Schlafen an Purim ist keine Missachtung des Feiertags, sondern sogar eine Mizwa. Nicht gerade in der Synagoge und während der Megillah-Lesung soll man schlafen, aber die Halacha bestimmt, dass man an Purim etwas trinken und dann direkt ins Bett gehen sollte. So steht es jedenfalls im Schulchan Aruch (Orach Chajim 695,2).
Damit steht Purim im Gegensatz zu Festen wie Schawuot oder Rosch Haschana. An Schawuot soll man die gesamte Nacht zum Lernen wachbleiben und an Rosch Haschana möglichst wenig schlafen. Die Frage liegt also nahe: Was hat Purim also speziell mit dem Schlaf zu tun?
Die Frage ist eng verbunden mit einer bekannten Feststellung zur Megillat-Esther. Die meisten von uns haben schon einmal gehört, dass der Begriff »G‘tt« in dieser nicht auftaucht und man so vielleicht meinen könnte, das »Wunder« von Purim sei ausschließlich ein nationales Ereignis und ein glücklicher Zufall.
Bemerkenswerterweise sagt man aber dann doch »Al haNissim« als Bracha, also »Baruch … sche‘asah Nissim la‘Awotejnu baJamim haHeim bas‘man haSe – DER Wunder vollbracht hat für unsere Vorfahren in jenen Tagen zu dieser Zeit« wie auch zu Chanukka. Die Frage nach der Abwesenheit von G‘tt in der Megilla hat Juden zu jeder Zeit beschäftigt. Dementsprechend ist auch die Idee nicht neu, dass G‘tt doch in irgendeiner Form genannt wird oder vorkommt. In der Regel wird der Satz »In dieser Nacht, wurde der Schlaf des Königs gestört« (Esther 6,1) auf G‘tt bezogen.
Wie das?
Der Talmud diskutiert eine interessante Lesart einer Unterhaltung zwischen Haman und Achaschwerosch. »Jeschno am echad«, spricht Haman als einleitende Worte zu Achaschwerosch (Esther 3,8) – »Dort ist ein Volk«.
Im Traktat Megilla 13b wird gesagt, dass »jeschno« (also »dort ist«) auch als »jaschnu« (»sie haben geschlafen«) gelesen werden könnte. Im Talmud wird damit zum Ausdruck gebracht, dass das Volk die Mizwot nicht mehr einhielt und das geistige Leben praktisch »eingeschlafen« sei. Der Talmud fährt sogar fort mit: »Achaschwerosch antwortete ihm: Unter ihnen sind Rabbiner«. Was bedeutet, dass sogar Rabbiner sich nicht mehr an die Mizwot hielten. Das jüdische Volk also im Tiefschlaf – und auf diesen Zustand des Volkes spielt Haman nun an und sagt folgerichtig: »Diese Nation schläft und tut keine Mizwot«. Haman sah also vielleicht deshalb einen guten Zeitpunkt für die Zerstörung des jüdischen Volkes, da er davon ausgehen konnte, dass es für das »spirituell schlafende« Israel keinen Schutz mehr geben konnte. Zum einen, weil sie sich nicht mehr an ihre Gemeinsamkeit in der Diaspora hielten – an die Tora und die Tradition. Dann aber auch, weil er vermutete, dass G‘tt seinem Volk nicht helfen würde, wenn dieses »schläft«. Der Midrasch verfolgt diesen Gedanken weiter und erklärt, dass G‘tt Israel mit gleichem Maß behandelte und seine Anwesenheit vor den Kindern Israels verbarg – denn es erschien so, als schliefe er. Als Beweis dafür, dass G‘tt schläft, statt die Kinder Israels zu schützen, wird der 44. Psalm zitiert: »Wach auf! Warum schläfst Du, HaSchem?« (Tehillim 44,24 nach Esther Rabba 10,1).
Wenn wir nun auf die Schlafmetapher aufmerksam geworden sind, wird auch die alternative Bedeutung des ersten Satzes von Kapitel 6 etwas wahrscheinlicher: »In dieser Nacht, wurde der Schlaf des Königs gestört«. Wenn dann noch Psalm 78 hinzu gedacht wird, der besagt: »Da erwachte HaSchem wie aus dem Schlaf«, wird immer klarer, welcher König hier zugleich gemeint sein könnte: Achaschwerosch und G‘tt.
Der erste Teil von Kapitel 6 erklärt zugleich auch, warum Mordechaj einen so guten Ruf beim König genoss: Weil er dem König half, Schlaf zu finden (6,1). Er las aus den Chroniken vor, wenn der König nicht schlafen konnte. Vielleicht als Einschlafhilfe, vielleicht auch, weil der König von Sorgen geplagt wurde, die ihm vor Augen standen, wenn er diese schloss. Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak von Troyes, 1040 bis 1105) kommentierte die Megilla in ähnlicher Richtung. Der König konnte nicht schlafen, weil er sich darum sorgte, irgendetwas vergessen zu haben und Mordechaj erinnert ihn daran. An wichtigen Stellen der Megilla wird also geschlafen, oder es kann eben nicht geschlafen werden. Wichtig wäre, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen, wann man schlafen kann. Wenn es um das eigene Schicksal geht, ist es nicht vorteilhaft zu schlafen, deshalb wird etwa Jona (Jona 1,6) von den Seeleuten geweckt, wenn er im Bauch des Schiffes schläft, während um sie herum ein Sturm tobt. »Warum schläfst Du hier so fest? Steh doch auf! Vielleicht wird G‘tt an uns denken und wir kommen nicht um«. Dieser Satz gilt auch für die Juden in Persien. Erst wenn sie ihre Lage erkennen, können sie handeln und dementsprechend auch auf göttliche Hilfe hoffen. Ohne Eigenleistung und -initiative geht es nicht. Deshalb also ist »Schlaf« als Erinnerung wichtig an Purim. Es geht nicht um Nichtaktivität, sondern die Bereitschaft, aktiv zu werden und zu handeln. Bevor wir dies tun, gehen wir, wie der König, unsere eigene »Chronik« durch, sowohl die Megilla als auch unsere private, und erinnern uns daran, was uns wiederfahren ist und wer uns jemals behilflich war, und vielleicht danken wir der Person oder G‘tt. Oder beiden.