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More Newuchim – Buch 1 – Kapitel 54

Der Verfasser erklärt die Bedeutung der Bitte des Meisters der Propheten: »Tue mir doch deine Wege kund« wie auch die der Antwort Gottes und die des ganzen Abschnittes. Er bespricht die Bedeutung der dreizehn Eigenschaften.

Der Meister der Weisen, unser Lehrer Mose, stellte zwei Bitten, und es kam ihm auch von Gott auf beide eine Antwort zu. Die eine ging dahin, Gott möge ihn sein wahres Wesen, die andere schon früher gestellte dahin, Gott möge ihn seine Eigenschaften kennen lernen lassen. Gott antwortete ihm auf beide Bitten, indem er ihm verhieß, ihn alle seine Eigenschaften wissen zu lassen -und diese seien auch seine Wirkungen -ihn aber belehrte, dass sein Wesen, so wie es wirklich ist, nicht erkannt werden könne. Gott machte ihn jedoch darauf auf­merksam, dass es im Denken einen Gesichtspunkt gebe, von welchem aus man zum letzten Ende der Erkenntnis gelangen könne, die zu erreichen dem Menschen möglich ist. Was aber Mose erkannt hat, das hat kein anderer Mensch weder vor ihm noch nach ihm erkannt.

Seine Bitte nun um die Erlangung der Kenntnis von den Eigenschaften Gottes ist in der Tat in den Worten enthalten: »Tue mir doch deine Wege kund, damit ich dich erkenne und Gunst in deinen Augen finde!« [Exod. 33, 13]. Beachte wohl, welche bemerkenswerten Gedanken in diesem Ausspruch ent­halten sind! Die Worte: »Tue mir deine Wege kund, damit ich dich erkenne« lehren uns, dass Gott durch seine Eigenschaften erkannt wird; denn sobald man seine Wege kennt?), kennt man auch ihn. Und ebenso lehren die Worte: »und Gunst in deinen Augen finde«, dass derjenige, der Gott erkennt, es ist, welcher bei ihm Gunst findet, nicht aber der, der nur betet und fastet, dass vielmehr derjenige, der ihn erkennt, der bei ihm Beliebte und ihm Nahestehende, wer ihn aber verkennt, derjenige ist, dem er zürnt und den er von sich fernhält, und dass auch das Gefallen oder das Missfallen, die Annäherung oder die Entfernung dem Maße des Wissens oder des Nichtwissens entspricht. Doch sind wir bereits Ober die Absicht dieses Ka­pitels hinausgegangen, und ich kehre wieder zu unserem Gegen­stande zurück.

