Was ist die Grundlage aller Frömmigkeit, die Wurzel aller echten religiösen Betätigung?
Dass der Mensch sich darüber klar werde, was denn eigentlich sein Beruf hier auf Erden sei, worauf er sein Sinnen und Trachten zu richten habe, solange er hier auf Erden sich abmüht.
Nun lehren uns die Weisen, dass der Mensch nur zu dem Zwecke erschaffen wurde, sich seines Gottes zu freuen und den Abglanz seiner Herrlichkeit zu genießen, denn das allein ist die wahre Freude und die höchste Wonne, die sich denken lässt. Der Ort dieser Wonne freilich ist das Jenseits, denn dies wurde als die rechte Stätte für diese Wonnen geschaffen.
Aber der Weg, der zu diesem unserem Ziele führt, geht über diese Welt, wie es in den Sprüchen der Väter heißt:1 Das Diesseits ist eine Vorhalle für das Jenseits.
Und die Mittel, durch die wir zu diesem Ziele gelangen, das sind die Gebote, die der Heilige, gelobt sei er, uns gegeben. Die Stätte aber, diese Gebote auszuführen, ist allein diese Welt. Darum wurden wir zuerst in sie gesetzt, damit wir durch die Mittel, die uns geboten werden, an den Ort gelangen können, der für uns bereitet ist, in jene Welt, und dort das Glück genießen, das wir uns hier erwarten. Wie das unsere Weisen sagen: Heute musst du die Gebote ausüben, morgen empfängst du deinen Lohn.2
Die höchste Stufe erreicht man aber nur durch die völlige Hingebung an Gott, wie es bei König David heißt: »Mir ist die Nähe Gottes das Glück«3 oder an anderer Stelle: »Eines erbitte ich von Gott, das erflehe ich, dass ich im Hause Gottes weilen darf alle Tage meines Lebens«4, denn nur dies ist das wahre Glück, und alles andere, was die Menschen sonst als Glück betrachten, ist nur eitel Torheit und Tand.
Freilich wird dieses Glück nur durch Mühe und Arbeit erlangt, die Nähe Gottes will durch Werke errungen sein, durch die Befolgung der Gebote. Nun aber hat Gott den Menschen an einen Ort gestellt, wo vieles darauf hinarbeitet, ihn von Gott loszureißen. Wenn er den sinnlichen Leidenschaften folgt, dann entfernt er sich immer mehr von seinem wahren Glück. So ist er in einen schweren Kampf verwickelt. Was hier auf Erden ihm zuteil wird, das Gute und das Böse, das gestaltet sich dem Menschen zu einer Prüfung: Armut von der einen, Reichtum von der anderen Seite: »Habe ich Überfluss, dann könnte ich leicht Gott verleugnen und fragen, wer ist der Herr, bin ich arm, ich könnte nach fremdem Gut die Hand ausstrecken und mich an dem Namen Gottes vergreifen.«5
Ebenso bedrohen ihn das Glück von der einen Seite, die Leiden von der anderen. So tobt der Kampf, vor ihm und hinter ihm, und wenn er in diesem Kampfe sich tapfer zeigt und Sieger bleibt, dann hat er die Vollkommenheit erlangt, wird des Glückes teilhaftig, seinem Schöpfer ganz anzugehören, dann tritt er aus der Vorhalle in den Palast, und leuchtet im Lichte des Lebens. Und je mehr er hier seinen Trieb und seine Leidenschaften gebändigt hat, je mehr er all das geflohen, was ihn seinem wahren Glück entfremdet, und sich bemüht hat, seinem Gott sich hinzugeben, desto größere Wonnen warten dort seiner.
Weiter!
Die Welt ist nur für den Menschen geschaffen. So hängt die ganze Welt von der Lebensführung des Menschen ab. Folgt er dem Irdischen, entfernt er sich von seinem Schöpfer, dann verdirbt er selbst und mit sich reißt er die ganze Welt. Beherrscht er sich aber, gibt er seinem Schöpfer sich hin, benutzt er die Welt nur als Mittel, seinem Schöpfer zu dienen, dann steigt er selbst immer höher und mit ihm die ganze Welt. Denn alles, was Gott geschaffen, erhält eine höhere Würde, wenn es dem vollkommenen, dem heiligen Menschen dient. Das wollen auch unsere Weisen im Midrasch Kohelet sagen, wenn sie erzählen6: Als Gott Adam geschaffen hatte, da führte Er ihn im Garten Eden umher und zeigte ihm alle Bäume und sprach zu ihm:
Sieh, wie schön, wie herrlich sind Meine Werke!
Alles, was ich geschaffen, habe ich nur deinetwillen geschaffen, achte wohl darauf, dass du Meine Welt nicht verdirbst und verwüstest.
Kurz – Ziel und Zweck des Menschen ist nicht sein Dasein hier auf Erden, sondern das Jenseits. Freilich, sein Weilen hier ist ein Mittel, um das Endziel, die künftige Welt, zu erreichen. Daher werden die Weisen nicht müde, das Diesseits als den Ort und die Zeit der Vorbereitung zu schildern, und das Jenseits als den Ort der Ruhe und des Genießens. Neben den oben erwähnten nennen wir unter vielen anderen noch die Aussprüche:
Wer sich am Vorabend des Schabbat bemüht hat, der darf am Schabbat genießen;7 oder: das Diesseits gleicht dem Land, das Jenseits dem Meere; sieht man sich nicht auf dem Lande vor, was soll man auf See essen?!8 usw.
