrte Hagar in Ehren zurück zu Abraham.
In einem Midrasch (Pirkej deRabbi Eliezer; 30) wird sogar erzählt, dass Abraham Ischmael zu zwei Gelegenheiten besuchen wollte, ihn aber nicht antraf. Beim ersten Mal schickte Jischmaels Frau ihn weg und verweigert ihm Brot und Wasser (weil sie nicht wusste, wer der Besucher war). Jischmael trennte sich daraufhin von ihr und heiratete eine Frau namens Fatimah. Bei Abrahams zweitem Besuch ist wieder nur Jischmaels Frau zuhause, diesmal Fatimah. Obwohl sie die Identität des Fremden nicht kennt, gibt sie ihm Speisen und Getränke. Im Midrasch heisst es: „Abraham stand auf und betete zu HaKadosch Baruch Hu, und Jschmaels Haus wurde mit guten Dingen gefüllt. Als Jischmael zurückkehrte, erzählte seine Frau ihm davon und Jischmael wusste, dass sein Vater ihn noch liebte“.
Trotz des anfänglichen Konfliktes fanden beide Seiten zueinander. So kann es auch zwischen Judentum und Islam Freundschaft, Verständnis und beiderseitigen Respekt geben. Die Preisverleihung könnte ein erstes Signal sein, um eine Verständigung zu beginnen (einige kleinere lokale Initiativen gibt es schon), nicht nur wegen der gemeinsamen Schwierigkeiten, sondern auch, um Hass den Boden zu entziehen und Antisemitismus einzudämmen, ohne das sogenannte goldene Zeitalter des Judentums unter dem Islam zu romantisieren (ein stets gut gemeinter Verweis), denn wir leben heute in einer Gesellschaft, in der, zumindest theoretisch, alle gleichberechtigt sind und an deren Aufbau sich alle monotheistischen Religionen beteiligen müssen.