Als nun Mose um die Erkenntnis der Eigenschaften Gottes und um Vergebung für das Volk bat, wurde er erhört, indem dem Volke vergeben wurde. Als er aber nachher um die Er­kenntnis des Wesens Gottes bat mit den Worten: »Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen!« [Exod. 33, 1s], wurde ihm sein erster Wunsch erfüllt, der in den Worten enthalten war: »Tue mir deine Wege kund !« Es wurde ihm nämlich geant­wortet: »Ich werde all mein Gutes an dir vorübergehen lassen« [ib. 19]; jedoch auf seine zweite Bitte wurde ihm die Antwort: »Du kannst mein Angesicht nicht sehen« [ib. 20]. Der Aus­druck »all mein Gutes« beweist in der Tat, dass Gott ihm alle seienden Dinge gezeigt hat, von denen die Heilige Schrift sagt: »Gott sah alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut« [Gen. 1, 31]; nämlich er zeigte sie ihm, damit er ihre Natur und ihren Zusammenhang miteinander erkenne und damit er wisse, wie Gott sie im allgemeinen und im besonderen regiert. Auf diesen Gedanken weist auch der Ausspruch hin: In meinem ganzen Hause ist er bewährt« [Num. 12, 7]. Dieser will sagen: Er besitzt eine wahre und bleibende Einsicht von dem ganzen Seienden in meiner Welt, denn die Erkenntnisse, die nicht wahr sind, bleiben nicht bestehen. Somit ist es die Kenntnis dieser Wirkungen Gottes, die auch die Kenntnis seiner Eigenschaften ist, von der aus er erkannt werden kann. Und der Beweis dafür, dass das Ding, dessen Er­kenntnis ihm Gott verhieß, eben Gottes Wirkungen waren, ist darin zu erblicken, dass die Dinge, die er ihn erkennen ließ, durchgehend nur Wirkungseigenschaften waren, wie »barm­herzig, gnädig, langmütig, huldreich« usw. [Exod. 34, 6]. Es ist also klar, dass die »Wege«, deren Kenntnis und Bekannt­gabe er erbat, eben die von Gott ausgehenden Wirkungen sind, welche die Weisen Eigenschaften (Middot) nennen, indem sie von den »dreizehn Middot« sprechen. Dieses Wort ge­brauchen sie auch von menschlichen Charaktereigenschaften, wie z. B. »Es gibt viererlei Charaktere (Middot) unter den Be­suchern des Lehrhauses« oder »Es gibt vier Typen (Middot) unter den Almosenspendern« und dergl. mehr. Daher kommt dieser Stelle nicht die Bedeutung zu, dass Gott Eigenschaften besitzt, sondern dass er Wirkungen hervorbringt, die denjenigen Wirkungen gleichen, die bei uns aus den sittlichen Eigenschaften, d. h. aus den Zuständen der Seele, herrühren, nicht aber, dass Gott Seelenzustände habe. Dass aber Mose sich mit der Anführung dieser dreizehn Eigenschaften begnügte, obgleich er ja »all sein Gutes«, nämlich alle Wirkungen Gottes, erkannt hatte, erklärt sich daraus, weil diese die von Gott ausgehenden Wirkungen hinsichtlich der Erschaffung und Regierung der Menschen sind, und dies war ja die letzte Absicht, um derentwillen er seine Bitte aussprach ; denn das Ende jenes Satzes [Exod. 33, 13] lautet: »Damit ich dich erkenne und Gunst in deinen Augen finde. Siehe auch, dass diese Nation dein Volk ist.« Er will sagen: Da es mir obliegt, das Volk durch Taten zu regieren, so will ich mich hierin nach denjenigen Handlungen richten, die du bei seiner Regierung anwendest.