Und in der Tat!
Kann einer bei vernünftiger Überlegung wirklich daran glauben, dass der Mensch um des Diesseits willen geschaffen ist?
Was ist denn das Leben des Menschen auf dieser Welt?
Wer ist wirklich froh und glücklich hier auf Erden?
Unser Leben währt siebzig Jahre, und wenn es hochkommt achtzig Jahre, und das beste daran ist Mühsal und Nichtigkeit9, von wie viel Leid und Krankheit und Schmerz und Unruhe ist es heimgesucht?
Und dann kommt der Tod.
Unter Tausenden wirst du nicht einen finden, dem die Welt wahren Genuss und wahre Freude geboten, und selbst dieser, wird er hundert Jahre, dann wird er stumpf und stirbt der Welt ab.
Vor allem:
Wäre wirklich der Mensch um des Diesseits willen geschaffen, wozu wurde ihm denn die Seele eingehaucht, die so hoch und erhaben ist, dass sie in der Reihe der Wesen einen noch höheren Rang einnimmt als die Engel. Hat sie doch keine Freude an den Genüssen dieser Welt, wie unsere Weisen das im Midrasch Kohelet schildern10: »die Seele wird nie befriedigt«11: wie vor einer Prinzessin, die einen Kleinstädter geheiratet hat, nichts Gnade findet, was er ihr auch an Schätzen bringen mag, so die Seele:
du magst ihr alle Köstlichkeiten der Welt bieten, es ist ihr nichts, denn sie stammt ja von oben. Und in den Sprüchen der Väter heißt es:
»Gegen deinen Willen wirst du gebildet, gegen deinen Willen wirst du geboren.«12
Nein, die Seele liebt nicht diese Welt, sie ist ihr zuwider. Ist es da anzunehmen, dass Gott sie zu einem Zwecke geschaffen, der ihrem Wesen nicht entspricht, ja von ihr verabscheut wird?
So muss denn der Mensch nur für das Jenseits geschaffen, und die Seele deshalb in ihn gesetzt sein, weil sie die rechte Arbeiterin ist, weil mit ihrer Hilfe der Mensch den Lohn am rechten Platze und rechten Orte zu erlangen vermag. Dann wird der Seele nichts in dieser Welt verächtlich, sondern alles lieb und wert sein. Haben wir nun das erkannt, dann haben wir auch das richtige Verständnis für die Bedeutung der Gebote gewonnen und für den Wert unserer religiösen Betätigung, denn das sind ja alles die Mittel, die uns zur rechten Vollkommenheit führen, ohne die wir nichts erreichen können. Und da bekanntlich das letzte Ziel nur erreicht wird durch die Gesamtheit aller Mittel und Wege, die ihm dienen, da das Endergebnis sich nach den Mitteln richtet und nach der Art, wie sie benutzt wurden, – da jeder Fehler, der sich in die Reihe der Mittel eingeschlichen, mit unerbittlicher Deutlichkeit zutage tritt, wenn die Zeit des letzten Zieles gekommen ist, so ist es nach alledem klar, dass, bei der Befolgung der Gebote, in unserer religiösen Betätigung unbedingt die größte Sorgfalt anzuwenden ist, dass wir es da so genau nehmen müssen, als ob wir Gold und Perlen auf der Wage hätten.
Denn was sie uns geben, das ist die wahre Vollendung und von ewigem Werte, der nicht zu überbieten ist. So ist der eigentliche Beruf des Menschen hier auf Erden, die Gebote Gottes zu erfüllen, Ihm zu dienen und Seine Prüfung zu bestehen; die Genüsse dieser Welt dürfen ihm nur als Hilfsmittel dienen. Sie sollen sein Gemüt erfreuen und seinem Geist Erholung geben, damit er sich völlig dem Dienste widmen kann, der ihm obliegt. Sein ganzes Streben aber muss zu Gott gerichtet sein.
Und bei allem, was er tut, und ist es noch so unbedeutend, muss ihm als Ziel vor Augen schweben: die Nähe Gottes zu suchen und jede Scheidewand zu durchbrechen, die sich zwischen ihm und seinem Schöpfer auftürmt, alles Stoffliche und Irdische abzutun, bis er seinem Gott folgt, so wie das Eisen dem Magnet.
Glaubt er nun irgendwo ein Mittel gefunden zu haben, wie er Gott sich nähern könne, dann wende er alles daran, es zu erlangen, er halte es fest und lasse es nicht! Glaubt er irgendwo ein Hindernis zu sehen, dann fliehe er es, als wäre es ein verzehrendes Feuer. Er spricht mit dem Psalmisten: Meine Seele strebt zu Dir und hängt an Dir, aufrecht hält mich Deine Rechte.13
Denn, wir wiederholen es: das Ziel des Menschen hier auf Erden ist, die Nähe Gottes zu erreichen und sich vor allem zu bewahren, was ihn von ihr abführt und fernhält Nachdem wir uns nun über das Grundprinzip klar geworden, gehen wir an die Behandlung unseres Gegenstandes im Einzelnen, und zwar in der Reihenfolge, wie sie in dem oben erwähnten Ausspruch des R. Pinchas ben Jair gegeben war.
Wir sprechen also über die Achtsamkeit, den Eifer, die Lauterkeit, die Zurückhaltung, die Reinheit, die Frömmigkeit, die Demut, die Furcht vor der Sünde und die Heiligkeit. Beginnen wir unter Gottes Beistand!