Es ist also klar, dass »Wege« und »Eigenschaften« dasselbe sind, sie sind die Wirkungen, die in dieser Welt von Gott her­rühren. So oft nämlich irgendeine seiner Wirkungen erkannt wird, wird Gott eine Eigenschaft beigelegt, von welcher diese Wirkung herkommt, und mit einem Namen benannt, der von jener Wirkung abgeleitet ist. Wenn man z.B. die bis in das kleinste gehende Sorgfalt seines Wattens bei dem Entstehen des Embryos im Schoße eines Lebewesens erkennt, mit welcher er in diesem und in denen, die ihn nach seiner Geburt aufziehen sollen, Kräfte hervorbringt, die dazu bestimmt sind, ihn vor Tod und Verderben zu bewahren, vor jedem Schaden zu be­hüten und in seinen notwendigen Verrichtungen zu fördern, wird Gott, da eine solche Tat bei uns infolge des Affektes und des Gefühls des Erbarmens geschieht, »barmherzig« genannt, wie in dem Ausspruch: »Wie ein Vater sich seiner Kinder er­barmt‘ [Ps. 103, 13] oder »Ich will mich eurer erbarmen, wie ein Mann seines Kindes« [Mal. 3, 16]. Es soll damit aber nicht gesagt werden, dass Gott Gefühle hat oder sein Erbarmen erregt wird, sondern nur, dass von Gott an denjenigen, die ihn ver­ehren, eine Handlung geübt wird, die derjenigen ähnlich ist, die einem Kinde von seinem Vater zuteil wird und die bei diesem die Folge des Mitleids, des Erbarmens und des reinen Gefühles ist, nicht aber, weil Gott ein Gefühl empfindet oder eine Veränderung erleidet. Und weil es in unserer Sprache »Gnade« genannt wird, wenn wir jemand etwas geben, der an uns keinen Rechtsanspruch hat, wie die Heilige Schrift sagt: »Seid mir gnädig, ihr, meine Freunde!« [Ijob 19, 21], oder »Womit Gott mich begnadet hat« [Gen. 33, 8] oder »Gott hat mich begnadet« [ebenda 11] u. dergl. m., Gott aber denjenigen, der auf seine Erschaffung und Leitung keinen Anspruch hat, er­schafft und leitet, wird Gott deshalb »gnädig« genannt. Ebenso finden wir unter den Wirkungen Gottes, die die Menschen treffen, große und gewaltige Plagen, die über manche Einzel­personen kommen, um sie zu töten, oder allgemeine Unglücks­fälle, die ganze Nationen oder Landstriche zerstören und Väter, Kinder und Enkel verderben, ohne selbst nur die Möglichkeit einer Fortpflanzung oder einer Nachkommenschaft übrig zu lassen, wie das Versinken von Landschaften, Erdbeben, tödliche Glutwinde und Völkerbewegungen gegen andere Völker, um sie gänzlich mit dem Schwerte auszurotten und ihr Andenken aus­zutilgen, und viele ähnliche Taten, die bei uns Menschen einer dem anderen nur infolge heftigen Grolles, gewaltiger Eifersucht oder leidenschaftlicher Blutrache zufügt, wird Gott infolge dieser Wirkungen »eifersüchtig, rachedürstend, Groll und Zorn hegend« genannt; nämlich die Wirkungen, wie sie von gleicher Art bei uns von einem Seelenzustande, wie Eifersucht; Blut­rache, Hass oder Groll, herrühren, kommen von Gott den zur Strafe von ihnen Betroffenen nur ihrem Verschulden gemäß zu, nicht infolge einer Einwirkung, die auf Gott, den über jede Mangelhaftigkeit Erhabenen, in irgendeiner Weise geschehen könnte. Und ebenso werden alle diese Wirkungen Gottes, die den Taten ähnlich sind, die von Menschen infolge von Affekten und Seelenzuständen geschehen, von Gott schlechterdings nicht durch etwas bewirkt, was zu seinem Wesen hinzu­kommt.

Derjenige nun, der zur Regierung eines Landes berufen ist, muss, wenn er ein Prophet sein will, Gott in diesen Eigenschaften ähnlich sein, und diese Handlungen müssen von ihm in rich­tigem Maße und in gerechter Weise geschehen, nicht allein deshalb, weil er sich von seinen Leidenschaften leiten lässt. Er darf seinem Zorn nicht die Zügel schießen lassen und darf den Charakterzügen der Leidenschaft keine Gewalt über sich ein­räumen; denn alle Leidenschaften sind Übel. Vielmehr muss er nach menschlichem Vermögen sich vor ihnen hüten. Er muss manchmal und gegen manche Menschen barmherzig und gnädig sein, nicht aber infolge des Zustandes des Erbarmens und der Gemütsbewegung, sondern weil dies angemessen ist; er muss aber auch manchmal und gegen manche Menschen Groll, Rache und Zorn betätigen und zwar ihrer Schuld gemäß, nicht allein dem Seelenzustande des Zornes gemäß, so dass er im­stande sein muss, über jemand den Feuertod zu verhängen, ohne ihm zu zürnen, ohne ihn zu hassen oder zu verachten, sondern weil er sieht, dass er sich des Todes schuldig gemacht hat und darauf Rücksicht nimmt, welchen großen Nutzen diese Tat einem zahlreichen Volke bringen könnte. Du kannst ja die Beobachtung machen, dass in den Büchern des Pentateuchs an der Stelle, wo Gott befiehlt, die sieben (kanaanitischen) Völker zu vertilgen, den Worten: »Du sollst keine Seele am Leben lassen!« [Deut. 20, 10] sofort hinzugefügt wird: »damit sie euch nicht lehren, alle ihre Gräuel nachzuahmen, die sie ihren Göttern zu Ehren begehen, und ihr euch dadurch nicht gegen den Herrn, euren Gott, versündigt« [ebendort. 18]. Damit will die Heilige Schrift sagen: Glaube nicht, dass dies Grausamkeit oder Forderung der Blutrache ist; vielmehr ist es eine Handlung, welche die menschliche Überzeugung unbedingt fordert, dass nämlich alles beseitigt werde, was vom Wege der Wahrheit ablenkt, und dass alle Hindernisse aus dem Wege geräumt werden, welche den Menschen von seiner Vervollkommnung abhalten, die in der Erkenntnis Gottes besteht. Bei alledem müssen jedoch die Handlungen des Erbarmens, der Vergebung, des Mitleids und der Gnade, die von dem Regenten eines Staates ausgehen, viel häufiger sein als die Strafhandlungen; denn alle die dreizehn Eigenschaften Gottes sind bis auf eine Eigenschaften der Barmherzigkeit, nämlich bis auf die Worte: »der die Schuld der Väter ahndet an den Kindern« [Exod. 34, 7], denn der Ausspruch: wenakke lo jenakke »Er spricht aber nicht frei« [Exod. 34, 7] bedeutet: er entwurzelt ihn nicht, ähnlich wie der Ausspruch: »Sie sitzt ihres Besitzes ledig (w’nikkata) auf der Erde« [Jes. 3, 26]. Wisse jedoch, dass der Ausspruch: »Er ahndet die Schuld der Väter an den Kindern« tatsächlich nur von der Sünde des Götzen­dienstes, mit Ausschluss jeder anderen gilt. Dies beweist der Ausspruch in den zehn Geboten »am dritten und vierten Ge­schlechte bei denen, die mich hassen« [Exod. 20, 5]. Nur ein Götzendiener wird »Gottes Hasser« genannt, wie die Tora sagt: »Alles, was dem Herrn ein Gräuel ist, was er hasst« [Deut. 12, 31]. Mit dem vierten Geschlechte begnügt sie sich deshalb, weil dieses die äußerste Grenze dessen ist, was ein Mensch von seiner Nachkommenschaft sehen kann. Und wenn die Bewohner einer zum Götzendienst verleiteten Stadt getötet werden, so tötet man jenen Greis, der dem Götzen ge­dient hat, seinen Sohn, seinen Enkel und seinen Urenkel, der das vierte Geschlecht ist, gleichsam als wollte die Heilige Schrift darlegen, dass zur Gesamtheit der göttlichen Gebote, die eben zur Gesamtheit seiner Wirkungen gehören, zweifellos auch das Gebot zu rechnen ist, dass die Nachkommen der Götzen­diener, auch wenn sie noch minderjährig sind, inmitten ihrer Väter und Großväter getötet werden sollen. Dieses Gebot finden wir allenthalben im Pentateuch durchgeführt, wie auch in betreff der zum Abfall von Gott verleiteten Stadt befohlen wird: »Gib sie dem Banne preis samt allem, was darin ist« [Deut. 13, 15], und dies alles dient, wie wir dargelegt haben, dazu, jeden Keim zu tilgen, der zu großem Unheil führen könnte.

Jedoch sind wir bereits über den Gegenstand dieses Kapitels hinausgekommen. Wir wollten jedoch darlegen, warum sich an dieser Stelle [Exod. 34, 5-6] die Tora bei der Er­wähnung der Wirkungen Gottes mit diesen angeführten be­gnügt hat. Es geschah dies, weil Mose ihrer zur Regierung des Staates bedurfte; denn die letzte und höchste Stufe des Menschen ist die, dass er Gott möglichst ähnlich werde, nämlich dass wir unsere Handlungen den Handlungen Gottes ähnlich machen, wie unsere Lehrer in der Auslegung der Worte »Heilig sollt ihr sein« [Lev. 19, 2] erklären: »Wie Gott gnädig ist, sei auch du gnädig; wie er barmherzig ist, sei auch du barm­herzig!« Die Aufgabe dieses ganzen Kapitels war aber, zu zeigen, dass die Gott zugesprochenen Eigenschaften nur Be­zeichnungen seiner Wirkungen sind, nicht aber dass Gott eine Qualität besitze.

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